Im Gefängnis schrieb er einen seiner bedeutendsten Romane, mehrmals galt er als Favorit für den Nobelpreis: Nun ist Ngugi wa Thiong’o 87-jährig gestorben.
«Unwissenheit ist eine Krankheit», sagte Ngugi wa Thiong’o einmal und fügte sofort hinzu: «Das heisst, dass man sie heilen kann. Und wir sind dazu da, diese Krankheit zu heilen.» Damit formulierte der 1939 in Kenya Geborene den Anspruch, den er als Autor für sein Schreiben hatte: der Schriftsteller als Lehrer seines Volkes. Diesem Anspruch sind bereits seine ersten literarischen Arbeiten verpflichtet, die Romane «Der Fluss dazwischen» und «Abschied von der Nacht».
Der erste Erfolg gelang ihm allerdings mit einem Theaterstück. «Der schwarze Eremit» wurde 1962 uraufgeführt. Hier zeigt sich Ngugi wa Thiong’o als so schonungslosen wie desillusionierten Mahner. Und als Kritiker der gesellschaftlichen Zustände in der Zeit des Übergangs Kenyas zur Unabhängigkeit.
Schon bald begann sich Ngugi wa Thiong’o zu fragen, welchen Sinn es habe, in Kenya die englische Sprache, Kultur und Literatur in den Mittelpunkt zu stellen. Und ob es nicht sinnvoller wäre, die ostafrikanische Lingua franca Kisuaheli, die mündliche Dichtung und die afrikanische Kultur zu pflegen und zu vermitteln.
Abkehr vom Englischen
Gegen Ende der siebziger Jahre legte er seinen englischen Vornamen James ab und nannte sich bei seinem afrikanischen Namen. Bei Auftritten im Ausland weigerte er sich, Englisch zu sprechen. Er nahm ein Stipendium des damaligen sowjetischen Schriftstellerverbandes an, was ihm im Westen zum Kommunisten stempelte.
1977 brachte er ein Theaterstück auf die Bühne, in dem er die Situation im unabhängigen Kenya beschrieb: das Elend der Armen, die Gier der Mächtigen, die sich schamlos bereichern. Das Stück wurde verboten, Ngugi wa Thiong’o verhaftet und für ein Jahr ohne Anklage ins Gefängnis gesteckt. Erst nach dem Tod Kenyattas kam er im Rahmen einer Amnestie frei.
Im Gefängnis schrieb er, heimlich und auf Toilettenpapier, den ersten modernen Roman in Kikuyu: «Der gekreuzigte Teufel». Mit ihm verabschiedete er sich ganz von der englischen Sprache. Diese Entscheidung war auch ein formaler Neuanfang: Immer stärker orientierte sich Ngugi wa Thiong’o an mündlicher Dichtung. «Der gekreuzigte Teufel» wie auch der auf ihn folgende Roman «Matigari» sind zum Vorlesen bestimmt. In Kenya wurden sie tatsächlich vorgelesen. In Kneipen, auf Märkten, an Bushaltestellen.
Der Protagonist des Romans «Matigari» gewann ein solches Eigenleben, dass der kenyanische Inlandgeheimdienst von der Existenz eines politischen Aktivisten ausging, der durch Kenya ziehe, um die Massen zu mobilisieren. Oberste Stellen forderten seine unverzügliche Verhaftung. Als sich herausstellte, dass es eine literarische Fiktion war, verbot man das Buch.
Von Dickens zu Ionesco
Danach schwieg Ngugi wa Thiong’o für lange Zeit. Erst 2004 erschien das nächste Buch. In Kenya wurde es totgeschwiegen. Die Übersetzung ins Englische brachte ihm Beachtung. «Wizard of the Crow» («Herr der Krähen») ist ein Roman über die Fehlentwicklungen im subsaharischen Afrika seit der Unabhängigkeit. Das Kenya der 1980er Jahre unter der Diktatur von Daniel arap Moi wird hier zur Folie für das gesamte Afrika der Unabhängigkeit.
«Herr der Krähen» ist ein grosser Wurf, der die messerscharfe, kritische Beobachtung der Wirklichkeit in eine literarisch souveräne Analyse umsetzt. Meisterhaft verschränkt Ngugi wa Thiong’o die Erzählstränge, holt weit aus, fabuliert mit hinreissendem Witz, kurvt von Dickens über Márquez zu Kafka, Soyinka und Ionesco und hat die ganze Welt in seiner Feder.
Ama Ata Aidoo, die Grande Dame der ghanaischen Literatur, hat einmal gesagt: «Da sagen sie immer, der Roman sei eine dem afrikanischen Kontinent fremde Gattung, die wir uns erst aneignen müssten. Was für ein Unsinn: Afrika hat sich schon vor Tausenden von Jahren Romane erzählt.» Ngugi wa Thiong’o stand in dieser Tradition. Mehrmals galt er als Anwärter für den Nobelpreis. 2009 wurde er für sein Lebenswerk für den Man Booker International Prize nominiert. Nun ist er 87-jährig im amerikanischen Gliedstaat Georgia gestorben.
Thomas Brückner hat seit 2006 einen Roman und drei autobiografische Werke von Ngugi wa Thiong’o ins Deutsche übertragen.