Montag, November 25

Die Mitteilung der Bundesstatistiker zu den Pflegekosten von 2023 von dieser Woche benutzen die Gewerkschaften als Steilpass für ihre Bekämpfung der Gesundheitsreform. Doch damit schiessen sie ein Eigentor.

Man muss Irreführendes nur genug oft und laut sagen – dann glauben es die Leute mit der Zeit, oder sie sind zumindest verunsichert. Dies ist anscheinend das Motto des Gewerkschaftsbunds in seinem Referendumskampf gegen die Finanzierungsreform im Gesundheitswesen. Die Kernbotschaft der Gegner: Die Reform führe vor allem wegen der stark steigenden Pflegekosten zu höheren Krankenkassenprämien.

Prozentual nehmen die Pflegekosten in der Tat deutlich zu – vor allem wegen der Alterung der Bevölkerung. Zudem dürfte künftig auch die Umsetzung der vom Volk angenommenen Pflegeinitiative die Kosten erhöhen. Für die Strategie der Reformgegner schienen diese Woche neue Zahlen des Bundesamts für Statistik wie gerufen zu kommen. Die Bundesstatistiker verkündeten, dass die Pflegekosten 2023 «stark gestiegen» seien – gegenüber dem Vorjahr um 5 Prozent bei den Heimen und um 7 Prozent bei den Spitex-Diensten.

Der Gewerkschaftsbund reagierte mit einer Medienmitteilung. Laut dieser Mitteilung bestätigen die Zahlen der Bundesstatistiker «die schlimmsten Befürchtungen» der Gegner der Finanzierungsreform. Fazit: Die Reform wäre «ein Albtraum» für die Prämienzahler der Krankenkassen.

Ambulant-Sektor wächst stark

Doch welche Schlüsse für die Abstimmungsvorlage lassen sich aus der Kostenentwicklung von 2023 wirklich ziehen? Massgebend dafür sind nur die vom Krankenversicherungsgesetz (KVG) geregelten Leistungen; nur diese sind von der Reform betroffen. Die Mitteilung des Bundesamts für Statistik lieferte dazu keine Angaben.

Doch Zahlen dazu für 2023 gibt es – und zwar in der Krankenversicherungsstatistik. Diese zeigt die Bruttokosten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung vor Berücksichtigung der Eigenzahlungen der Patienten. 2023 betrugen diese Bruttokosten rund 40 Milliarden Franken – 5,8 Prozent mehr als ein Jahr zuvor.

Für die Beurteilung der Verteilungsfolgen der Abstimmungsvorlage ist die Unterscheidung der Kosten in drei grosse Blöcke zentral: ambulante Leistungen, stationäre Leistungen (mit Übernachtung im Spital) und Pflege. Zurzeit zahlen die Krankenkassen 100 Prozent der ambulanten Nettokosten und knapp 45 Prozent der Kosten von stationären Leistungen. Bei den KVG-Leistungen der Pflege übernahmen die Kassen in der Referenzperiode 2016 bis 2019 geschätzte 54 Prozent der Kosten.

Die Reform bringt einen einheitlichen Finanzierungsschlüssel: Künftig sollen von allen Kostenblöcken 73,1 Prozent zulasten der Kassen gehen und der Rest zulasten der Kantone (Steuerzahler). Dieser Verteilschlüssel entspricht genau der Aufteilung der Gesamtkosten in der Referenzperiode 2016 bis 2019. In der Referenzperiode wäre somit die Reform verteilungsneutral gewesen. Die Verteilungswirkung der Vorlage hängt deshalb von der Kostenentwicklung in den drei genannten Blöcken nach dem Ende der Referenzperiode ab.

Plus und Minus

Pro Franken Kostenanstieg im Bereich ambulant bringt die Reform für die Krankenkassen und deren Prämienzahler eine Entlastung von rund 27 Rappen (weil die Kassen künftig nur noch rund 73 Prozent statt 100 Prozent der Kosten zahlen). Im stationären Bereich bringt die Reform dagegen pro Franken Kostenanstieg eine Zusatzbelastung für die Krankenversicherer von knapp 30 Rappen: In der Pflege dürfte die Zusatzbelastung etwa 20 Rappen pro Franken Kostenanstieg betragen. Das Spiegelbild der Folgen für die Prämienzahler sind jeweils die Folgen für die Steuerzahler.

Auf Basis des Gesagten lässt sich eine Abschätzung der Verteilungswirkung der Reform machen, wenn diese 2023 schon in Kraft gewesen wäre. Der grösste und in Franken klar am stärksten wachsende Kostenblock war in den letzten zehn Jahren der Bereich ambulant. Das gilt auch für 2023. Die Bruttokosten im Sektor ambulant wuchsen 2023 um rund 1,7 Milliarden Franken. Nach Abzug der Kostenbeteiligungen der Patienten dürften es netto schätzungsweise 1,4 Milliarden gewesen sein. Allein dadurch hätte die Umsetzung der Finanzierungsreform 2023 im Vergleich zum geltenden System eine Entlastung der Prämienzahler von gegen 400 Millionen Franken gebracht.

Im Gegenzug hätte der Kostenanstieg von 2023 im stationären Sektor die Prämienzahler bei einer Umsetzung der Reform im vergangenen Jahr mit knapp 200 Millionen Franken belastet. Den kleinsten Effekt hätte der vieldiskutierte Pflegebereich gehabt – mit einer Zusatzbelastung für die Krankenkassen von schätzungsweise 80 bis 90 Millionen Franken. Dieser Verteilungseffekt im Pflegebereich via Reform ist viel kleiner als im ambulanten Sektor. Grund: Der KVG-Kostenblock «ambulant» ist fast viermal so gross, und dessen prozentuales Wachstum war im letzten Jahr mit über 6 Prozent nicht viel kleiner als das Kostenwachstum in der Pflege.

Entlastung für Prämienzahler

Das Ergebnis dieser Schätzungen unter dem Strich: Wäre die Abstimmungsvorlage 2023 schon in Kraft gewesen, hätte die Kostenentwicklung bei den KVG-Leistungen im vergangenen Jahr die Krankenkassen und deren Prämienzahler um etwas über 100 Millionen Franken entlastet – und nicht massiv mehr belastet, wie die Gewerkschaften suggerieren. Wäre die Reform bereits in der Referenzperiode 2016 bis 2019 in Kraft gewesen, hätte die Kostenentwicklung danach bis 2023 die Prämienzahler im Vergleich zum geltenden System um total etwa 600 bis 650 Millionen Franken entlastet. Das Spiegelbild wäre eine entsprechende Mehrbelastung für die Steuerzahler.

Diese Schätzungen betreffen nur die Umverteilungswirkung ohne Verhaltensänderungen. Hinzu käme die Erwartung, dass die Reform dank einheitlichem Finanzierungsschlüssel Fehlanreize lindert und den Trend vom stationären zu den insgesamt meist günstigeren ambulanten Behandlungen verstärkt. Das dürfte im Vergleich zum Nichtstun die Prämienzahler und die Steuerzahler entlasten. Das Ausmass dieses Reformeffekts lässt sich jedoch kaum zuverlässig abschätzen.

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