Freitag, Oktober 11

Die zweitgrösste Volkswirtschaft der Euro-Zone ist so verschuldet wie nie. Premierminister Michel Barnier will nun Steuern erhöhen und Ausgaben kürzen, um das Land zur Haushaltsdisziplin zu zwingen. Doch die Widerstände sind gewaltig.

Es sind alarmierende Zahlen, die das französische Finanzministerium kürzlich veröffentlichte. Die Staatsverschuldung der zweitgrössten Volkswirtschaft in der Euro-Zone ist im vergangenen Jahr auf den Rekordwert von 111,6 Prozent des Bruttoinlandprodukts gestiegen.

Das Haushaltsdefizit beträgt 5,5 Prozent des BIP. Im nächsten Jahr könnte es sogar auf 7 Prozent klettern. In der EU gilt eigentlich ein Schwellenwert von 3 Prozent. Brüssel hat deswegen ein Defizitverfahren gegen Frankreich eingeleitet. «Über uns hängt ein Damoklesschwert», sagte der französische Premierminister Michel Barnier bei seiner Antrittsrede in der Nationalversammlung am 1. Oktober.

Mit Spannung war Barniers erster Haushaltsentwurf erwartet worden, den er am Donnerstag präsentierte. Um den Haushalt wieder ins Lot zu bringen, schlägt seine Regierung jetzt, wenig überraschend, Steuererhöhungen und zarte Ausgabenkürzungen vor.

Kein «magisches Geld»

Konkret sollen mehr als 400 Grossunternehmen mit einer «zeitlich begrenzten» Sonderabgabe belastet werden, was 8 Milliarden Euro an Mehreinnahmen bringen soll. Betroffen davon sind Firmen mit einem Jahresumsatz von mindestens einer Milliarde Euro. Strom, Flugtickets und der Kauf von SUV sollen stärker besteuert werden. Zudem werden Franzosen mit einem Jahreseinkommen von mehr als 250 000 Euro (bei Ehepaaren 500 000 Euro) höhere Abgaben entrichten müssen.

Auf der Ausgabenseite ist unter anderem geplant, den öffentlichen Dienst um rund 2200 Stellen zu verschlanken. 60 Milliarden Euro sollen die Massnahmen insgesamt einsparen. Fast genau so viel geht heute allerdings schon für den Schuldendienst drauf.

Barnier ist nicht zu beneiden. Anfang September von Präsident Emmanuel Macron ins Amt berufen, soll der 73-Jährige schaffen, woran seine liberalen Vorgänger Gabriel Attal und Élisabeth Borne kläglich gescheitert sind: die Grande Nation zur Haushaltsdisziplin zu bewegen. Das zentristische Macron-Lager, zu dem Attal gehört, und Barniers konservative Republikaner haben eine Minderheitsregierung gebildet, die auf die Tolerierung durch das Rassemblement national angewiesen ist.

Trotzdem liess es sich der Premierminister nicht nehmen, im Parlament gegen den Vorgänger zu sticheln: «Herr Attal, ich werde Ihre Vorschläge für zusätzliche Einsparungen zur Bewältigung des Defizits, das ich bei meiner Ankunft festgestellt habe, sehr aufmerksam verfolgen.» Dem Angesprochenen froren die Gesichtszüge ein.

Einen ausgeglichenen Haushalt kann Frankreich schon seit einem halben Jahrhundert nicht mehr aufweisen. Das Land steht in einer langen Tradition des «deficit spending», das heisst einer Finanzpolitik, bei der die Regierung mehr Geld ausgibt, als sie durch Einnahmen generiert. Eine Schuldenbremse wie in Deutschland gibt es nicht. Und das führte dazu, dass es in den vergangenen Jahren keine Skrupel gab, die Staatsausgaben weiter zu erhöhen und immer neue Schulden aufzunehmen.

Einer, der antrat, um mit dieser Tradition zu brechen, war Macron. Der ehemalige Investmentbanker versprach nach seinem Einzug in den Élysée-Palast 2017, die Wirtschaft so weit auf Wachstumskurs zu bringen, dass sie den Staat aus den Schulden herausziehen könnte. Macron schwärmte von der «Startup-Nation», die Frankreich werden könnte. Er lockerte das Arbeitsrecht, senkte die Steuern für Unternehmen, kündigte Investitionen in Zukunftstechnologien, aber gleichzeitig auch Kürzungen im öffentlichen Bereich an. 120 000 Beamtenstellen sollten gestrichen werden.

Eine Schlüsselszene, die den Franzosen im Gedächtnis geblieben ist, spielte sich 2018 im Universitätsspital in Rouen im Norden des Landes ab. Der Präsident und eine Krankenschwester stritten sich über mehr Betten und mehr Personal, bis Macron schliesslich sagte: «Madame, es gibt kein magisches Geld.»

Sehr französische Probleme

Was also ist passiert, dass die Staatsverschuldung seither dennoch angestiegen ist, und zwar auf 3228,4 Milliarden Euro, wie das französische Statistikamt Insee im September bekanntgab? Die Summe entspricht einem Anstieg von annähernd einer Billion Euro seit dem Beginn von Macrons Präsidentschaft.

Experten führen vor allem zwei Gründe an. Während der Pandemie wurde viel Geld an Unternehmen und private Haushalte gezahlt, um die wirtschaftlichen Auswirkungen der Krise abzufedern. Die Ausgaben dafür bezifferte der ehemalige Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire auf 240 Milliarden Euro. Ebenfalls zu Buche schlugen der Ukraine-Krieg und die darauffolgende Energiekrise. Der Staat reagierte mit Zuschüssen, um die Bürger bei den gestiegenen Strompreisen zu entlasten. Doch so handhabte es nicht nur Frankreich.

Nach Angaben des Pariser Conseil d’analyse économique (CAE) trieben auch Macrons Steuersenkungen, die nicht ausreichend gegenfinanziert worden seien, das Defizit in die Höhe. Vor allem aber spricht der Wirtschaftsrat von strukturellen, sehr französischen Problemen. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sei das Niveau der öffentlichen Ausgaben deutlich höher (7,9 Prozentpunkte des BIP mehr als im europäischen Durchschnitt), und das führe eben nicht unbedingt zu mehr Effizienz – eine mit Blick auf die Leistung der französischen Verwaltung vielleicht noch milde Zustandsbeschreibung.

Tatsächlich hat Macron keine Beamtenstellen gestrichen, sondern die Zahl der öffentlich Beschäftigten sogar erhöht – um 178 000 zusätzliche Stellen allein zwischen 2017 und 2022. Auch dies hatte unter anderem mit der Pandemie zu tun. Die Gesundheitskrise, rechtfertigte sich Macron in einem Interview Ende 2021, habe seinen Landsleuten noch einmal vor Augen geführt, wie wichtig ein starker öffentlicher Dienst sei.

Mit 57 Prozent hat Frankreich heute die höchste Staatsquote Europas, was viele Franzosen aber nicht als Problem erachten. Im Gegenteil erscheint ihnen die Idee eines schlanken Staates geradezu unsozial. Versuche, den Wohlfahrtsstaat zu schleifen, stossen seit je auf militanten Widerstand. Macron erfuhr das bei den Gelbwesten-Protesten, die sich zunächst nur gegen höhere Kraftstoffsteuern, später gegen die ganze Regierungspolitik richteten. Der Aufstand wurde mit Milliardenhilfen befriedet.

2023 gingen dann wieder Zehntausende auf die Strasse, dieses Mal aus Wut gegen Macrons Rentenreform. Die schrittweise Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre hat der Präsident zwar mit Müh und Not durchboxen können, doch im Parlament droht die Opposition von links und ganz rechts das Gesetz wieder zu kippen. In die marode Rentenkasse würde das ein noch grösseres Loch reissen.

«Le spread» steigt an

Mittlerweile stehen im europaweiten Ranking der Staatsverschuldung nur noch Griechenland (159,8 Prozent) und Italien (137,7 Prozent) schlechter als Frankreich da. Selbst Spanien weist inzwischen ein geringeres Haushaltsdefizit auf, und seine Wirtschaft wächst schneller.

An den Finanzmärkten wächst derweil die Skepsis darüber, ob Frankreich die Trendwende gelingen wird. Der Risikoaufschlag für zehnjährige französische Staatsanleihen gegenüber deutschen Anleihen – in Fachkreisen als «le spread» bekannt – ist zuletzt auf 0,8 Prozentpunkte gestiegen. Das gilt als Warnsignal und spiegelt das sinkende Vertrauen der Investoren in die französische Finanzpolitik wider.

Ob Barniers angekündigte Massnahmen nun auch umgesetzt werden, ist ungewiss. Nicht nur fehlt der Regierung eine absolute Mehrheit im Parlament – und in der Opposition will man vom Sparkurs ohnehin nichts wissen –, auch in den eigenen Reihen regt sich Widerstand. Kritiker wie der Arbeitgeberpräsident Patrick Martin warnen vor negativen Auswirkungen auf Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung. Statt Steuererhöhungen müsse die Regierung den Rotstift bei der aufgeblähten Bürokratie ansetzen, so Martin.

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