In seiner Erzählung «Nicht mein Leben» spielt der Schriftsteller mit seinem biografischen Stoff. Es ist eine halb ironische, halb ernste Selbstbetrachtung.
Am liebsten nennt er sich Niemand. Wie Odysseus, als er sich aus der Höhle des Polyphem retten musste. Es ist nicht ganz klar, aus welcher Höhle und vor welchem Ungeheuer sich August Mormann, ehemaliger Gymnasiallehrer für Altgriechisch, retten muss. Wenn er geistreich sein möchte, bei welcher Gelegenheit er gerne rhetorische Pirouetten vorführt, dann würde er sagen: Das schlimmste Ungeheuer, vor dem er sich retten müsse, sei er selbst. Und die Höhle, in der er sich versteckt halte, habe er selbst gebaut.
August Mormann ist in Adolf Muschgs Erzählung «Nicht mein Leben» sowohl Held wie Ich-Erzähler. Er spricht hauptsächlich über sich selbst, er tut es in der Ich-Form, wechselt aber häufig übergangslos in ein distanziertes Er, als rede er über eine ihm völlig fremde Person. Damit ist eines seiner Probleme bezeichnet: Er nennt sich zwar Niemand, doch er kokettiert mit dieser rhetorischen Selbstauslöschung und mischt eine tüchtige Portion Pathos hinein.
In Wahrheit ist August Mormann alles andere als ein Niemand, in ihm wohnen mindestens zwei: Der eine ist sich seiner nur allzu gewiss, der andere wird sich selber fremd und fremder. Mormann ist zwar «bald achtzig», wie es heisst. Doch die achtzig Jahre haben ihm nicht gereicht, um mit sich und seiner Geschichte ins Reine zu kommen. «Ich kenne mich selbst nicht, wofür müsste ich sonst schreiben.» Der Mann nennt sich Schriftsteller, doch was er schreibt, wird nicht mitgeteilt, es spielt keine Rolle. Es genügt, dass er schreibt. Es ist eine lebenserhaltende Massnahme.
Unerbittlich bis ins Alter
August Mormann hat mit Adolf Muschg nicht nur die Initialen gemeinsam. Es verbindet die beiden so viel – eigentlich alles –, dass man sich wundert, wieso die Figur nicht nach ihrem Schöpfer benannt ist. Auch Adolf Muschg könnte von sich sagen: «Ich kenne mich selbst nicht, wofür müsste ich sonst schreiben.» Er hat in seiner langen literarischen Karriere immer wieder schreibend herauszufinden versucht, was und wer er ist, gleichgültig, ob er sich Romanfiguren ausdachte oder ob er aus seinem Leben erzählte. Und wo er über Goethe oder Gottfried Keller schrieb, steckte er stets mittendrin.
Die Unerbittlichkeit dieser Selbsterforschung hat mit neunzig Jahren nicht nachgelassen. Adolf Muschg ist in seinem Alterswerk keineswegs mild geworden. Rigoroser denn je betreibt er die Suche nach der eigenen Person. Dass er seine Biografie einem Alter Ego auf den Leib schreibt, hat eine psychologische und ästhetische Folgerichtigkeit. Vor allem ist es ein Entlastungsmanöver: Die Selbstbesichtigung wird nach aussen verlegt, die Vivisektion am eigenen Leib wird an einer erfundenen Figur vollzogen.
August Mormann werden dabei noch ein paar kleine Boshaftigkeiten angedichtet: Adolf Muschg, während vieler Jahre Professor für Literatur an der ETH Zürich, degradiert sein Alter Ego zum Griechischlehrer. Und während Muschg ein glühender Befürworter der EU ist, macht er Mormann zu einem eifernden Wanderprediger, der seinem Publikum von Tokio bis Triest das alte Griechenland als das bessere Europa zu empfehlen versucht.
Alles andere freilich ist dem Leben Adolf Muschgs nacherzählt. Früh hat er seinen freudlosen alten Vater verloren, zurückgeblieben ist die Mutter mit schweren Depressionen, die sich kaum noch um das Kind kümmern konnte. Immerhin hatte der Vater noch rechtzeitig dafür gesorgt, dass nach seinem Tod das Kind in ein Internat in die Berge verschickt wurde und später an die Universität kam. So entging es dem Waisenhaus und einer Schneiderlehre, wie es sich seine Halbgeschwister, Kinder aus erster Ehe des Vaters, ausgedacht hatten.
Auch die späte Ehe August Mormanns mit der Japanerin Aki lehnt sich in vielen Einzelheiten an Muschgs Biografie an. Es ist eine zarte Liebesgeschichte, die hier mit vielen umständlichen und zeremoniellen Gesten und Gesprächen ausgeschmückt wird. Doch es ist ein Leben, das auf den Tod hin erzählt wird: Gleich zu Beginn des Buches mieten Aki und August ein gemeinsames Grab.
Eine andere Biografie
Adolf Muschgs Erzählung «Nicht mein Leben» folgt einer paradoxen Bewegung. Der Titel bekräftigt, was er zugleich zu dementieren vorgibt. Muschg erzählt zwar aus seinem Leben, aber er macht es mit dem Gestus dessen, der sich auch ein anderes Leben vorstellen könnte, selbstredend ein besseres. Seine Mutter war als junge Frau in England gewesen. Beinahe wäre sie, so heisst es hier, mit einem jungen britischen Offizier nach Indien durchgebrannt. Das weckt die Phantasie des Erzählers: «Wer wäre ich dann? Jedenfalls nicht derjenige, der sich bald Ich, bald Er nennen muss, um die Fesseln seiner Person etwas zu lockern.»
Es ist eine der Schlüsselstellen dieses Buches, das man auch eine Konfession nennen könnte: Da hadert einer bis zuletzt mit dem gelebten und vor allem mit dem ungelebten Leben, mit den Fesseln, die er sich vielleicht selbst angelegt hat, mit den Traumata, die ihn seit frühester Kindheit begleiten. Paradox ist das Buch auch darum, weil der Erzähler, heisse er Mormann oder Muschg, das Unversöhnliche am Dasein als dessen wahrhaftigen Kern zu begreifen lernt. Das Leben muss nicht rund werden, und die Verletzungen werden nicht heilen, es sei denn im Sterben.
In der Camouflage als Niemand rettet sich Odysseus aus der Höhle des Polyphem. Muschg hat mit Mormann seinen Niemand geschaffen. Er muss mit ihm nicht aus der Höhle entkommen, er braucht ihn, um mit ihm jene Gespenster zu besichtigen, die ihn sein Leben lang verfolgt haben. Mormann berichtet von der Schreibhöhle, die er sich in seinem Haus eingerichtet hat und die es auch in Muschgs realem Wohnhaus gibt. Es ist eine Unterwelt, dort hinab steigen Mormann und Muschg, um in der Enge schreibend die Daseinsfesseln zu sprengen. Die Höhle ist eine Entbindungsstation. Aus der Höhle herauskommen bedeutet Erlösung. Und das heisst in Mormanns Fall nicht weniger als Tod.
Es hat etwas Anrührendes und zugleich fast Komisches, wie der neunzigjährige Adolf Muschg mit den Dämonen des Daseins ringt. «Écrire, c’est une manière de ne pas mourir», sagte einmal der algerische Schriftsteller Kamel Daoud. Es gilt ohne Einschränkung auch für Adolf Muschg, der mit seiner Erzählung die Gespenster bändigt und sich selbstironisch vom Leib hält, was ihn beschäftigt: «Nicht mein Leben». Das kann ihm keiner nehmen.
Adolf Muschg: Nicht mein Leben. Erzählung. Beck-Verlag, München 2025. 176 S., Fr. 34.90.