Freitag, Dezember 27

Die Anhänger der Kirschblüten-Gemeinschaft diversifizieren ihr Angebot – und stossen zunehmend auf Widerstand. Experten sehen vulnerable Patienten in Gefahr.

Die Einladung zur Fortbildung für medizinisches Fachpersonal kam harmlos daher. Um «praxisnahes Erfahrungswissen im Umgang mit Menschen im Autismus-Spektrum» sollte es gehen. Die Schule würde kompaktes Wissen vermitteln und bezüglich der Bedürfnisse von Autisten sensibilisieren, so das Versprechen.

Doch die Veranstaltung, die für den Februar im Bildungszentrum Zofingen (BZZ) geplant war, wird nicht stattfinden. Die Einladung war aufgeschaltet auf der Homepage des Prisma-Zentrums für Neurodiversität und Lebenskunst in Zuchwil bei Solothurn. Es wird von prominenten Mitgliedern der umstrittenen Kirschblüten-Gemeinschaft (KBG) betrieben, die mit Drogentherapien und Tantra-Sex experimentiert.

Die Kirschblütler sind eine Lebens-, Arbeits- und Therapiegemeinschaft, die in den neunziger Jahren vom mittlerweile verstorbenen Psychiater Samuel Widmer gegründet wurde. Unter Widmers Anhängern finden sich Psychiater und Psychologen.

«Totalitärer Anspruch»

Beobachter stufen die Gruppe als «sektenhaft» ein. Die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) wirft der KBG vor, einen «totalitären Anspruch» zu haben. Seit einigen Jahren wird Widmers Methode, die «echte» Psychotherapie, von den Krankenkassen nicht mehr vergütet. Die NZZ berichtete über eine Patientin, die angibt, von einem Kirschblüten-Therapeuten indoktriniert und sexuell missbraucht worden zu sein.

Eine besorgte Bürgerin wandte sich deshalb ans Berufsbildungszentrum Zofingen und bat die Verantwortlichen der öffentlichen Institution, die geplante Veranstaltung am BZZ zu hinterfragen. Daraufhin nahm die BZZ-Leitung Kontakt auf zur Dozentin, die den Kurs anbieten wollte und die Räumlichkeiten gemietet hatte.

Die Frau hat laut dem BZZ-Rektor Roger Meier keine Verbindungen zu den Kirschblütlern. Sie sei frustriert, dass ihre Veranstaltung von den Prisma-Leuten quasi gekapert worden sei. Weil weder sie noch das BZZ etwas mit Prisma zu tun haben wollten, sei der Kurs nun abgesagt worden, sagt Meier. Auch von der Prisma-Website ist die Einladung zur Autismus-Veranstaltung mittlerweile verschwunden.

Der Fall veranschaulicht zwei Dinge: Erstens sucht sich die Kirschblüten-Gemeinschaft neue Betätigungsfelder und findet sie im Bereich Autismus und ADHS. Zweitens stösst sie bei diesen Bemühungen zunehmend auf Gegenwehr.

Grosse Nachfrage nach ADHS-Behandlungen

Die Nachfrage nach Beratung und Therapie für ADHS-Betroffene ist riesig, in manchen Kantonen warten sie mehrere Monate auf einen Termin. Beim Prisma-Zentrum geht das deutlich schneller. Die Psychiaterin Alexandra Horsch, die schon lange vor den Machenschaften der Kirschblütler warnt, hegt den Verdacht, dass Teile der Gemeinschaft nun «in neuem Gewand» Jagd auf verletzliche Patienten machten.

Ähnlich sieht das die Infosekta-Expertin Susanne Schaaf. Sie nehme an, dass Fachpersonen, die sich dem Kirschblüten-Konzept verbunden fühlten, ihr problematisches Gedankengut schrittweise in die therapeutische Beziehung einfliessen liessen, sagte sie dem «Sonntags-Blick». Dies sei für die Klienten nicht auf den ersten Blick erkennbar.

Im Mai hat der grüne Kantonsrat Christof Schauwecker das Thema in einer Anfrage an die Solothurner Regierung aufgegriffen. «Fachkreise betrachten dieses sogenannte Beratungsangebot aus den Kreisen der Kirschblüten-Gemeinschaft mit grosser Besorgnis», schreibt Schauwecker. Er möchte wissen, was die Regierung unternehme, um die Bevölkerung vor den «Aktivitäten von Sekten und sektenähnlichen Gruppierungen» zu schützen. Eine Antwort liegt noch nicht vor.

«Trennen Privatleben von professioneller Rolle»

Die Geschäftsführerin des Prisma-Zentrums ist die Psychologin Rahel Nicolet, die Tochter des KBG-Gründers Widmer. Sie bedauert, dass der Kurs in Zofingen nicht stattfindet. Und stellt die Umstände leicht anders dar als der Rektor: Die Veranstalterin sei eine externe Dozentin gewesen, mit der Prisma zusammenarbeite. Wegen einiger negativer Medienberichte über die Verbindungen zur KBG habe die Dozentin Angst vor einem Reputationsschaden bekommen. Deshalb habe man entschieden, den Kurs nicht bei Prisma in Zuchwil, sondern am BZZ abzuhalten. «Aufgrund des weiter steigenden Drucks hat die Veranstalterin die Fortbildung schliesslich ganz abgesagt», erklärt Nicolet. Ob Prisma die Dozentin mit dem Kurs beauftragt oder nur auf seiner Website dafür geworben hat, bleibt somit unklar.

Nicolet betont, Prisma sei kein Projekt der Kirschblüten-Gemeinschaft. «Wie jede andere Fachperson, trennen wir bewusst Privatleben von professioneller Rolle.» Die Arbeit der Prisma-Therapeuten basiere auf fundierten Ansätzen und das Team vertrete eine wertneutrale Haltung. Auf die Frage, warum in der Praxis nur Kirschblüten-Mitglieder arbeiten, entgegnet sie: «Wir wären sehr offen für andere Fachpersonen, aber es will sich offenbar niemand der Kampagne aussetzen, die gegen uns geführt wird. Das ist verständlich, aber auch ein echtes Dilemma.»

Ihr selbst sei gar nichts anderes übriggeblieben, als sich selbständig zu machen. «Ich bin nun einmal Psychologin und auf Neurodiversität spezialisiert. Weil ich privat in der Kirschblüten-Gemeinschaft lebe, stellt mich in der Schweiz in meinem Berufsfeld aber niemand mehr an.» 2022 verlor Nicolet ihren Job bei den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern.

Heikler Auftritt an Nikotintagung

In den letzten Jahren gab es immer wieder Medienberichte über Institutionen, die sich von Therapeuten mit Kirschblüten-Hintergrund trennten. Ein Beispiel ist die Klinik Barmelweid im Kanton Aargau, die einer Ärztin kündigte, als sie von deren Verbindungen zur KBG erfuhr. Die Haltungen der Kirschblüten-Gemeinschaft widersprächen klar den Grundsätzen und der psychotherapeutisch-medizinischen Ethik der Institution, hiess es vor zwei Jahren.

Es ist vor diesem Hintergrund bemerkenswert, dass die Barmelweid Esther Maria Caduff als Referentin zu einer Nikotintagung im vergangenen Juni eingeladen hat. Denn Caduff, die Rauchstopp-Beratungen anbietet, macht kein Geheimnis aus ihrer Mitgliedschaft bei den Kirschblütlern: Auf der Website der Gemeinschaft wird sie als Medienkontakt aufgeführt.

Laut der Barmelweid-Sprecherin Martha Brem wusste man bei der Klinik nichts von Caduffs Hintergrund. Sonst wäre sie wieder ausgeladen worden, sagt Brem. Die Einschätzung von 2022 zur KBG gelte selbstverständlich weiterhin. Caduffs Auftritt fand schliesslich nicht statt, sie war krank. Ihr Vortrag wurde den Teilnehmern als jedoch Download zur Verfügung gestellt. Die Barmelweid hat die Präsentation inzwischen laut Sprecherin Brem entfernt.

Auch hier zeigt sich: Die Gesundheitsbranche ist heute stärker sensibilisiert auf die Versuche der Kirschblütler, allgemeine Sucht- und Krankheitsthemen aufzugreifen, als noch vor ein paar Jahren. Und unterbindet solche Versuche rigoros – sofern sie davon erfährt.

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