Er hat sich nicht nur mit virtuosem Rap profiliert. Kendrick Lamar spricht in seiner Musik auch gesellschaftliche Probleme an. Auf seinem neuen Album «GNX» aber sorgt vor allem die Wut für musikalische Leidenschaft und Dringlichkeit.
Wer mit Gott spricht, wird mit Ehrlichkeit belohnt. Und wenn der Rapper Kendrick Lamar sich als Friedensapostel aufspielt und behauptet, «I’m tryna push peace in L.A.», hält ihm Gott prompt die Wahrheit entgegen. «But you love war» – aber du liebst doch den Krieg! «No, I don’t!» Der Sünder versucht sich herauszureden. «Oh yes, you do», entgegnet abermals Gott und fragt: «Wie sollen deine Feinde dir vergeben, wenn keine Vergebung in deinem Herzen ist?»
Was wie ein Dialog über federnden Bässen und plätschernden Piano-Arpeggi tönt, ist ein Monolog aus Kendrick Lamars neuem Song «Reincarnated». Dass er hier gleich in zwei Rollen schlüpft, ist typisch für sein Talent. Wie kaum ein anderer Rapper versteht er es, den Tonfall zu variieren und seine Stimme unterschiedlichen Instanzen zu leihen.
Kendrick Lamar ist ein religiöser Mensch, der seinen christlichen Glauben auch in der Musik oft anspricht – allerdings nicht nur in demütiger Frömmigkeit, sondern auch einmal mit unverfrorenem Witz wie in «Reincarnated»: Gott steht hier als Über-Ich im Gerichtsstand, um das idealisierte Selbstbild des Rappers zu hinterfragen. Denn Kendrick Lamar kann offenbar ein rachsüchtiger Macho sein – wie viele seiner Konkurrenten.
Niedere Instinkte
Bisher hat sich der 37-jährige Rapper aus Compton, LA allerdings eher als Hip-Hop-Prophet empfohlen. Im Sog teils erdiger, teils technoider Beats brachte er existenzielle Sorgen zur Sprache. In «To Pimp a Butterfly» (2015) etwa ging es um Fragen der afroamerikanischen Identität. «Mister Morale & The Big Steppers» (2022) drehte sich vermehrt um private Konflikte.
Gemessen an der Thematik könnte man das neue Album «GNX» als Regression missverstehen. Denn trotz überschäumenden Silbenergüssen und bei allem musikalischen Raffinement scheinen allenthalben zweifelhafte Motive durch: Grössenwahn, Feindseligkeit, Rachsucht. Aber die musikalische Bravour hängt eben nicht von moralischer Grösse ab. Gerade seine niederen Instinkte wie Zorn und Eifersucht hat Kendrick Lamar auf «GNX» überzeugend verarbeitet.
Für Kendrick Lamars Gehässigkeit gibt es konkrete Gründe. In den letzten zwölf Monaten ist zwischen ihm und dem kanadischen Superstar Drake ein Kampf um die Oberherrschaft im Hip-Hop entflammt, den beide mit giftigen Diss-Tracks befeuert haben. Beide sind sehr erfolgreich, aber sie stehen tatsächlich für gegensätzliche Haltungen und Stile.
Während Drake seine Fans mit poppigem Trap bei Laune hält, lässt sich Kendrick Lamar von Jazz, Soul, House inspirieren. Es geht ihm stets darum, die Tradition der Black Music in die Gegenwart zu übersetzen. Das manifestiert sich auf verschiedene Weise auch auf «GNX». Wenn er in seinem Buick Grand National X herumfahre – dem das Album den Titel verdankt –, so höre er sich Songs der legendären Soulsängerin Anita Baker an, verkündet er gleich im ersten Stück. In «Reincarnated» erklärt er sich zum Wiedergänger von Idolen wie dem Bluesgitarristen John Lee Hooker und der Jazzsängerin Billie Holiday. Und im autobiografischen Stück «Heart Pt. 6» okkupiert er mit seinem Sprechgesang den Song «Use Your Heart» – einen Neunzigerjahre-Hit des R’n’B-Trios Sisters With Voices.
Aus der Vertrautheit mit der Tradition erwächst der Anspruch auf den Thron. Auf den Schultern seiner Idole stehend, fühlt sich Kendrick Lamar Drake überlegen. In ihrem «Beef» blieb es allerdings nicht beim künstlerischen Wettbewerb. Vielmehr artete die Fehde in wüsten Behauptungen aus. Drake hat seinem Konkurrenten häusliche Gewalt vorgeworfen; umgekehrt beschuldigte Kendrick Lamar den Gegner der Pädophilie.
Dass sich die Hip-Hop-Szene trotzdem über den Streit freute, liegt an der tiefen Verankerung der «Battles» in dieser Kultur. Solche Auseinandersetzungen können bisweilen blutig enden – wie in den 1990er Jahren, als die Konkurrenten Tupac Shakur und Biggie Smalls Opfer tödlicher Anschläge wurden. Zumeist aber werden Fehden sportlich ausgetragen, mit Schlagfertigkeit statt mit Gewalt.
Rap ist keine Poesie, die im stillen Kämmerchen ausgebrütet wird. Wer sich auf das sogenannte Game einlässt, steht sofort im Spannungsfeld der Konkurrenz. Die Wut und das Testosteron, das nicht wenige amerikanische Rapper einst in das Überleben in Gosse und Ghetto investiert haben mögen, fliesst dann in die Musik. Wie stets in der Kunst geht es einerseits darum, in Abgrenzung von den anderen etwas Eigenes zu schaffen. Andererseits soll man, indem man sich an den Gegnern abarbeitet, über diese hinauswachsen.
Obwohl die Hip-Hop-Szene Kendrick Lamar unterdessen als Sieger im Streit mit seinem Rivalen feiert, tritt er in «GNX» eher als Rächer auf denn als Triumphator. Gleich zu Beginn gibt es Ärger. «Wacced Out Murals» heisst der Opener, der von einem realen Kendrick-Lamar-Wandbild handelt. An sich ist es ein Grund für Stolz, wenn man sich gross, prägnant und bunt verewigt findet in den Strassen von LA. Aber das Werk anonymer Autorschaft haben offenbar Drake-Fans verschmiert. Und so ist die verunstaltete Streetart zum Motiv einer giftigen Abrechnung geworden – mit Drake und mit all jenen Rappern, die sich nicht auf seine Seite geschlagen haben.
Das Fieber der Kränkung und die Kälte der Arroganz sorgen auf «GNX» immer wieder für eine Dringlichkeit, die am Widerstand sperriger Beats und kantiger Klänge Spannung generiert: etwa im verspielten, aber höhnischen «Squabble Up». Oder in «Man At The Garden», wo der Rapper nochmals die Krone für sich in Anspruch nimmt. «I deserve it», sagt er immer wieder – bevor das Finale in einem sprachlichen Furor gipfelt, der an Eminems legendäre Wutreden erinnert.
Der Pop-Produzent
Für die Beats von «GNX» war neben Kendrick Lamars langjährigem Produzenten Sounwave diesmal auch Jack Antonoff zuständig, der sich sonst an der Seite von Pop-Stars wie Taylor Swift als verlässlicher Hit-Lieferant profiliert. Zwar finden sich im neuen Repertoire kaum Titel, die in die Mainstream-Charts passen. Aber Antonoff ist vielleicht mitverantwortlich für die Dramaturgie des Albums, die auch für witzige Kontraste, freundlichere Stücke und etwas Romantik Raum lässt.
«Peekaboo» etwa ist eine musikalische Bagatelle, in der Kendrick Lamar virtuos mit Silben, Wörtern und dadaistisch anmutenden Lauten spielt. «Luther» ist eine Art Lovesong, in dem der Rap durch den geschmeidigen Gesang von R’n’B-Star SZA erwärmt wird. SZA singt auch in «Gloria», dem letzten Titel des Albums, in dem es ebenfalls um eine Affäre zu gehen scheint. Er habe eine schwierige Beziehung mit seiner «Bitch», meint Macho Lamar zu Beginn. Dann wird die Geschichte der Zweierkiste nacherzählt, bis sie zuletzt in einer Pointe mündet: Mit der geliebten Bitch ist die Leidenschaft für Rap gemeint.