Freitag, Oktober 4

Das Smartphone wird zum Dreh- und Angelpunkt bei der Radikalisierung. Obwohl die Migrationsbehörden neue Möglichkeiten erhalten, ist die Nutzung von Handydaten nicht vorgesehen – mit einer Ausnahme.

Zwei Tendenzen beobachten Sicherheitsbehörden im Zusammenhang mit jihadistischem Terror. Erstens: Die Personen mit islamistischer Ideologie, die gewaltbereit sind, werden immer jünger. Am Freitag wurde der Fall eines Elfjährigen aus dem Wallis bekannt, der islamistische Hassbotschaften gepostet und in Kontakt mit extremistischen Bewegungen im Ausland gestanden haben soll. Und zweitens: Social Media gewinnen bei der Verbreitung der jihadistischen Ideologie und bei der Radikalisierung eine immer grössere Bedeutung.

Vor diesem Hintergrund rückt eine Neuerung im Asylrecht in den Blickpunkt, deren Details sich tief in einer Verordnung verstecken. Ab Frühling des nächsten Jahres kann das Staatssekretariat für Migration (SEM) unter bestimmten Voraussetzungen Smartphones von Asylsuchenden durchsuchen. Auch Computer und andere Datenträger müssen den Behörden unter Umständen ausgehändigt werden. Den Grundsatzentscheid dazu hat das Parlament schon vor drei Jahren gefällt.

Restriktive Voraussetzungen

Ziel der neuen Regelung ist es, die Identität, die Nationalität sowie den Reiseweg von Asylsuchenden besser feststellen zu können. Diese Angaben sind entscheidend dafür, wer in der Schweiz Schutz erhält. Denn ein grosser Teil der Asylsuchenden besitzt keine Papiere. Lange durfte das SEM aus rechtlichen Gründen nicht auf Smartphones zugreifen, um die Identität oder die Herkunft feststellen zu können. Dies, obwohl viele andere Länder davon längst Gebrauch machen. Ab dem 1. April des kommenden Jahres können Asylsuchende im Rahmen ihrer Mitwirkungspflicht beim Asylverfahren auch in der Schweiz zur Herausgabe des Handys aufgefordert werden.

Doch was bedeutet das Instrument in Bezug auf die Früherkennung von Asylsuchenden, die jihadistisches Gedankengut verbreiten, Kontakte zu Terrornetzwerken pflegen oder gar mit Anschlagsplänen in die Schweiz kommen? Hätten die Behörden tatsächlich systematischen Zugriff auf Smartphones von Personen aus Ländern, in denen die Terrornetzwerke besonders aktiv sind, könnte dies die Polizeiarbeit möglicherweise erleichtern.

Dafür ist die Neuerung allerdings explizit nicht vorgesehen. Die Voraussetzungen, um auf Datenträger zugreifen zu können, sind ausserordentlich restriktiv. Dies zum Schutz der Privatsphäre einer Gruppe von Menschen, die ohnehin besonders verletzlich ist. Die Grundrechte verbieten es in der Schweiz aber generell, ohne konkreten Hinweis auf eine Straftat auf Datenträger zuzugreifen. In der Strafprozessordnung, aber auch im Nachrichtendienstgesetz unterliegen solche Zwangsmassnahmen deshalb nicht nur äusserst strengen Vorschriften, sondern sie sind auch genehmigungspflichtig.

«Keine systematische Auswertung»

Diesem Grundgedanken folgen auch die Bestimmungen für die Auswertung von Handydaten von Asylsuchenden: Diese müssen ihre Geräte ausschliesslich dann aushändigen, wenn die Identität, die Nationalität oder der Reiseweg nicht auf andere Weise festgestellt werden kann. Das SEM muss zudem in jedem Einzelfall vorher die Notwendigkeit und die Verhältnismässigkeit der Auswertung von Datenträgern prüfen.

Es erfolge somit keine systematische Auswertung der Datenträger, zum Beispiel in Bezug auf jihadistische Inhalte, bestätigt das SEM auf Anfrage der NZZ: «Eine gezielte Suche nach entsprechenden Daten würde eine grundlegende Änderung auf Gesetzesstufe bedingen.» Eine weitergehende Datenanalyse ohne konkreten Hinweis auf eine unmittelbare Gefahr wäre aber auch mit den Grundrechten nicht in Einklang zu bringen. Die Verordnung bestimmt deshalb, dass ausschliesslich Datensätze ausgewertet werden dürfen, die der Abklärung der Identität, des Reisewegs oder der Nationalität dienen.

Doch wie verhält es sich, wenn das SEM bei seinen Abklärungen unbeabsichtigt auf Inhalte stösst, die auf terroristische Aktivitäten hindeuten? Ermittler reden hier von Zufallsfunden. Das SEM schreibt, in solchen Fällen sei es verpflichtet, «den Nachrichtendienst (NDB) zu informieren». Tatsächlich sind Behörden, die für die Asylfragen zuständig sind, laut Nachrichtendienstgesetz verpflichtet, dem NDB zur Erfüllung seiner Aufgaben Auskunft zu erteilen.

Amnesty International warnt vor digitaler Migrationskontrolle

Die Asylbehörden müssen sogar unaufgefordert Meldung erstatten, «wenn sie eine konkrete und schwere Bedrohung der inneren oder äusseren Sicherheit feststellen». Dies könnte beispielsweise dann der Fall sein, wenn sich auf Tonaufnahmen detaillierte Informationen zu Attentatsplänen fänden.

Die Verordnung schreibt allerdings fest, welche Art von Daten zur Rekonstruktion von Reisewegen oder der Herkunft überhaupt ausgewertet werden dürfen. Chats oder Browserverläufe zählen nicht dazu. Nur in gewissen, seltenen Konstellationen kann die neue Gesetzeslage den Kampf gegen den islamistischen Terror also möglicherweise etwas begünstigen. In der Realität wird die Neuerung kaum von Bedeutung sein.

Das zeigt nicht zuletzt der Anschlag im deutschen Solingen, der von einem 26-jährigen Syrer begangen worden sein soll. Der Verdächtige soll 2022 aus Syrien über die Türkei, Bulgarien, Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland gekommen sein – zu einem Zeitpunkt, als in Deutschland der Zugriff auf Smartphones von Asylbewerbern längst erlaubt war. Dennoch konnte der Anschlag nicht verhindert werden. Bis heute aber ist unklar, wo und wie genau sich der Mann radikalisiert hat.

Amnesty International (AI) warnt seit längerem vor einem zunehmenden Einsatz von digitalen Technologien zur Migrationskontrolle. Auch gegen die Möglichkeit der Überprüfung von Smartphones hatte sich die Organisation gewehrt: Während die Überwachung des Fernmeldeverkehrs im Strafverfahren einer gerichtlichen Kontrolle unterstellt sei, hätten Asylsuchende praktisch keine Möglichkeit, sich gegen Eingriffe zu wehren, argumentierte sie.

Auf Anfrage der NZZ erklärt Beat Gerber, Mediensprecher von AI Schweiz, dass der Einsatz digitaler Technologien die Ausgrenzung verstärke und die Bewegungsfreiheit von schwarzen, muslimischen und anderen rassifizierten Migranten und Asylbewerbern behindern werde: «Es werden damit Grenzregime geschaffen, die Menschen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer nationalen Herkunft und ihrer Staatsbürgerschaft diskriminieren.»

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