Trotz rekordhoher Gewinnmargen reagieren die Investoren bei ABB mit Gewinnmitnahmen. Langfristig disponierten Anlegern eröffnet das eine günstige Einstiegschance. Der neue Konzernchef wird den erfolgreichen Kurs seines Vorgängers im gleichen Stil fortführen.
Geschätzte Leserin, geschätzter Leser
Mit wachsendem Erfolg steigen auch die Ansprüche. Beim Elektrotechnikkonzern ABB hält nun die Erfolgssträhne schon so lange an, dass die Erwartungen laufend zunehmen. Das Erreichen von Finanzzielen reicht dann nicht mehr, um die Börse zufriedenzustellen.
Nur so kann ich mir einen Reim aus der heutigen Marktreaktion machen. Vorübergehend notierte der Aktienkurs am Donnerstag um 7% unter dem Vortagesschluss – nachdem das Unternehmen für das zweite Quartal 2024 eine rekordhohe Ebita-Marge von 19% publizieren konnte.
Der Architekt tritt ab
Unter der Leitung des 65-jährigen Schweden Björn Rosengren wurde in den vergangenen vier Jahren aus einem schwerfälligen Industriekonglomerat ein fitter und fokussierter Konzern, der sich nicht nur auf seine operativen Stärken zurückbesann, sondern auch einen Kulturwandel erlebte, seit dem die Führung und die Mitarbeitenden mehr Verantwortung übernehmen und Engagement zeigen.
Die Fortschritte lassen sich am Aktienkurs von ABB ablesen. Seit dem Pandemietief im März 2020 befindet er sich im Aufwärtstrend. Seit Anfang Jahr hat er bereits wieder um fast 40% zugelegt. Das entspricht rund dem Vierfachen des Gesamtmarkts in dieser Periode. Auch den Vergleich mit dem französischen Konkurrenten Schneider Electric 📈, der ABB jahrelang in Sachen Wachstum und Rentabilität überflügelt hat, muss Schweizer Traditionsunternehmen nicht mehr scheuen. ABB spielt endlich wieder mit den Besten mit.
Diesen Montag markierte der Aktienkurs eine Bestmarke von 52.46 Fr. Seither hat er um gut 9% korrigiert.
ABB hält mit Schneider endlich mit
Nach einer solch beeindruckenden Hausse darf ein temporärer Rücksetzer nicht überraschen. Nach Ansicht von The Market ist die Erfolgssträhne von ABB nicht gerissen, die attraktive Investmentgeschichte also weiterhin intakt. Die – im Rückblick – einfachen Kursgewinne mögen bereits gemacht worden sein. Trotzdem können ABB-Aktionäre beruhigter als früher in die Zukunft blicken.
Das Ende von Rosengrens Mandat bei ABB ist nicht das Ende der Erfolgsgeschichte. Auch nach seiner Ablösung – Anfang August übernimmt Morten Wierod das Amt des Konzernchefs – wird bei ABB am bewährten Erfolgsrezept festgehalten.
Der 52-jährige Wierod, der ABB seit rund einem Vierteljahrhundert verbunden ist, äusserte sich heute erstmals an der Telefonkonferenz. Er liess keine Zweifel aufkommen, dass er sich nicht mit eigenwilligen Änderungen profilieren will, sondern am bewährten «ABB Way» festhalten wird. Er war schon in der Geschäftsleitung, als Rosengren zu ABB stiess. Er hat also die gesamte Transformation mitgetragen.
Er sei sich bewusst, «sehr grosse Schuhe» füllen zu müssen. Die strategischen Ziele würden dieselben bleiben. Es wäre auch überraschend, wenn davon abgerückt würde. Wie Rosengren verlange er von seinem Team «Verantwortlichkeit und Engagement».
Mehr Geld für die Forschung
Kleinere Retouchen wird es geben. So sollen mehr Mittel in die Forschung und Entwicklung gesteckt werden; mehr als 5% des Umsatzes sollen es konkret sein, um «unsere technische Vorherrschaft zu sichern», sagte der neue Chef. Im vergangenen Jahr wurden dafür 1,3 Mrd. $ oder 4% der Einnahmen verwendet.
Das bedeutet aber auch, dass ABB künftig mehr Geld in Akquisitionen stecken wird. In der Berichtsperiode investierte der Konzern in zwei Cleantech-Start-up-Unternehmen, um in seiner Hauptdisziplin Elektrifizierung keine Trends zu verpassen.
Der neue Konzernchef hat seit April 2022 diesen grössten und rentabelsten der vier Geschäftsbereiche von ABB geleitet. Im zweiten Quartal 2024 lagen dort die Aufträge und der Umsatz jeweils um 7% über dem Vorjahr. Die Ebita-Marge von 23,2% bedeutete eine Verbesserung innerhalb eines Jahres von 210 Basispunkten. Ab August wird sie vom Italiener Giampiero Frisio geleitet, der schon fast 30 Jahre bei ABB ist.
Als Nachfolger des bisherigen Leiters des Geschäftsbereichs Prozessautomation, Tarak Mehta, wurde Brandon Spencer bestimmt. Mehta wird ab September als Konzernchef des amerikanischen Industriekonzerns Timken Company amtieren.
Etwas mutiger am Markt aufzutreten kann sich ABB leisten. Die Rentabilität ist derzeit so gut wie selten zuvor. Mit einer adjustierten Ebita-Marge von 19% erzielte das Unternehmen im zweiten Quartal 2024 den höchsten je erreichten Wert. Der freie Cashflow belief sich in der ersten Jahreshälfte auf fast 1,5 Mrd. $. Der Finanzchef zeigte sich zuversichtlich, dass das letztjährige Niveau (3,7 Mrd. $) in diesem Geschäftsjahr zumindest egalisiert werden kann.
Prognosepolster
Dass sich das Management dadurch nicht zu einer Anpassung der Jahresprognose veranlasst fühlte, mag Analysten und kurzfristig disponierte Anleger enttäuscht und sie zu Gewinnmitnahmen animiert haben. Im laufenden Quartal werde die Marge bei 18,5% oder leicht darunter ausfallen, hiess es.
Für das Gesamtjahr bleibt die Prognose unverändert bei rund 18%, das Umsatzwachstum soll 5% erreichen. Damit verschafft sich das Management Spielraum, falls sich die Konjunktur doch noch kurzfristig abkühlen sollte. Aus heutiger Sicht dürfte ABB seine Ziele für 2024 wohl übertreffen. Für ein Industrieunternehmen ist eine Ebita-Marge von 18% ein sehr guter Wert, der nur in Boomphasen kurzfristig überschritten werden kann.
Aus Anlegersicht ist wichtiger, dass die strategische Richtung stimmt und die verschiedenen Geschäftseinheiten Wert generieren. Dass es in allen wie geschmiert läuft, ist selten der Fall. Dafür ist das Geschäft von ABB vielfach zu zyklisch.
Entscheidend ist vielmehr, das sich die Umsatzträger in einer guten Verfassung befinden – und das tun sie. Vor allem der Traditionsbereich Elektrifizierung, «der Kern von ABB» (Rosengren), profitiert von einem Megatrend, der sich wohl noch Jahre fortsetzen wird. «Elektrifizierung ist das Wichtigste, um von den fossilen Energien loszukommen», erklärte Rosengren. Derzeit laufe es vor allem im Geschäft mit Datenzentren prächtig.
Kleine Sorgenkinder
Sorgenkinder gibt es auch bei ABB. Nicht zufrieden kann das Management mit den Bereichen E-Mobility und Maschinenautomation sein. Mit Blick auf die strategische Stossrichtung passe E-Mobility nicht mehr zum Konzern, bemerkte Rosengren. Deshalb werde weiterhin ein Börsengang dieses Geschäfts angestrebt. Aber noch nicht im laufenden Jahr, ergänzte er. Er warte, bis die Finanzmärkte wieder für solche Geschäfte empfänglich seien. Seit rund einem Jahr wird der Bereich von einem neuen Management geführt. «Es braucht noch etwas Arbeit, um es in Schuss zu bringen». In der Berichtsperiode resultierte bei E-Mobility ein Verlust von 87 Mio. $, was weitgehend mit Wertberichtigungen auf veraltetem Inventar zusammenhing.
Laut Rosengren leidet die Sparte Maschinenautomation unter der sehr schwachen Nachfrage, vor allem in Europa. Der Auftragsbestand schmelze, ohne dass neue Aufträge einträfen. Das Geschäft werde restrukturiert, die Kosten gesenkt.
Gesamthaft bringen die beiden Sorgenkinder ABB nicht vom Kurs ab. Lediglich etwa 3% der Einnahmen entfallen auf sie. Wenn es den restlichen 97% gut geht, können die Aktionäre ruhig schlafen.
Der heutige Kursrückgang hat die im vergangenen Herbst begonnene Bewertungsausdehnung gestoppt. Kurs-Gewinn-Verhältnisse von über 20 sind selbst für einen gut geführten Industriekonzern ein stolzer Wert. Dass dies als nicht nachhaltig betrachtet wurde, zeigt die zurückhaltende Einschätzung der Analysten. Kaufempfehlungen von 10 Analysten stehen 22 Halte- und Verkaufsempfehlungen gegenüber.
Das eröffnet Raum für positive Überraschungen.
Freundlich grüsst im Namen von Mr Market
Giorgio Müller