Samstag, März 15

Jude Lartey Für Nzz

In den USA diskriminiert, suchen immer mehr Afroamerikaner in Afrika ein neues Zuhause. Ghana heisst sie willkommen. Aber dann fangen die Probleme erst an.

1. Ein Name

An einem Donnerstag im Herbst fährt ein Minibus über eine holprige Strasse und hält in einem Dorf in Ghana. Eine Gruppe Menschen steigt aus: sechs Afroamerikaner, ganz in Weiss gekleidet, und ein Guide.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Die Touristen laufen langsam zwischen den niedrigen Häusern hindurch, Trommler begleiten sie. Da sind Tische aufgestellt, mit Schmuck, Tüchern und Taschen beladen. Verkäuferinnen reden auf die Touristen ein.

Die Touristen lächeln verlegen, sie wollen nichts kaufen, sie sind nicht deswegen hier.

Sie sind von weit her gekommen, von der anderen Seite des Meeres, aus Amerika, in dieses unscheinbare Dorf an der Küste Westafrikas. Es ist eine wichtige Reise für sie.

Jetzt sitzen sie auf Plastikstühlen in einem kleinen Raum. Ein Ventilator schiebt feuchte Luft umher, der Boden ist mit einem roten Teppich belegt, darauf zwei sich zugewandte Stühle. Am Kopfende des Raumes ein Thron. Noch ist er leer, zu seiner linken und seiner rechten Seite sitzen Männer und Frauen, Tücher um die eine Schulter geschlungen, die andere nackt.

In der Raummitte steht ein Mann, er trägt einen Hut mit Fellstücken und hält einen Speer. Er nennt sich Warrior-Chief und erklärt den Touristen, dass sie sich im Palast des Königs befänden. Der König werde sie empfangen. Und dann taufen. Niemals aber werde er sie direkt ansprechen. So seien die Regeln im Palast. Ausserdem sei es verboten, die Beine übereinanderzuschlagen.

Der König sitzt nun auf dem einen Stuhl in der Mitte des Raumes, und ein Tourist nach dem anderen setzt sich ihm gegenüber. Der König spricht ein paar Worte in seiner Sprache Fante, die der Warrior-Chief übersetzt. Dann hält er einer Touristin einen mit durchsichtiger Flüssigkeit gefüllten Plastikbecher an die Lippen und kippt ihn, so dass sie von der Flüssigkeit trinken muss. Nach jedem Schluck muss die Touristin sagen, was sie gekostet hat. «Wasser», «Wasser», «Wasser». Danach füllt er den Becher mit neuer Flüssigkeit. «Alkohol», «Alkohol», «Alkohol». Der König lächelt sanft und nickt.

Nach drei Schlucken Wasser und drei Schlucken Alkohol öffnet der Mann mit dem Speer ein Couvert und erklärt: «Du wurdest an einem Freitag geboren, also taufen wir dich auf den Namen Afia. Du bist eine starke Frau, eine fürsorgliche Frau, dein zweiter Name sei Dzimafo. Du bist Afia Dzimafo. Das ist dein ‹African name›! Willkommen zu Hause!»

Die Frau schluckt leer. Sie ist bewegt. «Thank you», sagt sie, «thank you.» Menschen, die auf den Stühlen an der Wand aufgereiht sitzen, klatschen. Eine Frau ruft begeistert «Wow!». Sie wird das bei jedem der folgenden Touristen mit ähnlichem Enthusiasmus tun. Es ist ihre Aufgabe. So wie alle hier ihre Aufgabe haben. Ein Ritual, von dem niemand so genau weiss, ob es alt oder neu ist, authentisch oder erfunden. Für die Touristen aber ist es echt.

2. Year of Return

400 Jahre bevor die Touristen bei einem König aus einem Plastikbecher Wasser und Alkohol schlürfen und einen neuen Namen erhalten, machen die ersten Sklaven die umgekehrte Reise. Gleich neben dem Dorf, in dem heute die Taufzeremonie stattfindet, steht eine Art Burg: Elmina Castle. Im Keller drängen sich Menschen, die Sklavenhändler im ghanaischen Hinterland gefangen haben. Sie führen sie durch eine Tür, die als «door of no return» berüchtigt werden wird, und verschiffen sie in die Neue Welt.

Über zwölf Millionen Menschen werden entwurzelt, auf einen neuen Kontinent verpflanzt, mehrere Millionen von ihnen sterben auf dem Weg oder im neuen Land, das ihnen keine Heimat ist. Aber noch mehr überleben, bekommen Kinder, gründen Familien. Vier Jahrhunderte später suchen ihre Nachfahren nach Antworten: Woher kommen wir? Wer sind unsere Vorväter? Und wer sind wir: Amerikaner, Afroamerikaner – oder doch Afrikaner?

2018 erklärt Ghanas Präsident das folgende Jahr zum Year of Return. In der amerikanischen Hauptstadt Washington erklärt er, an die Afroamerikaner gewandt: Kehrt heim! Nach Afrika! Wir brauchen euch!

Zehntausende machen sich nun auf den umgekehrten Weg wie ihre Vorfahren. Freiwillig und neugierig fliegen sie nach Ghana, das sie willkommen heisst als die verlorenen Söhne und Töchter. Mehr als eine Million Touristen zählt Ghana im Year of Return, unter ihnen Prominente wie der Sänger Stevie Wonder und der Schauspieler Samuel L. Jackson. Die meisten Touristen reisen in Gruppen und erkunden von Ghanas Hauptstadt Accra aus die sogenannten Sklavenforts Elmina Castle und Cape Coast Castle an der Küste. Manche lassen sich in einer «naming ceremony» afrikanisch taufen. Dann kehren sie in die USA zurück.

Einige Tausende aber wollen bleiben. Sie lassen sich in Ghana nieder, weil sie hier etwas zu finden hoffen, was sie nie gehabt hatten: Wurzeln, eine Geschichte und eine Heimat, in der sie nicht wegen ihrer Hautfarbe auffallen und benachteiligt werden.

Was davon kann ihnen Ghana wirklich geben?

3. Rashad – ein ehrlicher König

Nachdem die Touristen den Raum verlassen haben, steht ein Mann gebückt und verloren im Audienzraum des Dorfes Iture. Rashad McCrorey sass während der Zeremonie bei den anderen Dorfältesten ein paar Meter vom Thron entfernt, in der Ecke des Raumes, als ob er nicht wirklich dazugehören würde. Dabei war die Zeremonie auch sein Verdienst.

McCrorey, 45 Jahre alt, ist ein grosser, schwarzer Mann mit grossen Augen, die immer etwas traurig dreinblicken. Er wuchs weit entfernt von Iture auf, in Harlem, New York, «Polo Grounds Projects, 155th Street, 8th Avenue, umgeben von Puerto Ricanern». In seinem Kinderzimmer hingen Plakate von Stars, so wie in vielen Kinderzimmern dieser Welt. Aber es waren keine Basketballspieler oder Rapstars, sondern Könige und Königinnen. Schwarze Könige. Da hing König Hannibal aus Westafrika, Königin Makeda, die als sagenumwobene Königin Saba in Äthiopien verehrt wird, und ein Bild der schwarzen Kleopatra. Sein Vater habe ihm vom alten Ägypten erzählt und von den westafrikanischen Reichen. «Ich wurde dazu erzogen, ein König zu sein, ich wurde dazu erzogen, zurück nach Afrika zu gehen.»

Während McCrorey seine Geschichte erzählt, ist er vom Palast durchs Dorf geschlendert, hat langsam eine Mauer aus riesigen Steinblöcken erklommen, die Iture vom Meer beschützen soll. Blickt McCrorey die Küste entlang, sieht er in einem Kilometer Entfernung die Umrisse des Sklavenforts Elmina. Schaut er ins Dorf, blickt er auf eine sandige, mit Plastikmüll übersäte Fläche. McCroreys Land, in Westafrika.

McCrorey ist dem Auftrag seines Vaters gefolgt. 2020 ist er ausgewandert und nach Afrika zurückgekehrt. Er kleidet sich in ghanaische Tücher, besitzt ghanaisches Land. Und ein König ist er auch geworden. Oder so etwas Ähnliches: McCrorey ist Itures Chief of Tourism – ein Titel, den die Einheimischen zwar für ihn erfunden haben, was aber das Prestige nicht schmälert.

In Harlem war McCrorey Partyorganisator. «Einer, den man kannte», sagt McCrorey, der Selbstvermarktung – ganz amerikanisch – etwas Natürliches findet. In Youtube-Videos, selbstverfassten E-Books und Interviews für CNN, MSNBC und andere grosse Fernsehsender hat er über die Rückkehrbewegung nach Ghana berichtet und ist zum Gesicht der afroamerikanischen Auswanderer-Community geworden.

Dabei begann seine Auswanderergeschichte eher zufällig. Nach seiner Scheidung verbrachte er Zeit in Ghana, dann kam die Pandemie, und McCrorey sass fest. «Afroamerikaner kommt nicht mehr aus Afrika weg – es war eine gute Geschichte. Also habe ich sie mir zu eigen gemacht», sagt er heute.

Ghana kannte McCrorey bereits von seinem Zweitjob als Reiseführer. Er hatte Touristengruppen zu den Sklavenforts geführt und von den «naming ceremonies» erzählt, die damals in kleinerem Rahmen stattfanden. Nach der Pandemie kamen Touristen wieder, und McCrorey, inzwischen von Accra nach Iture gezogen, erkannte, welches Potenzial in diesem Dorf liegt: direkt neben den Sklavenforts gelegen! Perfekt für ein viel grösseres Business mit den «naming ceremonies». «Location, location, location», sagt McCrorey. «Ich sagte ihnen: Lasst uns zusammensitzen, und ich erkläre euch, wie man das richtig gross macht.» Die Dorfbewohner von Iture dankten es ihm und krönten ihn zum Chief of Tourism.

Früher wartete das Dorf darauf, dass afroamerikanische Touristen zufällig eine «naming ceremony» besuchten. Heute arbeitet es mit Reiseveranstaltern zusammen. Bis zu hundert Touristen pro Woche erhalten so nun ihren afrikanischen Namen. Für die Dorfbewohner ein gutes Geschäft, für die afroamerikanischen Touristen ein erster Schritt zur Wiedererlangung des eigenen Erbes.

Erbe, Wurzeln, Taufe – grosse Worte. Aber die Afroamerikaner suchen hier auch mehr als nur eine Antwort auf die Frage, woher sie einst kamen. Ihre Ahnen wurden nicht nur entführt und ihre Familien entwurzelt, man verwehrte ihnen auch, am neuen Ort, den USA, neue Wurzeln zu schlagen. So fühlt es sich jedenfalls für viele an, die in den USA Rassismus erleben. Geduldet, mehr nicht.

Die Taufzeremonie macht aus einem Afroamerikaner noch keinen Afrikaner, das behauptet auch McCrorey nicht. «Es sind drei Stufen. Die erste ist: ‹Okay, ich bin getauft, ich habe den afrikanischen Namen, das ist eine gute Erfahrung, von der ich zu Hause erzähle.› Die zweite ist: ‹Ich möchte mit diesem Dorf, meiner neuen Familie, in Kontakt bleiben, meist über Whatsapp, aber vielleicht kehre ich ja einmal zurück.› Und die dritte ist: ‹Ich wandere aus, lebe hier, trete der Familie bei.›»

Für McCrorey war die Taufe mehr als nur ein touristisches Abenteuer. Also habe er damit gewartet, bis er sich bereit gefühlt habe, einer Familie beizutreten. Was das genau umfasst? «Einmal pro Woche besuche ich das Dorf, verbringe hier ein, zwei Stunden, gehe einmal pro Monat ins Sklavenfort, besuche verschiedene Mitglieder der Familie.» McCrorey beschreibt eine To-do-Liste an sozialen Verpflichtungen, die er auf sich nimmt, weil er im Gegenzug mit dem Dorf eine Art Adoptivfamilie gefunden hat.

Klingt idyllisch. Zu idyllisch. «‹Kumbaya› ist das hier nicht!», sagt McCrorey. Er hat ein Buch geschrieben. «Die zehn Gebote für Heimkehrer». Es sind Lektionen eines Auswanderers für Auswanderungswillige. Das Buch ist eine Ansammlung von Geschichten des Scheiterns. Von Amerikanern, die glaubten, sie könnten mit 20 000 Dollar auswandern, und dann bankrott in die USA zurückkehren mussten. «Viele Leute kommen hierher und haben keine Ahnung, sie scheitern – und niemand redet darüber. Es gibt hier viele Horrorgeschichten. Ich werde euch die Wahrheit erzählen.»

4. Liebe und Betrug

Als Jeff Sanders vor knapp zehn Jahren das erste Mal Ghana besuchte, nahm ihn ein Freund mit zu einem Sklavenfort. Sanders erinnert sich, dass sie auf das Fort zugelaufen seien. Dann habe er eine Stimme in seinem Kopf gehört. «Run», sagte sie. Und Jeff Sanders rannte weg. Er hat das Sklavenfort nie besucht. Heute sitzt er jeden Tag in knapp 200 Meter Luftlinie Entfernung auf einem Plastikstuhl in seinem Coffee-Shop. Tritt er vor das Tor und schaut die Strasse hinab, kann er den Vorplatz des Forts sehen. «Es fühlte sich wie die Stimme meiner Vorfahren an», sagt Sanders, «das respektiere ich.»

Sanders, 73, pensionierter Ergotherapeut, stammt aus Oakland und lebt seit fünf Jahren in Ghana. Aber er kam nicht, weil ihm sein Vater einst von afrikanischen Königreichen erzählte. Oder weil er unter dem Rassismus in den USA so sehr gelitten hatte, dass er es nicht mehr aushielt. Sein bester Freund in Oakland war Ghanaer, Sanders besuchte ihn regelmässig in seiner Heimat, blieb jedes Mal etwas länger, irgendwann blieb er ganz. «Ich hatte eine Frau kennengelernt, und wir heirateten.»

Sanders sieht sich als jemand, für den Hautfarbe keine Rolle spielt. Aber Kulturen faszinieren ihn. Er sei auf der ganzen Welt herumgereist, habe überall gearbeitet, sogar in Somalia. Wenn er so erzählt, klingt er wie ein 25-jähriger Backpacker, der bei einem zu warmen Bier mit Reiseerlebnissen angeben will. «In Somalia hatte es so viele Fliegen. Sie fallen in deine Suppe, du wedelst sie weg. Irgendwann gibst du auf und sagst dir: Ohne Fliegen in der Suppe schmeckt die Suppe nicht.» McCrorey sitzt daneben und schüttelt den Kopf: «An die Fliegen hier werde ich mich nie gewöhnen.»

McCrorey wollte unbedingt, dass Sanders seine Geschichte erzählt. Er war auf die Idee gekommen, ihn vorzustellen, als er von etwas zu reden begonnen hatte, was ihn ausserordentlich zu beschäftigen schien: die Liebe.

Es ist eine der grossen Fragen, die McCrorey quälen und in der gesamten afroamerikanischen Auswanderergemeinschaft diskutiert werden. Lässt sich hier in Ghana wahre Liebe finden? Und wenn ja: Wie erkennt man sie? Oder wie McCrorey es formuliert: «Frauen – sie werden dich heiraten, sie werden deine Kinder gebären, aber tief drin musst du dich fragen: Meinen sie es wirklich ernst?»

Woher die Zweifel rühren? Darüber zu sprechen, findet McCrorey heikel.

«Sprich es aus!», herrscht ihn Sanders an.

«Erinnerst du dich an Small G?», fragt McCrorey.

Sanders schüttelt den Kopf.

«Das war ungefähr 2020. Small G kam zu Geld, er hatte eine Freundin, an einem Abend gingen sie zusammen aus, als sie zurückkamen, war das Geld weg, aber nichts in seiner Wohnung war zerstört. Die Diebe hatten genau gewusst, wo das Geld war. Woher wussten sie es?»

Die zwei Amerikaner erzählen sich nun gegenseitig Geschichten von anderen Amerikanern, denen Ghana kein Glück gebracht hatte. Amerikaner, die Land gekauft und auf den Namen ihrer Ehefrauen registriert hatten, weil diese Ghanaerinnen waren. Dann seien die Amerikaner plötzlich gestorben.

«Vergiftet? Vielleicht.» Sicher ist: «Männer sterben, amerikanische Männer sterben», lamentiert McCrorey. Die Geschichten haben ihn misstrauisch werden lassen. «Wir kommen zwar von einem gesegneteren Ort, einem Ort, der mehr Technologie hat und so weiter, aber der durchschnittliche Ghanaer ist gerissener als der durchschnittliche Amerikaner. Ja, listiger.» Das klingt rassistisch, aber es zeigt vor allem seine Ratlosigkeit ob einer überraschenden Entdeckung: Gleiche Hautfarbe bedeutet noch lange nicht Zugehörigkeit. «Sie sehen mich immer noch als schwarzen Amerikaner. Nein, das ist falsch. Sie sehen mich als weiss.»

Sanders pflichtet ihm bei. «Die Familie meiner Frau fragt sie jeweils: ‹Wie geht es deinem weissen Mann?›» Anders als McCrorey hat er sich auf eine Beziehung mit einer Ghanaerin eingelassen, mit ihr eine Familie gegründet, den Coffee-Shop eröffnet, sie kocht, er unterhält die Gäste. Woher er weiss, dass die Liebe echt ist? «Ist mir egal. Das ist meine vierte Ehe. Drei Ehen in den USA haben nicht funktioniert. Diese hier funktioniert. Ihre Familie akzeptiert mich, ich akzeptiere ihre Familie. Ich will, dass mein Leben auf eine bestimmte Art und Weise läuft. Dinge, die klappen – das ist eine Form von Liebe.» Er zeigt auf einen Ventilator. «Der Strom, der diesen Propeller antreibt – das ist Liebe.»

Vielleicht ist das der Pragmatismus, den einen drei gescheiterte Ehen lehren. Aber Sanders kam auch nicht nach Ghana, weil er das Paradies suchte. Sanders kam, weil er in seinem Leben dem Zufall keinen Widerstand leistet. Ein 73-jähriger kalifornischer Go-with-the-flow-Hipster, der «den Ghanaern jetzt zeigt, dass sie hier phantastischen Kaffee anbauen und auch selber trinken können!»

McCrorey hingegen ist zu jung für so viel Abgeklärtheit. Als er nach Ghana kam, suchte er wenig – und fand viel. Er wurde Chief, kaufte Land, wurde Teil einer Dorffamilie. Aber was ist das alles, wenn man es nicht mit jemandem teilen kann?

Es ist dunkel geworden im Coffee-House. Sanders schliesst, und auch McCrorey geht nach Hause.

McCrorey lebt nicht im Dorf Iture selbst, sein Stück Land hat er nie bebaut. So hält er seine Adoptivfamilie auf Distanz. «Es wäre zu stressig. Sie bedrängen mich zu sehr.»

Stattdessen hat er sich zehn Minuten von Iture entfernt, auf der anderen Seite der Hauptstrasse, ein Haus gemietet. Das Erdgeschoss ist unbewohnt, McCrorey lebt im ersten Stock, allein. Von dort überblickt er die Mauer, die das Grundstück umfasst, und die Maisstauden. Ruhe findet er auch hier nicht wirklich. «Ich wohne zwar oben, damit mir niemand ans Fenster klopfen kann. Aber nun werfen sie einfach Dinge hoch ans Fenster.» Ist das ein Zuhause – oder eher ein Versteck?

5. Das Paradies? Ein Think-Tank und Kanye

Ausgerechnet in Las Vegas hat Steve Cokely junior den Sinn seines Lebens gefunden. 2016 besuchte er das Konzert eines Rappers aus seiner Heimatstadt Chicago, der zum Superstar geworden war und nun auf einer beweglichen Bühne über den Köpfen von 20 000 anderen Zuschauern schwebte. Steve Cokely blickte hoch und sah in den Augen Kanye Wests eine Leidenschaft flackern, die ihm selbst fehlte.

Cokely, damals Anfang 30, war beeindruckt. Er besass mehrere Autos und hatte als Mitarbeiter der Stadtverwaltung Chicagos gut verdient. Aber nun fragte er sich: «Was trage ich eigentlich bei zu dieser Welt?» Zurück im Hotel nach dem Konzert, sei er lange wach gelegen, einige Wochen später sass er im Flugzeug nach Ghana. Ein Rückflugticket hatte er nicht.

Acht Jahre ist das her, Cokely ist immer noch in Ghana und erzählt diese Geschichte im Stil eines Predigers, der jeden Satz für gleich wichtig hält und ihn laut und knatternd in den Raum schreit. Er tigert dabei durch eine ovale Halle, neben deren Eingang steht: «Black Think Tank». Ein paar Laptops liegen auf Tischen, an der Wand hängen Bilder, die Cokely gemalt hat. Er nennt sie «abstrakte Graffiti»: viele geschwungene Linien, noch mehr Dreiecke, Kreuze und immer wieder Pfeile. Darauf Slogans wie: «Sie schauen zu. Sie hassen es. Dann kopieren sie es.» Oder: «Frieden zu Hause, Krieg mit der Welt.»

Hier an diesem Ort hat Cokely gefunden, was ihm vor dem Konzertbesuch in Las Vegas fehlte. Cokely nennt es «das Projekt». Er hat sich vom Silicon Valley inspirieren lassen, wo kreative Menschen Neues schaffen – nur dass diese meist weiss seien. «Das Projekt» soll schwarze Menschen befähigen, zusammen Ideen zu entwickeln. Deshalb «Black Think Tank».

Das klingt abstrakt, und der Think-Tank sieht auch eher aus wie ein kaum je benutztes Internetcafé, aber alles wird klarer, wenn man weiss, dass Steve Cokelys Vision eingebettet ist in einen viel grösseren Plan. Der Think-Tank ist Teil des Pan-African Village, des ehrgeizigsten Projekts der Rückkehrergemeinschaft. Oder wie es ein anderer Bewohner sagt: «Das wichtigste Projekt überhaupt auf afrikanischem Boden.»

Während des Year of Return 2019 begann der oberste Chief des Dorfes Asebu, einige Kilometer von der Küste und den Sklavenforts entfernt, Land zu verteilen. Afroamerikaner sollten hier auf dem Boden, von dem ihre Vorfahren vor Hunderten von Jahren entführt worden waren, eine Heimat erhalten. Zwanzig Quadratkilometer, eine Fläche, auf der auch eine amerikanische Vorstadt Platz fände, schied der Chief dafür von der Gemeindefläche aus.

Es war ein Plan von grosser Symbolkraft. Könnten Afrikaner und ihre verlorenen Verwandten aus den USA hier gemeinsam etwas Neues erschaffen? Einen Ort, an dem zusammenfindet, was vor Jahrhunderten getrennt wurde, in Cokelys Worten ein «healing project» oder profaner: eine neue Stadt – mit den Annehmlichkeiten der amerikanischen Zivilisation, aber auf afrikanischem Boden?

Steve Cokely war einer der Ersten, die sich 2020 im Pan-African Village niederliessen. Zuvor hatte er eine Weile in der Hauptstadt Accra und auf einem Hügel im Westen Ghanas gelebt, wo er sich mit Taoismus und Buddhismus befasste.

Das panafrikanische Dorf wächst im Gras und aus den Feldern, zwischen denen Steve Cokelys Haus steht. Noch gibt es nur ein paar Dutzend Rohbauten und fertige Häuser, in denen bereits Rückkehrer leben. «Als ich hierherkam und begann, Backsteine zu schichten, war niemand anders hier», sagt Cokely. «Es war Busch.» Cokely bezahlte dem Chief 700 Dollar für sein Grundstück – und machte sich ans Werk.

Steve Cokely junior stammt aus einer Familie, die sich mit politischen Visionen auskennt. Seine Mutter gehörte zu den Black Panthers, radikalen schwarzen Aktivisten, die predigten, Afroamerikaner könnten frei sein, wenn sie ihre eigenen Gemeinschaften in Abgrenzung von der weissen Mehrheit schüfen. Cokelys Vater, Steve Cokely senior, war in den 1980er Jahren Assistent des Bürgermeisters von Chicago. Er verlor seinen Job, weil er die These verbreitete, jüdische Ärzte hätten das HI-Virus gezüchtet, um einen Genozid an Afrikanern zu verüben. Er zog daraufhin als Vortragsreisender durch das Land, sprach über die CIA, die Ermordung von Martin Luther King, über Israel – und erlangte Bekanntheit als «Pate der afroamerikanischen Verschwörungstheorie».

Steve Cokely junior sieht seinen «Black Think Tank» in Ghana auch als eine Form, seine Eltern zu ehren und ihr Erbe nach Afrika zu tragen. Indem er hilft, eine Gemeinschaft von freien schwarzen Menschen zu errichten. Er sagt: «Es war nicht so, dass mich in den USA ein weisser Polizist im Auto gestoppt hätte, dass ich gezittert hätte vor Angst, erschossen zu werden, und deshalb nach Afrika ausgewandert bin. Meine Geschichte ist: Ich will selber etwas schaffen. Meine Leute ermächtigen. Unsere Kultur voranbringen.»

Das ist nicht immer einfach, denn der westafrikanische Busch ist – obwohl er inzwischen 23 Grundstücke im Pan-African Village angehäuft hat – nicht Cokelys natürliche Umgebung. «Ich bin kein ‹country boy›», sagt er. In Chicago sei alles schon «da gewesen, die Gehsteige, die Strassenlampen». Hier dagegen, im panafrikanischen Dorf, müsse alles von Grund auf geschaffen werden. Es ist auch ein Kampf. «Wie in Vietnam», sagt Cokely, «Guerillakrieg, ein komplett neues Terrain.» Steve Cokely sieht sich als Pionier, hier, im wilden Westen Afrikas. Er hat ein eigenes Wasserloch und ist stolz darauf.

Andere hier sehen Steve Cokely nicht als Pionier. Sie sehen ihn als Siedler.

Samuel Kumi zum Beispiel, ein Bauer aus Asebu, dem Dorf neben dem panafrikanischen Projekt. Von einem Hügel am Dorfrand sieht er das erste Dutzend fertiger Häuser aus den Feldern ragen, jenes von Cokely liegt nur einige hundert Meter entfernt.

Kumi trägt Shorts und Schlappen, keine Kleider für die Feldarbeit. Denn seine Felder hat er verloren. Er kann weder Mais noch Cassava pflanzen. «Sie haben uns das Land weggenommen, es gerodet und uns keinen Penny dafür gegeben», sagt Kumi. Der Bauer, 49, Vater von sechs Kindern, sagt, der Chief habe Land vergeben, das nicht ihm gehört habe, sondern Familien wie den Kumis, die den Boden bestellt hätten. Mehr als fünfzig Bauern hätten ihr Land verloren.

Der Chief bestreitet nicht, dass dort, wo das Pan-African Village entsteht, einst Dorfbewohner Landwirtschaft betrieben hätten. Doch er sagt, die wenigen, die Land bestellt hätten, seien entschädigt worden. In einem Interview mit dem amerikanischen Radiosender NPR hat der Chief sein Projekt des panafrikanischen Dorfes so begründet: «Diese Leute sind ursprünglich aus Afrika, und in Afrika haben alle das Recht auf ein Stück Land.»

Kumi und andere Bauern sind vor Gericht gezogen. Der Prozess läuft. Kumi sagt, das Gericht habe verfügt, dass im Pan-African Village vorerst nicht mehr gebaut werden dürfe. Doch die «Panafrikanisten» – so nennt er sie – hielten sich nicht daran. Kumi spielt auf seinem Handy verwackelte Videos ab. Sie zeigen ihn und andere Bauern vor den Häusern im Streit mit Amerikanern. «Sie haben unser Land gestohlen», beschwert sich einer der Bauern bei Polizisten, die in einem Video zu sehen sind.

Samuel Kumi geht nicht mehr zu den Häusern. Er sagt: «Sie haben damit gedroht, mich und meine Familie zu erschiessen.»

Es ist nicht einfach, die Vorwürfe zu überprüfen. Die Häuser, die laut Kumi auf seinem Land stehen, haben Elektrozäune, vor manchen wachen Hunde. Sie sehen aus wie Häuser in amerikanischen Vorstädten, nur dass um sie herum keine Vorstadt ist, sondern Mangobäume und grüne, überwucherte Hügel. Bei dem Haus, dessen Besitzer Kumi gedroht haben soll, öffnet niemand. Bei einem anderen Haus sagen ein Mann und eine Frau, sie seien nur zu Besuch. Kumi sagt, das sei nicht wahr.

Die Idee des panafrikanischen Dorfes klang bestechend: Die Nachfahren von Sklaven erhalten 400 Jahre später Land an dem Ort, aus dem ihre Vorfahren gerissen wurden. Und bekommen damit auch endlich ein Zuhause. Verbrüderung zwischen Afroamerikanern und Afrikanern, zwischen Leuten wie Steve Cokely und Samuel Kumi. Historische Wiedergutmachung. Heilung.

Aber schon im Wilden Westen Amerikas galt: Nur selten war das Siedlerland wirklich unberührt. Wo jemand Land nahm, musste ein anderer weichen.

6. Gespaltene Diaspora – Money, Healing and Pain

Wenn der Tourismusminister McCrorey durch sein Dorf schlendert, zeigt er lässig auf Gebäude, Landstücke und Bauruinen. «Da müssen wir das Gemeinschaftsbad verlegen, sie haben mir noch nicht den neuen Standort gezeigt – und hier kommt das neue Community-Center mit Computerraum hin – aber noch fehlt das Geld.» Dann winkt er einer Gruppe Frauen, die unter einem unfertigen Busunterstand am Boden sitzen und Essen verkaufen, und sagt stolz: «Ich habe ihnen versprochen, beim Bau eines Restaurants zu helfen.» Dann ruft er ihnen laut zu: «One day! One day soon!»

Wer ist Rashad McCrorey wirklich: Tourismus-Chief oder Bauminister? Entwicklungshelfer? Oder einfach eine wandelnde Geldquelle, weil er aus Amerika stammt? Tatsächlich vergeben die Dörfer hier auch den Titel des Development Chief, aber McCrorey winkt ab: «Den verleihen sie ausgewanderten Amerikanern, weil sie denken, die hätten Geld. Und wenn ein Neuer auftaucht, der mehr Geld hat, dann nehmen sie dir den Titel weg und ersetzen dich.»

Das ist ihm bis jetzt nicht passiert. Aber er hat ja auch geliefert. Die Taufzeremonien wurden ein einträgliches Geschäft. Für McCrorey, der pro Tourist 4 Franken und damit pro Woche bis zu 400 Franken verdient. Aber auch für das Dorf. Eine 84-jährige Frau sagt: «Wir hatten nur Lehmhäuser. Nun ist alles aus Zement. Leute wie Rashad [McCrorey] haben drastischen Wandel gebracht.» Ein 67-jähriger Mann pflichtet ihr bei: «Die Leute aus der Diaspora beeinflussen, wie wir reden und uns anziehen. Wir haben nun komplette Modernisierung. Unser Englisch ist auch formeller geworden, wir sprechen nun höflich wie sie.»

Das klingt so, als ob die Afroamerikaner den Afrikanern die Zivilisation gebracht hätten – ein Eindruck, den McCrorey unbedingt vermeiden will. «Das kann man so gar nicht sagen», meint er und korrigiert die Dorfbewohner. Es ist ein Moment, in dem er nervös und unzufrieden wirkt, als ob ihn die eigene Rolle in dieser Geschichte erschöpfte.

Es ist ja auch eine kaum zu verarbeitende Erfahrung. McCrorey beschreibt die Auswanderung nach Afrika als Moment, der die Identität jedes Afroamerikaners zwar verändert – nur anders, als er es sich in den USA vor der Abreise vorgestellt hatte: «Wenn du landest, ist es überwältigend. Alles ist schwarz, schwarze Menschen auf Plakaten, schwarze Menschen im Fernsehen. Kein Rassismus, keine Diskriminierung. Und plötzlich merkst du: Jetzt, wo die systematische Unterdrückung wegfällt, musst du dich mit dir selbst beschäftigen.»

Das klingt fast schon so, als hätte die Diskriminierung in den USA auch nützliche Seiten gehabt, weil sie immerhin Identität stiftete. Man gehörte zusammen – ob man wollte oder nicht. Und man wusste, wer man bestimmt nicht ist: Teil der amerikanischen weissen Mehrheitsgesellschaft.

Ghana, das Motherland, hätte den Afroamerikanern eine positive Definition liefern sollen. Stattdessen ist da mehr Verwirrung. Die für viele vielleicht unangenehmste Erkenntnis: dass sie, ausgerechnet jetzt, wo sie unter Ihresgleichen zu sein glauben, merken, wie amerikanisch sie trotz allem sind.

Steve Cokely, der Black-Panther-Nachfahre, der in Ghana seine Bestimmung gefunden haben will, sagt: «Manchmal fühlt sich das hier an wie das Klassentreffen einer Schule, die ich nicht besucht habe. Alle umarmen sich, schütteln sich die Hände, sie singen ihre Lieder zusammen. Die Party ist der Hammer, aber ich war nicht an dieser verdammten Schule. Manchmal fühle ich mich selbst in einem Raum voller Leute einsam.»

Und Jeff Sanders, der Liebespragmatiker, fasst nüchtern zusammen: «Sie sehen uns hier als Weisse. Weisse in einem schwarzen Körper. Nichtafrikaner. Daran ist nichts falsch.»

7. Eine Botschaft

In der Hauptstadt Accra findet sich in einem weiten Garten das Grab des berühmtesten afroamerikanischen Auswanderers, der auch einer der ersten war. 93 Jahre alt war William E. B. Du Bois, als er 1961 auf Einladung des ghanaischen Präsidenten Nkrumah kurz nach der Unabhängigkeit Ghanas aus den USA umsiedelte; Du Bois hatte sich ein Leben lang für die panafrikanische Bewegung starkgemacht, zur Identität der Afroamerikaner, zu ihrer Kultur und der Frage, was sie mit Afrika vereint, publiziert und geforscht. Zwei Jahre später starb Du Bois, Nkrumah organisierte ihm ein Staatsbegräbnis.

Im selben weiten Garten steht auch das Gebäude der Botschaft der afrikanischen Diaspora. Die Botschaft sieht sich als Vertretung aller Afrikaner, die ausserhalb ihres Geburtslandes leben, einer riesigen, weltweit verstreuten Gemeinschaft. Es ist keine völkerrechtlich anerkannte Vertretung, aber die Botschafterin ist eine ausgewanderte Afroamerikanerin und ist international so gut vernetzt, dass diplomatische Offizialitäten zweitrangig sind.

In der Botschaft gibt es einen Raum, in dem auch Rashad McCroreys Buch aufliegt. Daneben hängen Schmuck und andere Souvenirs. Weil die prominenten Gäste wie jüngst US-Senator Hakeem Jeffries bei ihren Ghana-Besuchen oft keine Zeit hätten, Touristenmärkte zu besuchen, sagt eine Botschaftsangestellte. «Das ist meine eigene Schmucklinie», erklärt sie entzückt.

Gleich neben der Botschaft steht eine Mauer. An der Mauer sind Tafeln angeschlagen, und darauf sind Namen eingraviert. Es sind die Namen von Afroamerikanern, die verstorben sind, bevor sie ihre Reise nach Afrika antreten konnten. Gestorben, ohne jemals das Motherland besucht zu haben. Die Nachfahren können für die Verstorbenen diesen Makel ausmerzen. Mit einer Zeremonie, bei der der Name des Angehörigen an die Wand genagelt wird. Sie kostet 150 Dollar.

Exit mobile version