Dienstag, Oktober 1

Während der Ära Rosengren ist ABB deutlich rentabler geworden. Doch die Konkurrenten haben noch mehr zugelegt. Der neue Konzernchef will mit dem gleichen Rezept den Rückstand aufholen. Die Börse nimmt das bereits vorweg.

Der schwedische Industrieveteran Björn Rosengren hat geliefert: Während seiner fünfjährigen Tätigkeit an der Spitze des Elektrotechnikkonzerns ABB hat er aus einem trägen, zentralistisch geführten Unternehmen eine agile und unternehmerisch denkende Industriegruppe gemacht, die mit der Konkurrenz mithalten kann. Der Börsenwert von ABB hat sich während Rosengrens Regentschaft mehr als verdoppelt.

Die Gewinnmargen auf Stufe Ebita der vier Unternehmensbereiche haben nicht nur die anfänglich versprochenen mindestens 15% erreicht, sondern streben zügig in Richtung der anlässlich des letztjährigen Kapitalmarkttags publizierten Werte von 16 bis 19%.

Für das laufende Geschäftsjahr wird eine Marge von 18% in Aussicht gestellt, ein Wert, den das seit Anfang August unter der Führung von Morten Wierod stehende ABB-Management locker erreichen dürfte.

Das ist nicht selbstverständlich, denn mit dem Spin-off der Turboladersparte (Accelleron) hat sich ABB eines sehr rentablen Geschäfts entledigt. Die phänomenale Kursentwicklung der Accelleron-Aktien 📈unterstreicht das. Doch strategisch passte dieses Geschäft nicht mehr zu ABB, die sich Nachhaltigkeit und Dekarbonisierung auf die Fahne geschrieben hat.

Der Neue ist ein alter Kenner von ABB

Mit dem 52-jährigen Norweger Wierod wird ABB in den kommenden Jahren von einem mit dem Unternehmen bestens vertrauten Manager geführt. Schon sein Grossvater arbeitete in Norwegen einst für BBC. Nach 25 Jahren Betriebszugehörigkeit kennt Wierod das Unternehmen in- und auswendig. Als China noch boomte, war er dort vier Jahre für den Schweizer Konzern domiziliert.

Die vergangenen zwölf Jahren verbrachte Wierod am Hauptsitz in Zürich, die letzten fünf in der Konzernleitung. Nach der Leitung des Geschäftsbereichs Antriebstechnik wurde ihm 2022 die Führung der grössten Einheit, Elektrifizierung, übertragen. Die guten Resultate der beiden Einheiten – der Ertragssäulen des Konzerns – sowie die Erfahrung mit dem seit 2020 verfolgten «ABB-Way» machten Morten zum favorisierten Nachfolger von Rosengren.

Das von Rosengren eingeführte, dezentrale Geschäftsmodell gibt den achtzehn operativen Divisionen der Gruppe innerhalb eines definierten Rahmens viel unternehmerische Freiheiten. Sie müssen jedoch mit der Erreichung von Rentabilitätszielen verdient werden.

Es gibt also keinen Anlass, von diesem Erfolgsmodell abzurücken.

Trotzdem dürfte sich in der Umsetzung einiges ändern. Während bisher die Wiedererlangung der Rentabilität das Ziel war, heisst das Mandat des ABB-Verwaltungsrats an Wierod nun «profitables Wachstum» sowie «Marktanteile gewinnen».

Was kauft ABB?

ABB ist in der komfortablen Lage, bald eine Nettoliquidität ausweisen zu können. In den Jahren zuvor schleppte sie eine recht hohe Nettoverschuldung von mehreren Milliarden Dollar mit sich.

Dank umfangreichen Devestitionen hat sich das schlagartig verändert. Schon im kommenden Jahr sollte ABB wieder über eine Nettoliquidität verfügen. Im laufenden Jahr dürfte erneut ein freier Cashflow von 3,7 Mrd. $ erwirtschaftet werden. Ohne grössere Akquisitionen wird die Nettoliquidität in drei, vier Jahren auf 7 bis 9 Mrd. $ steigen.

Solange die einzelnen Geschäftszweige an der Front lediglich kleinere Akquisitionen machen, ist das Risiko gering, dass sich die Gewinnmargen von ABB stark verwässern. Steht jedoch ein grosser Brocken an, ist das nicht mehr garantiert. Die ABB-Führung hat jüngst mehrfach erklärt, es würden auch grössere Akquisitionen in Betracht gezogen.

Um auf den Radar von ABB zu kommen, muss ein Kandidat die Nummer eins oder zwei in seinem Markt sein. In einer perfekten Welt würde ein Objekt gefunden, das mindestens so rentabel wie die restliche ABB-Gruppe ist. Das ist indes selten der Fall.

Offenbar ist ABB aber gewillt, auf Kosten einer kurzfristigen Margenschmälerung zu akquirieren. Als Erfolgsbeweis wird GEIS (GE Industrial Solutions) angeführt. Als das Geschäft vor vier Jahren für 2,6 Mrd. $ von General Electric erworben wurde, verdiente es unter dem Strich fast nichts. Nachdem das veraltete GE-Sortiment mit ABB-Produkten erneuert worden ist, erzielt die Sparte nun äusserst lukrative Margen. Sie soll sogar der Grund dafür sein, weshalb der Unternehmensbereich Elektrifizierung derzeit die mit Abstand besten Margen der Gruppe schreibt.

Viele Investoren würden sich wünschen, dass den Verlockungen prestigeträchtiger, aber margenschmälernder Akquisitionen widerstanden wird. Ist keine rentable Übernahme möglich, wären Aktienrückkäufe eine Alternative. Aktienrückkäufe geniessen bei ABB jedoch keinen Vorrang. Priorität haben derzeit der Ausbau der Fertigungskapazitäten, mehr Forschungsgelder sowie eine kontinuierlich steigende Dividendenausschüttung.

Profiteur eines Megatrends

Der grösste und rentabelste Geschäftsbereich der Gruppe ist Elektrifizierung. Sie wird seit jüngstem vom Italiener Giampiero Frisio geleitet; auch er ein ABB-Veteran, der seit 1985 beim Unternehmen ist. Während gut acht Jahren führte Frisio das südlich von Rom gelegene Werk Frosinone. Vor einigen Tagen wurde europäischen Medien ein Einblick in das als «Leuchtturmfabrik» etikettierte Werk gewährt. Mit diesem Label hat ABB Anrecht auf finanzielle Unterstützung bei Investitionen. In den vergangenen fünf Jahren hat der Konzern über 450 Mio. $ in Italien investiert.

In Frosinone sind gut 1300 Mitarbeitende beschäftigt, vor der Pandemie waren es erst 800. Laut Massimiliano Cifalitti, dem neuen Leiter von ABB Smart Power, ist es einfach, genügend Arbeitskräfte zu finden. Die Arbeitslosigkeit ist in der Region recht hoch, zudem bauen die benachbarten Autohersteller Stellen ab. Der Umsatz von Frosinone habe sich in vier Jahren verdoppelt, sagt er.

Im Werk werden u. a. industrielle Überspannungssicherungen hergestellt. Der Automatisierungsgrad ist hoch, mehr als sechzig ABB-Roboter unterstützen die Fertigung. Die fünfzehn Produktionslinien operieren selbständig und haben grosse Entscheidungskompetenzen. In Italien dürfte es kaum modernere Fabriken geben.

Das Geschäft boomt, weil es vom Megatrend Energietransformation mitgerissen wird. Laut Experten müssten die Kapazitäten für die Energieproduktion bis 2030 verdreifacht werden, um den weltweiten Energiehunger zu stillen. Strom ist dabei der Schlüsselfaktor, weil er geringere Emissionen verspricht. Strom wird ein zehnfaches Wachstum in diesem Zeitraum zugetraut. Damit das Fernziel (netto null bis 2050) erreicht wird, müsste sich die Energieeffizienz ebenfalls verdoppeln. Allein die Investitionen in die Stromübertragung werden sich gemäss Schätzungen bis 2030 verdoppeln.

Von diesem Nachfrageschub profitiert nicht nur ABB, sondern die gesamte Elektrotechnikbranche. Schwieriger wird sein, den Mehrbedarf durch umweltfreundlichere Technologien gänzlich zu kompensieren, wie ABB es verspricht. Denn 95% der in Verbindung mit ABB-Produkten entstehenden Emissionen fallen bei den Zulieferern und den Kunden an (Scope 3). Trotzdem ist Anke Hampel, die Leiterin Nachhaltigkeit bei ABB, überzeugt, dass sich die Scope-3-Emissionen bis 2030 um 25% und bis 2050 um 90% reduzieren lassen.

Datenzentren werden wichtiger

Derzeit besonders heiss läuft es im Bereich Datenzentren. Bei der Strominfrastruktur für diese Anlagen ist ABB bereits gut vertreten. Im vergangenen Jahr entfielen 12% der Aufträge der Einheit Elektrifizierung auf solche Anlagen. «Dieses Jahr werden es 14 bis 15% sein», sagt Frisio. Im Zeitraum 2019 bis 2023 ist dieses Geschäft im Schnitt um 25% gewachsen. Dieses Tempo dürfte sich fortsetzen. Experten rechnen damit, dass der Strombedarf in Datenzentren von 2015 bis 2030 jährlich um 11% zunimmt. Anwendungen für künstliche Intelligenz wirken dabei wie ein Brandbeschleuniger.

Weltmarktführer der Antriebstechnik

Vom vermehrten Einsatz der Energiequelle Strom profitiert auch die Antriebstechnik. Im 60 Mrd. $ grossen Markt ist ABB Marktführer. Ihr Verkaufsargument ist die Energieeffizienz. Laut der internationalen Energieagentur (IEA) wird die Energieeffizienz den grössten Beitrag zur Dekarbonisierung leisten. Rund 37% der bis 2050 budgetierten CO2-Reduktionen würden darauf entfallen.

ABB geht davon aus, dass sich die Nachfrage nach effizienteren Motoren bis 2040 verdoppelt. Doch die Industriekunden springen nur zögerlich auf diesen Trend auf. Schon seit Dekaden lobt ABB die Vorteile effizienterer Elektromotoren, weil sich die Drehzahl über ein Getriebe regulieren lässt.

Problemsparte erholt sich nur zögerlich

Am meisten Sorgen bereitet dem Konzern derzeit die kleinste Sparte, Robotik & Fertigungsautomation. Sie ist den Wirtschaftszyklen am meisten ausgesetzt. Nach einem Boom in den vergangenen Jahren ist nun Schrumpfung angesagt. Die grosse Abhängigkeit von China schmerzt.

Lange zehrten Kunden von ihren Vorräten. Während bei den Industrierobotern das Tief überwunden ist, setzt sich der Lagerabbau – wie bei Siemens – bei der Fertigungsautomation fort. In der Roboterindustrie ist der Optimismus ungebrochen: In den nächsten fünf Jahren sollen sich die jährlichen Stückzahlen verdoppeln. Mit Blick auf den serbelnden Automobilsektor ist das eine gewagte Prognose. Derzeit wachse das Robotergeschäft um 10%, rascher als der Gesamtmarkt (8%), heisst es bei ABB.

Bewertung nicht sehr verlockend

Der Börse ist die Transformation von ABB nicht verborgen geblieben. Die Bewertung der ABB-Aktien hat deutlich zugelegt. Während vor einigen Jahren noch ein KGV von 15 üblich war, sind die Investoren nun bereit, mehr als den 20-fachen Gewinn zu bezahlen. Derzeit verkehren die ABB-Valoren mit einem KGV 2025 von 24.

Dass ABB trotz ihrer deutlich besseren Rentabilität keine überdurchschnittliche Bewertung verdient, zeigt ein Blick auf die Konkurrenz. Die mittlerweile bei 18% liegende Marge verblasst im Direktvergleich. Damit lassen die Schweizer lediglich Siemens hinter sich. Die anderen verdienen Margen von deutlich über 20%. Weil sie in ähnlichen Geschäftsfeldern unterwegs sind und von den gleichen Markttrends profitieren, müsste das auch ABB gelingen.

Bessere Alternativen

Die stattliche Bewertung sowie die Ungewissheit über die künftigen strategischen Schwerpunkte geben wenig Anlass dazu, dass die ABB-Aktien ihren Lauf fortsetzen. Noch spricht für die Titel das Momentum: Die relative Stärke von 112,9 ist ein guter Wert. Lediglich bei Schneider Electric (113,8) ist noch etwas mehr Schwung drin. Siemens (95,8) und Honeywell (103,4) liegen klar darunter.

Auch was das erwartete Gewinnwachstum betrifft, kann ABB mit den Konkurrenten nicht mithalten. Die Analysten trauen ABB in den kommenden drei Jahren ein durchschnittliches Gewinnwachstum pro Aktie von 6% zu. Die Konkurrenten kommen eher auf 10%, obwohl ihre Titel kaum höher bewertet sind.

Für Investoren heisst dies also: ABB ist gut – einige Konkurrenten sind indes noch besser.

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