Dienstag, November 5

Kinder klettern gerne auf dem Kunstwerk von Annemie Fontana herum. 50 Jahre geht das gut. Nun soll es plötzlich zu gefährlich sein.

Es ist ein surreales Bild: Eine überdimensionale Plastikmuschel schwebt im Morgennebel über einer Wiese am Zürichsee. Im Inneren ist sie gelb und treppenförmig, aussen weiss und abgerundet. Es handelt sich um die begehbare Muschel-Skulptur des Strandbads Mythenquai, und sie hängt an einem Kran.

Das Kunstwerk war enorm beliebt bei Kleinkindern. Es kam vor, dass Mütter und Väter stundenlang darum herumstanden, während der Nachwuchs dieses besondere Objekt auf der Wiese nahe dem Kinderbereich der Badeanstalt erkundete.

Doch nun ist Schluss damit – und zwar für immer. Die Sitzmuschel, eine Plastik der Zürcher Künstlerin Annemie Fontana (1925–2002), ist kürzlich aus dem «Mythenquai» abtransportiert worden.

Das 1972 fertiggestellte Kunstwerk besteht aus glasfaserverstärktem Polyester – einem Material, das sinnbildlich für die 1970er Jahre steht. Seit einem Jahr weist die Muschel jedoch Schadstellen auf, insbesondere einen Riss auf der Oberseite, und muss restauriert werden. Das schreibt die Stadtzürcher Fachstelle Kunst im öffentlichen Raum (Kiör) auf ihrem Instagram-Account.

«Erhöhte interne Sicherheitsbestimmung»

Und weil die Plastik eine «erhöhte interne Sicherheitsbestimmung» des Sportamts nicht erfüllt, darf sie «leider» nicht mehr in die Badi zurückkehren.

Die «Muschel» von Annemie Fontana sei nicht als Spielgerät konzipiert worden, schreibt die Leiterin der Fachstelle Kiör, Sara Izzo, auf Anfrage. Die Künstlerin hatte lediglich eine Sitzfunktion vorgesehen. Im Laufe der Jahre wurde die Skulptur von den Badegästen aber als Klettergerät genutzt. Zu einem Unfall mit der begehbaren Sitzmuschel kam es freilich nie.

Die Plastik nach der Restauration ins Strandbad Mythenquai zurückzubringen und abzusperren, wäre jedoch keine Lösung gewesen, teilt Izzo mit. Ein Kunstwerk im öffentlichen Raum, so führt sie weiter aus, müsse für die Bevölkerung zugänglich sein. Zäune störten das unmittelbare Erlebnis einer künstlerischen Arbeit. Daher muss ein neuer Platz gesucht werden.

Dass Kinder am neuen Ort ebenfalls in und auf der Skulptur herumklettern könnten, berücksichtige man, so Izzo. Eine Situation wie im Strandbad Mythenquai, das von sehr vielen Familien besucht werde, wolle man hingegen vermeiden.

Womöglich ergeht es der Sitzmuschel ähnlich wie dem ebenfalls von Annemie Fontana geschaffenen Sirius-Brunnen: Er lädt zwar ebenfalls zum Klettern ein, steht aber auf einem wenig bevölkerten Platz nahe dem Hallenstadion in Oerlikon.

Rutschbahn nicht betriebssicher

Dieser Fall lässt an eine Angelegenheit aus dem Jahr 2017 denken, als das Wahrzeichen des Mühlerama-Museums in Tiefenbrunnen, die Rutschbahn, geschlossen werden musste. Zunächst hatte die Holzrutsche Mehlsäcke nach unten befördert, doch vor rund 40 Jahren wurde sie in ein Spielgerät umgewandelt.

Grund für die Schliessung war ein Schreiben des städtischen Amtes für Baubewilligungen. Darin hiess es, die Rutsche könne nicht als betriebssicher bewertet werden. Das Mühlerama musste eine Risikoanalyse durchführen und danach Massnahmen umsetzen. Seither ist die Rutschbahn wieder in Betrieb.

Vor knapp zehn Jahren erging es einem mindestens genauso beliebten Spielgerät gleich: der Dampflokomotive neben dem Schulhaus Werd in Adliswil. 51 Jahre lang hatte die Lok an der Sihl eine besondere Funktion; Generationen von Kindern liebten es, darauf herumzuklettern – auch die Schreibende.

Nachdem die Lokomotive ab 1902 als Nummer 4 der Sihltalbahn zwischen Giesshübel und Sihlwald hin- und hergedampft war, wurde sie 1964 ausrangiert und auf dem Pausenplatz der damals neu erbauten Schulanlage als Spielgerät aufgestellt.

Doch im Jahr 2015 wurde sie aus Sicherheitsgründen mit einem Pneukran abtransportiert.

Der Rotary-Klub Zürich-Sihltal setzte sich schliesslich dafür ein, dass das «Tigerli», wie die SBB-Lokomotive liebevoll genannt wird, beim Bahnhof Sihlwald ausgestellt wird. Dort kann man es bis heute bestaunen – ohne zu klettern, versteht sich.

Wo die weiss-gelbe Muschel dereinst landen wird, steht noch in den Sternen.

Exit mobile version