Vor zwei Wochen wurde ein Rentner in der ersten Klasse eines Regionalzugs von einem Asylsuchenden spitalreif geschlagen. Der Fall sorgt weiterhin für Schlagzeilen – doch ein wichtiges Element blieb bisher im Dunkeln.
Seit Tagen berichten vor allem Ostschweizer Medien über einen 71-jährigen Mann, der im Kanton Appenzell Ausserrhoden von einem vorläufig aufgenommenen Asylbewerber aus Afghanistan brutal niedergeschlagen wurde und danach zur Untersuchung ins Spital gebracht werden musste. Der Beschuldigte soll im 1.-Klasse-Abteil der Appenzeller Bahn grundlos und ohne Vorwarnung auf den Rentner eingeprügelt haben, bis dieser benommen und verletzt am Boden gelegen habe. Erst nachdem ein anderer Passagier eingegriffen hatte, entfernte sich der Mann.
Der Fall sorgt derzeit auch deshalb für Aufsehen, weil er Assoziationen zu den schweren Mordanschlägen in Deutschland weckt. In zwei Fällen – jenen von Aschaffenburg und München – werden Personen mit afghanischer Staatsangehörigkeit beschuldigt. Auch in der Schweiz sind Afghanen bereits früher auffällig geworden.
Beispielsweise im letzten November, als die Schwarze Madonna in Einsiedeln von einem verwirrten Asylsuchenden aus Afghanistan entkleidet wurde. Die zuständige Jugendanwaltschaft hat gegen den tatverdächtigen Jugendlichen inzwischen ein Strafverfahren wegen Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit eröffnet. Das Verfahren sei noch im Gange, teilte die Jugendanwaltschaft auf Anfrage mit. Der Jugendliche befindet sich noch immer in einer medizinischen Institution.
Die verschiedenen Fälle haben allerdings keinerlei Zusammenhang. Es gibt derzeit auch keine Anhaltspunkte dafür, dass Angehörige einer bestimmten Nationalität besonders gewalttätig wären. Seit langem bekannt ist, dass der Anteil von Ausländern und Asylsuchenden an den Straftätern höher ist als ihr Bevölkerungsanteil. Das hat auch mit der soziodemografischen Zusammensetzung dieser Gruppen zu tun. Im Falle von Personen aus Afghanistan kommen möglicherweise traumatisierende Faktoren sowie eine von Gewalt geprägte Sozialisierung hinzu.
Fahrgäste schauten tatenlos zu
Der Fall im Kanton Appenzell Ausserrhoden spielte sich vor bereits mehr als zwei Wochen ab. Dennoch wurde er vom «Blick» am Dienstag und von «20 Minuten» am Mittwoch erneut aufgegriffen. Der «Blick» sprach mit dem Augenzeugen, der dem Opfer half, nachdem es angegriffen worden war. Er habe einige Sekunden gebraucht, bis er verstanden habe, was geschehe. Bemerkenswert ist vor allem eine Aussage des Zeugen: Die übrigen Fahrgäste im Erstklassabteil hätten tatenlos zugeschaut.
Auslöser für die Berichterstattung auf nationaler Ebene sind neue Details zur beschuldigten Person. So soll der 31-jährige Mann polizeilich bekannt gewesen sein. Schon früher sei er durch gewalttätige Aktionen aufgefallen. Weil die Anforderungen an eine Untersuchungshaft aber hoch sind, sei der Mann zunächst auf freiem Fuss geblieben. Ohne Verfügung der Staatsanwaltschaft könne man Verdächtige nur 24 Stunden in Polizeigewahrsam nehmen.
Das sei teilweise belastend und frustrierend, sagte die Appenzeller Kantonspolizei kurz nach dem Vorfall im Zug zum «St. Galler Tagblatt». Und der «Blick» fragt in seinem Artikel vom Dienstag besorgt: «Wieso ist der Mann also noch auf freiem Fuss?» Unterschwellig schwingt dabei die These mit, das Versagen der Behörden in Deutschland könne sich nun im Appenzellerland wiederholen.
In Wahrheit befindet sich der Beschuldigte inzwischen schon seit rund zwei Wochen in Untersuchungshaft. Weder der «Blick», das «St. Galler Tagblatt» noch «20 Minuten» hatten dies berichtet. Ein Sprecher der Appenzeller Kantonspolizei bestätigte auf Anfrage, dass die U-Haft schon verfügt worden sei, kurz nachdem der Mann habe festgenommen werden können. Eine Gefahr geht von dem Mann für die Öffentlichkeit derzeit deshalb nicht aus. Ermittlungs- und Abklärungsbedarf besteht laut Kapo derzeit in verschiedener Hinsicht. So geht es unter anderem auch um die psychische Gesundheit des beschuldigten Mannes.
Hohe Hürden für Untersuchungshaft
Gegen eine Person, die wegen eines schweren Deliktes dringend tatverdächtig ist, kann die Staatsanwaltschaft Untersuchungshaft nur bei Vorliegen ganz bestimmter Gründe beantragen: wenn Fluchtgefahr, Wiederholungsgefahr oder Verdunkelungsgefahr besteht. So sieht es die Strafprozessordnung vor. Ob im vorliegenden Fall die Flucht- oder die Wiederholungsgefahr entscheidend war, sagte die Kantonspolizei nicht.
Unklar ist bis anhin auch, ob dem Mann schwere Körperverletzung vorgeworfen wird. Wäre dies nicht der Fall, wäre die Schwelle für eine Untersuchungshaft sogar noch höher. Schwere Körperverletzung liegt nur dann vor, wenn das Opfer lebensgefährlich verletzt wurde, ein wichtiges Organ dauerhaft gebrauchsunfähig bleibt oder der Angriff zu einer bleibenden Entstellung führt.
Die Hürden für die Verfügung von Untersuchungshaft sind in der Schweiz hoch, weil es sich dabei um einen schwerwiegenden Eingriff in die persönliche Freiheit handelt. Im Zweifel muss eine mildere Massnahme verhängt werden – beispielsweise eine Meldepflicht oder ein Kontaktverbot. Dieses Prinzip gilt, nicht zuletzt weil eine beschuldigte Person bis zu ihrer Verurteilung unschuldig ist.