Sonntag, Oktober 20

Die Engländer sehen sich als Mutterland des Fussballs, sind aber notorisch erfolglos. Nun soll ihnen ausgerechnet ein Deutscher helfen. Bei den Fans im Fussball-Pub kommt das nicht gut an.

«Touchy topic», unterbricht Sean sofort mahnend, als der Name Thomas Tuchel fällt – das sei ein heikles Thema. Am Mittwoch hat Englands Football Association (FA) den Deutschen als neuen Nationaltrainer im Wembley-Stadion präsentiert. Und das ist wirklich ein heikles Thema, denn Tuchel stammt aus dem Land des Erzrivalen.

Sean ist einen Tag nach Tuchels Vorstellung mit zwei Freunden, die zufällig ebenfalls Sean heissen, in der Kneipe «The Globe» für ein Feierabendbier zugegen. Das Pub ist der allgemeine Sammelpunkt der Fussballfans in London, in gewisser Weise bildet es Volkes Stimme ab – weil sich gegenüber die Baker Street Station befindet, von dort aus geht es mit der Tube ins Wembley.

Die Ansichten zu Tuchel gehen etwa so weit auseinander wie bei Englands umstrittenem Wembley-Tor im WM-Final gegen Deutschland 1966: Die einen empfinden die Trainer-Personalie als Schmach, die anderen feiern sie als Coup. Für Sean gleicht ein deutscher Trainer auf dem englischen Posten einem Gesichtsverlust, er hält die Verpflichtung für so entbehrlich wie die «Einführung des VAR».

Der Fussballfan argumentiert, die Konstellation ruiniere die «spezielle Rivalität» zwischen den beiden Nationen. «The Germans won it for us», sagt er gequält: Er könnte sich an einen solchen Satz wohl nie gewöhnen, wenn mit Tuchel tatsächlich ein Deutscher die ewig ungekrönten Engländer an der WM 2026 nach dann 60 Jahren ohne Titel auf den Thron führen würde.

Sein Kumpel lässt das so nicht stehen und versichert süffisant, man könne davon ausgehen, dass auch Sean Tuchel bei einem Triumph um den Hals fallen werde. Nein, erwidert dieser, allenfalls einen anerkennenden Klaps auf die Schulter werde es von ihm geben. Zuvor hatte sein Kamerad eine Eloge auf Tuchel abgehalten, er zählte dessen Erfolge auf und gestand, er hätte sich diesen auch gut bei seinem kriselnden Lieblingsklub Manchester United als Trainer vorstellen können.

Zwischen den beiden entwickelte sich eine leidenschaftliche Debatte. Das Fazit des Tuchel-Befürworters war es, über alle Animositäten hinwegzusehen und den bestmöglichen verfügbaren Coach zu engagieren, um endlich wieder einen Pokal zu holen. Bisher gewannen die «Three Lions» nur den WM-Titel 1966. «Und zwei Weltkriege», wirft der Tuchel-Gegner Sean frotzelnd ein.

Manche unverbesserlichen Engländer werden nicht müde, immer wieder auch die historische Komponente zu bemühen. Das sei alles Vergangenheit, lange vorbei, sind sich am Nebentisch die Arbeitskollegen Bill und Archie einig. Sie freuen sich beide auf Tuchel – denn so ein Experte habe England seit Jahrzehnten gefehlt.

Tuchel hinterliess auf der Insel bleibenden Eindruck, als er den FC Chelsea vor drei Jahren überraschend zum Champions-League-Titel führte. Vor allem seine Leidenschaft als Trainer am Spielfeldrand imponiert dem Mutterland des Fussballs.

Womöglich geniesst Thomas Tuchel in England sogar eine höhere Wertschätzung als in Deutschland, das ihn oft kritisch sieht. Im Prinzip könnten sich wohl alle Engländer auf ihn verständigen – wenn er nur nicht aus Deutschland käme.

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