Sonntag, November 24

Der Staat ist ein Betrieb, der geleitet werden muss wie eine Fabrik, am besten von Experten: Davon waren die Soziologen einst überzeugt. Politik hatte in diesem Konzept wenig Platz. Leistung umso mehr.

Wer soll uns regieren und den Staat verwalten? Natürlich die Besten. Doch wer sind die Besten? «Aristokratie» heisst wörtlich «Herrschaft der Besten». Doch niemand wird Regierungskompetenz heute noch mit adliger Geburt assoziieren. In Republiken vertraut man Regierungsämter unabhängig von Geburt, Stand und Herkunft denjenigen an, die sich durch ihre Verdienste dafür empfehlen – aufgrund ihrer «Meriten».

«Meritokratie» bedeutet genau dies: «Herrschaft des Verdienstes». Als Gegenbegriff zu Aristokratie, Nepotismus oder Tyrannei wird sie deshalb gerne als doppelte Garantie betrachtet: einerseits für Chancengleichheit und die Möglichkeit sozialen Aufstiegs, andererseits für effizientes Regieren durch qualifiziertes Personal. Doch um welche Verdienste geht es denn in der Meritokratie? Durch welche Umstände verdient man sich politische Verantwortung?

Muss man sich von Amt zu Amt emporarbeiten, bis man oben ist? Aber entsteht dann nicht aus denen, die nach oben wollen, eine Reitertruppe auf Amtsschimmeln, eine alles erstickende Bürokratie? Oder bedeutet Meritokratie eher, das Regieren und Verwalten denen zu überlassen, die über gute Studienabschlüsse und somit über die notwendige Expertise verfügen? Aber führt der Nachdruck auf Expertise nicht direkt zur Technokratie?

«Meritokratie», «Bürokratie» und «Technokratie» sind belastete Begriffe. Wörter, deren elektrische Ladung sich im Lauf der Zeit umgepolt hat, von positiv zu negativ oder umgekehrt. «Bürokratie» und «Technokratie» galten vor hundert Jahren als Ideale, heute werden sie abwertend benutzt. Umgekehrt ist es mit dem Wort «Meritokratie». Es kam als Schimpfwort auf, hat mittlerweile aber einen positiven Klang.

Intelligenz und Anstrengung

Erfunden hat es Michael Young, ein englischer Soziologe und Labour-Politiker. Unter dem Titel «The Rise of the Meritocracy» publizierte er 1958 einen satirischen Roman. Dieser spielt im Jahr 2034 in England und beschreibt den Anfang einer Revolution, die sich als Folge einer misslungenen Bildungsreform zusammenbraut. Young hatte eine solche Reform in den 1940er Jahren erlebt. Sie hatte bezweckt, ein Schulsystem einzuführen, das Talent dank Intelligenztests früh erkennt und fördert.

Damit sollten die mit dem sozialen Stand verbundenen Vor- und Nachteile ausgeglichen werden. «Verdienst» (merit) wurde definiert als Summe von Intelligenz und Anstrengung (effort): Wer klug war und sich Mühe gab, konnte sich nach oben arbeiten. Young kritisierte nicht das Ideal der Chancengleichheit, sondern die Art und Weise, wie die Labour-Regierung versucht hatte, es mit Programmen zur Talentförderung umzusetzen. In seinem Roman ersetzt die Meritokratie zwar die Aristokratie, erzeugt aber eine neue Elite, die sich von der übrigen Gesellschaft hermetisch abkapselt.

2001, mehr als vierzig Jahre nach Erscheinen seines Buches, fasste Young sein Credo noch einmal zusammen: «Es ist eine gute Idee, Menschen aufgrund ihrer Verdienste eine Stelle zu geben. Es ist aber eine schlechte Idee, wenn diejenigen, die sich verdient gemacht haben, eine Klasse bilden, die niemanden anders mehr zulässt.» Dass sein ironischer Kraftausdruck «Meritokratie» mittlerweile zum Ideal progressiver Parteiprogramme geworden war, ärgerte Young sehr.

Der Bedeutungswandel begann in den Vereinigten Staaten, in den Jahrzehnten zwischen Reagan und Obama, der beispielsweise Sport als Vorbild für die ganze Gesellschaft betrachtete – weil immer klar messbar sei, wer gewinnt und wer verliert. Das gefiel dem britischen Premier Tony Blair, dessen «New Labour» das Modell des sozialen Aufstiegs unter dem gleichen Titel verkaufte: «Wir sind Meritokraten!» Auch die Tories übernahmen den Begriff. 2016 sagte die konservative Premierministerin Theresa May: «Ich will, dass Grossbritannien die grosse Meritokratie dieser Welt ist – ein Land, in welchem jeder eine faire Chance hat, um so weit emporzuklimmen, wie es Talent und harte Arbeit erlauben.»

Vom «Bureau» aus geführt

Beinahe den umgekehrten Weg hat der Begriff «Bürokratie» zurückgelegt. Zwar war auch dieser ursprünglich abschätzig gemeint. Auf Französisch bezeichnet «Bureau» zunächst einen Schreibtisch, und die Bürokratie definiert einen Regierungsstil, der von Amtsstuben aus betrieben wird, eine «Schreibstubenherrschaft» also. Der französische Ökonom Vincent de Gournay prägte den Ausdruck im 18. Jahrhundert, aus Ärger über die marktverzerrenden Massnahmen, die in Amtsstuben erfunden wurden.

Die Soziologen des 20. Jahrhunderts hingegen erkannten in der Bürokratie vor allem Vorteile. Für Max Weber war sie ein Instrument rationaler Herrschaftsausübung. In seinem 1922 erschienenen Werk «Wirtschaft und Gesellschaft» legt er dar, die «legale Herrschaft mit bürokratischem Verwaltungsstab» habe deutliche Vorteile gegenüber älteren Typen wie der auf Abstammung beruhenden Aristokratie oder der auf Charisma beruhenden Tyrannei.

Auch Weber stellt erworbene Verdienste angeborenen Rechten gegenüber. Zudem zeichnet sich bei ihm Bürokratie durch ehrliche, rational begründete Spielregeln aus. Um dem Idealtypus einer solchen Regierungsform zu entsprechen, müssen die Funktionäre neutral handeln, regelgebunden funktionieren und professionell vorgehen. Weber betrachtete den modernen Staat als «Betrieb», «ebenso wie eine Fabrik: das ist gerade das ihm historisch Spezifische». Wie ein Betrieb vom «Kontor» aus gesteuert wird, wird der moderne Staat aus dem «Bureau» geführt.

In der Alltagssprache hat sich der positive Wortgebrauch der Soziologen nicht niedergeschlagen. Bereits 1944 schrieb Ludwig von Mises: «Die Begriffe Bürokrat, bürokratisch und Bürokratie sind eindeutig Schmähungen. Niemand nennt sich selbst einen Bürokraten oder seine eigenen Geschäftsmethoden bürokratisch. Diese Worte werden immer mit einem ehrenrührigen Unterton verwendet.»

Ein Staat von Technikern

Die verbreitete Abscheu vor der Bürokratie hat allerdings auch ihre Kehrseite. In Ländern, in denen der «gesundgeschrumpfte», «schlanke» Staat zu einer Reduktion des Verwaltungsapparates geführt hat, erklingt oft die Klage, der Staat habe den Bürger fallengelassen. Man will zwar keine «unnötige Bürokratie», aber wünscht sich einen Staat, der sich in bestimmten Grenzen um die Menschen kümmert.

Eine Variante dieses Dilemmas kommt auch in der Geschichte des Ausdrucks «Technokratie» zum Ausdruck. Dass technisch und wissenschaftlich geschultes Personal den Staat leiten sollte, hat bereits Platon im 4. Jahrhundert v. Chr. in seinem Staatsentwurf gefordert. In der politischen Utopie des «Neuen Atlantis» von Francis Bacon (1626) wird dieser Vorstellung ein neuer Mantel umgehängt: Wo eine Kaste von Wissenschaftern aufgrund empirischer Daten die Staatsgeschäfte steuert, sagt Bacon, herrsche Wohlstand und Frieden.

Damit ist das skizziert, was wir heute als Technokratie bezeichnen, allerdings ohne dass der Begriff genannt würde. Das Wort «Technokratie» wurde erst in den Vereinigten Staaten populär. Zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Weltwirtschaftskrise um 1930 etablierte sich dort eine revolutionäre Bewegung, die sich «Technokratie» nannte. Ihre Vertreter waren überzeugt, dass man Umwälzungen wie die russische Revolution oder Krisen wie den Börsenkrach von 1928 vermeiden könne. Allerdings brauche es dafür eine andere Staatsform.

Was der Staat nötig hatte, war nach Ansicht der Technokraten eine «technische Allianz» aus «Ingenieuren, Wissenschaftern, Architekten, Erziehern, Ärzten und Gesundheitsexperten, Förstern, Managern und Statistikern». Einigen ihrer Vertreter schwebte eine technokratische Diktatur vor, anderen eine liberale oder sozialistische Gesellschaftsordnung. Entscheidend war aus ihrer Sicht, dass die richtigen Leute an den Schalthebeln sassen. Parlamentarische Volksvertreter waren ihrer Ansicht nach nicht in der Lage, technisch-wissenschaftlich zu denken und zu planen.

Die Macht der Experten

Seine revolutionäre Bedeutung hat der Begriff «Technokratie» längst verloren. Und auch hier hat sich der Charakter des Wortes völlig verändert: Während sich «Technokratie» um 1930 als rettende Alternative zum bankrotten Staat präsentierte, ist das Wort heute negativ besetzt. Die utopische Hoffnung ist zur Bedrohung geworden.

«Corona – Krone der Technokratie?», lautet der Titel eines Buchs, das 2021 erschienen ist. Die Macht, die die Experten für Virologie und Epidemiologie während der Corona-Pandemie hatten, kam dem Ideal, das die amerikanischen Technokraten um 1930 propagierten, wohl tatsächlich ziemlich nahe. Nur, selbst die entschiedensten Befürworter einer expertengesteuerten Gesetzgebung und Verwaltung vermieden es während der Pandemie tunlichst, das Wort «Technokratie» zu verwenden.

Christoph Lüthy lehrt Philosophiegeschichte an der Radboud-Universität in Nijmegen.

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