Murat Yakin ist an dieser EM ein Zocker mit System. Der Schweizer Coach geht wie am Pokertisch vor und hält auf einmal wieder gute Karten in der Hand. Welches Ass zieht Yakin vor dem Achtelfinal aus dem Ärmel?
Die Szene spielt Mitte März in einem Einkaufszentrum in St. Gallen: Treffen mit Giorgio Contini, der in jenen Tagen seine Arbeit als Assistenztrainer von Nationaltrainer Murat Yakin aufnimmt. Irgendwann geht es um die komplizierte Besetzung der linken Aussenbahn im neuen System des Schweizer Teams, der Name Dan Ndoye wird diskutiert. Es ist eine unkonventionelle Idee, weil Ndoye noch nie auf dieser Position gespielt hat. Dennoch nimmt man den Gedanken mit, schreibt ihn auf, erhält ungläubige Reaktionen.
16 Monate vorher: WM in Katar, Hintergrundgespräche mit Vertretern aus dem Schweizer Staff. Es geht um die Hitze in Doha, um die Fitness, der Name Fabian Rieder fällt, weil der junge Mittelfeldspieler die besten Umschaltwerte hat, also schnell von der Defensive in die Offensive und umgekehrt switchen kann. Rieder könnte mit seinen Fähigkeiten die unkonventionelle Besetzung am rechten Flügel im Vorrundenspiel gegen den Favoriten Brasilien sein. Man schreibt diesen Gedanken auf – und wird nicht ernst genommen.
Dan Ndoye hat die vier EM-Testspiele in diesem Jahr im linken Aufbau gespielt, Fabian Rieder an der WM 2022 gegen Brasilien am rechten Flügel.
Seit 2014 mit einer Bilanz wie Frankreich
Murat Yakin zwingt nicht nur Medienschaffende dazu, kreativ zu denken, mutig zu sein, das Undenkbare aufzuschreiben. Bei dieser Europameisterschaft gilt das mehr denn je. Nach dem starken 1:1 gegen Deutschland am Sonntagabend in Frankfurt hat die Schweiz mit einer aussergewöhnlichen Selbstverständlichkeit ungeschlagen die Achtelfinals erreicht. Zum sechsten Mal in Serie an einer Endrunde seit 2014 – nur Frankreich hat das auch geschafft.
Es ist eine famose Bilanz, die Ansprüche steigen. Vermutlich kommt es Yakin gar nicht ungelegen, gelang den Deutschen in der Nachspielzeit noch der Ausgleich – so absolviert die Schweiz den Achtelfinal nicht als Favorit gegen Serbien oder Dänemark. «Wir bleiben gerne Aussenseiter», sagte Yakin nach dem Unentschieden, das der deutsche EM-Favorit wie einen Sieg feierte.
Es heisst gerne, Murat Yakin sei ein Gambler. Wenn das so ist, dann ist er ein Zocker mit System. Er würde sich bestimmt auch an der zurzeit laufenden Poker-WM in Las Vegas wohlfühlen. Wobei: Im Grunde genommen ist Yakin nicht bloss Pokerspieler, sondern auch gleich noch der Dealer. Er verteilt die Karten – und hält nach dem desaströsen Herbst 2023 auf einmal selbst wieder ein starkes Blatt in der Hand.
Damals, es ist nur ein paar Monate her, stand Yakin heftig im Gegenwind, mehrere Medienhäuser schrieben, der Trainer habe keine Zukunft im Nationalteam, auch beim Fussballverband gab es Vorgesetzte, die Yakin loswerden wollten.
Im Poker und bei Murat Yakin ist jederzeit alles möglich. Man müsste das wissen. Eine letzte Karte auf dem River, wie es im Jargon heisst, kann alles verändern. Und manchmal hilft es im Leben auch, miteinander zu reden. Das haben Yakin und sein Captain Granit Xhaka in den vergangenen Monaten oft getan.
Dabei war das Verhältnis der beiden scheinbar irreparabel zerrüttet. Nun lobte Xhaka seinen Trainer nach dem 1:1 gegen Deutschland erneut, nannte ihn einen «grossen Taktiker», der immer gute Lösungen finde. «Die Mannschaft ist hungrig und hat in diesem Jahr eine komplett neue Mentalität», sagte Xhaka. Er präsentiert sich in diesen EM-Tagen fast schon beängstigend abgeklärt und ruhig, die erfolgreiche Vorrunde soll nur die Basis für weitere Grosstaten in Deutschland sein.
Another one 😎👌
Granit Xhaka was voted Man of the Match again! #natimiteuch #lanatiavecvous #lanaticonvoi #lanaticunvus #euro2024 pic.twitter.com/0w6fJQHw3a
— 🇨🇭 Nati (@nati_sfv_asf) June 23, 2024
Aktenzeichen XY ungelöst – so war das noch Ende letztes Jahr. Nun sind Xhaka und Yakin schon fast ein Herz und eine Seele. Zumindest sind sie Herz und Seele der Schweizer EM-Delegation. Xhaka tritt auf seiner Lieblingsposition überragend und dominant auf wie bei Bayer Leverkusen, in der Vorrunde wurde er zweimal zum «Man of the Match» gewählt, er gehört in jedes All-Star-Team der Gruppenphase. Wie der Abwehrchef Manuel Akanji, das zweite Ass im Schweizer Team.
Ndoye und Rieder als Symbolfiguren für Yakins Denken
Es geht im Poker aber nicht nur darum, gute Karten zu haben. Es geht um viel mehr, um Strategie und Bluffs, um Psychologie, Mut und Körpersprache und darum, die Position am Tisch richtig zu spielen. Es ist ein Geschicklichkeitsspiel mit einem gewissen Glücksfaktor.
Und hiess es nicht immer, Murat Yakin sei ein Glückskind?
Dan Ndoye und Fabian Rieder sind die perfekten Beispiele, um zu illustrieren, wie Yakin funktioniert. Er scheut sich nicht, Anpassungen vorzunehmen, die nicht nur Medienschaffende überfordern. Im Sturm spielte an dieser EM bisher mal Kwadwo Duah, mal Xherdan Shaqiri, mal Breel Embolo. Dan Ndoye wiederum wurde an der Endrunde dann doch nie links im Aufbau eingesetzt. Vielleicht waren die defensiven Mängel des Flügelspielers für Yakin zu ausgeprägt, eine Reihe weiter vorne kann Ndoye seine Unbeschwertheit und Schnelligkeit ideal ausspielen. So schwerelos und losgelöst, dass er gegen Deutschland ein Tor erzielte und dem Weltklasseverteidiger Antonio Rüdiger von Real Madrid mehrmals mühelos davonlief.
Ndoye und Rieder werden die Nationalmannschaft vermutlich über Jahre hinaus prägen. Murat Yakin hat das früh erkannt. Ndoyes Marktwert steigt gerade von Spiel zu Spiel um ein paar Millionen Franken, vielleicht wird er Bologna schon in diesem Sommer verlassen und zu einem grösseren Klub wechseln. Und Rieder, das wurde am Montag bekannt, absolviert die nächste Saison leihweise beim VfB Stuttgart, wie Bologna überraschend Teilnehmer an der Champions League.
Unser Neuzugang im Interview❗️Fabian Rieder spricht über seinen Weg in die Bundesliga, die #EURo2024 in Deutschland und seine besondere Verbindung zu VfB-Abwehrspieler Leonidas #Stergiou.
Zum Interview ▶️https://t.co/QiXBLHWMhm#VfB | #Rieder pic.twitter.com/RLI0rqQPpi
— VfB Stuttgart (@VfB) June 24, 2024
Fabian Rieder stand gegen Deutschland zum zweiten Mal in der Schweizer Startformation – wie damals in Doha gegen Brasilien. Obwohl er eine schwierige Saison in der Ligue 1 bei Rennes hatte, länger verletzt ausfiel und von vielen Beobachtern gar nicht erst an die EM mitgenommen worden wäre. Yakin weiss, was er von Rieder bekommt. Der 22-Jährige war am Sonntag gegen Deutschland – wieder am ungewohnten rechten Flügel – stabil, er bereitete das 1:0 vor, trat ballsicher auf, erledigte seinen Job. Wie Michel Aebischer, der als zentraler Mittelfeldspieler in der Vorrunde dreimal die Schweizer Problemzone links im Aufbau besetzte.
Bloss nicht die Karten überreizen
Es gibt grosse Trainer, die in bedeutenden Spielen der ganzen Welt beweisen wollen, wie grossartig sie sind. Josep Guardiola hat in Champions-League-Finals schon ausgesprochen merkwürdige Aufstellungen gewählt. Auch bei Murat Yakin ist es zuweilen ein schmaler Grat. An die WM 2022 nahm er nicht genügend Rechtsverteidiger mit, weil er dachte, er werde irgendwo im Kader schon einen Spieler finden, falls Silvan Widmer ausfallen sollte. Im Achtelfinal gegen Portugal war Widmer krank, und Yakin fand in Edimilson Fernandes einen Spieler im Kader, der als Rechtsverteidiger keinerlei Erfahrung hatte – und beim 1:6 total überfordert war.
Auch jetzt, an der EM 2024, fehlt ein weiterer Spieler mit dem Profil Widmers. Yakin zockt. Er muss das in Bestform tun. Kühl, überlegt, mutig – ohne die Karten zu überreizen. Für den Achtelfinal wird er einen Ersatz für den gesperrten Widmer finden müssen. Es gibt viele unkonventionelle Kandidaten, von Aebischer über Rieder und Leonidas Stergiou bis zu Renato Steffen – und Ndoye.
Nicht immer gehen Bluffs auf. Murat Yakin weiss Bescheid. Die Begegnungen, die seine Ära definieren dürften, kommen an dieser EM erst noch. Welches Ass zieht der Nationaltrainer im Achtelfinal aus dem Ärmel?