Dienstag, Oktober 1

Über ein Jahr nach der Räumung eines Waldstücks in Rümlang fällt ein Gericht ein erstes Urteil in dem Fall.

Plötzlich sind sie da. Im April 2023 besetzen Aktivisten ein Waldstück in Rümlang. Sie richten ein Camp mit Zelten, Baumhütten, Küche und Toilette ein. «Wald statt Schutt» nennen sie die Aktion. Ihr Ziel: die Abholzung des Waldstücks verhindern.

Das Areal soll für die Erweiterung einer Deponie gerodet werden. Die Aktivisten kritisieren, dadurch werde ein wertvolles Biotop zerstört. Die Deponie sei nur deswegen nötig, weil bewohnbare Wohnungen niedergerissen würden, um zum Beispiel Luxuswohnungen zu bauen.

Als die Polizei das Camp nach zwölf Tagen räumen will, halten die Besetzer sie stundenlang hin. Die Einsatzkräfte bieten schliesslich einen Wagen mit Drehleiter und Kletterspezialisten auf, um die Aktivisten aus den Bäumen zu holen.

Gruppe setzt sich zur Wehr

Nun, mehr als ein Jahr später, hat sich das Bezirksgericht in Dielsdorf mit dem Fall beschäftigen müssen. Beschuldigt sind drei Männer und sechs Frauen, die am Tag der Räumung im Wald waren. Manche sind erst Anfang zwanzig, andere schon Mitte dreissig. Die Aktivisten kommen nicht nur aus der Stadt Zürich, sondern auch aus anderen Landesteilen.

Die Gruppe wehrt sich gegen eine Busse wegen Gehilfenschaft zur Übertretung des Waldgesetzes. In Strafbefehlen hatte ihnen das Statthalteramt des Bezirks Dielsdorf vorgeworfen, sie hätten mit der Teilnahme an der Aktion bewusst eine nicht bewilligte Veranstaltung unterstützt. Dadurch seien die Pflanzenwelt und die Tiere des betroffenen Waldgebiets stark beeinträchtigt worden. Zudem seien für den Materialtransport Waldstrassen unerlaubterweise mit Motorfahrzeugen befahren worden.

Sieben Freisprüche und zwei Bussen

Das Bezirksgericht urteilt jedoch anders. Es spricht die neun beschuldigten Aktivistinnen und Aktivisten vom Vorwurf der Gehilfenschaft zur Übertretung des Waldgesetzes frei. Zwei der Besetzer, die sich während der Räumungsaktion noch in den Bäumen befanden, erhalten jedoch eine Busse von 100 Franken wegen Nichtbefolgens einer polizeilichen Anordnung. Sie müssen zudem einen Teil der Verfahrenskosten übernehmen.

Der Richter sagt bei der Urteilseröffnung: «Es gab durchaus strafbare Handlungen. Die vorgefundenen Bauten in dem Waldstück etwa sind strafbar gemäss Waldgesetz.» Dasselbe gelte für das Befahren von Waldstrassen. Die Aktion sei zwar friedlich verlaufen, sie habe jedoch auch einen umfangreichen Polizeieinsatz und Aufräumarbeiten nach sich gezogen. «Aber», sagt der Richter, «man müsste den Beschuldigten nachweisen, dass sie Holzhütten gebaut oder an der Planung für die Aktion beteiligt waren. Das ist in diesem Fall nicht erstellt.»

Belegt sei einzig die Präsenz der Aktivisten im Wald in Rümlang. Doch das allein reiche nicht aus für eine Verurteilung. «Man darf grundsätzlich im Wald verweilen. Das ist ein Grundprinzip.» Es sei bei den Beschuldigten völlig unklar, wie lange und wie sie sich überhaupt an der Aktion beteiligt hätten, sagt der Richter. «Es existieren keine Fotos und Spuren, die die Aktivisten identifizierbar vor der Räumung des Camps zeigen oder auf denen sie strafbare Handlungen begehen.»

Damit folgt der Richter der Argumentation der Verteidiger der Aktivisten. Diese hatten unter anderem geltend gemacht, dass nichts darauf hindeute, dass sich die Beschuldigten längere Zeit im besetzten Waldstück aufgehalten hätten. Blosser Aufenthalt im Wald sei nicht strafbar. Die Beschuldigten selbst erscheinen nicht vor Gericht, sie sind vom Prozess dispensiert worden.

In einer Stellungnahme bezeichnen die Besetzer den Entscheid des Gerichts als erfreulich. Die Anklage selbst habe jedoch problematischen Charakter. Es würden jene Leute beschuldigt, die auf ein Problem aufmerksam machten. «Das wahre Problem ist jedoch die Bauindustrie.» Das Urteil des Bezirksgerichts stimme sie hoffnungsvoll in Bezug auf die noch laufenden weiteren Verfahren.

Noch lange kein Ende der Geschichte

Mit dem Urteil von Dielsdorf hat die Geschichte allerdings noch lange kein Ende. Im Gegenteil: Der Prozess in Dielsdorf ist eigentlich bloss ein Nebenschauplatz. Denn der für die Aktivistinnen und Aktivisten kostspieligere Aspekt sind die Einsatzkosten der Polizei und die Betreibungen durch die Waldkorporation. Diese wollen den Besetzern die Kosten überwälzen.

Genau deshalb wird die Besetzung des kleinen Waldstücks nördlich von Zürich zum Präzedenzfall, an dem zwei grosse Fragen verhandelt werden: Wie weit geht das Recht auf freie Meinungsäusserung? Und muss die Allgemeinheit zahlen, wenn unbewilligte Protestaktionen teure Polizeieinsätze verursachen?

Die Besetzer von Rümlang haben Rechnungen von der Kantonspolizei zugestellt bekommen für die Räumung ihres Camps. Von den vierzehn Besetzern, deren Personalien die Polizei bei der Räumung des Camps aufnahm, bekamen die meisten eine Rechnung über je 800 Franken zugestellt. Jene drei, die sich in den Baumkronen stundenlang der Räumung widersetzten und damit einen aufwendigen Einsatz verursachten, sollen je 5000 Franken zahlen. Wie teuer der Einsatz insgesamt war, ist nicht bekannt, aber die Summe dürfte höher sein als die knapp 24 000 Franken, auf die sich die Rechnungen an die Waldbesetzer summieren.

Die Aktivistinnen und Aktivisten setzen sich gegen diese Praxis zur Wehr. Mit ihrem Rekurs sind sie jedoch im Mai bei der Sicherheitsdirektion abgeblitzt. Als Nächstes muss sich nun das Verwaltungsgericht mit der Angelegenheit beschäftigen. Die Aktivisten wollen für ihr Recht kämpfen. Durch alle Instanzen, wenn nötig bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Urteile GB 230 022 bis GB 230 031 vom 17. 7. 24, noch nicht rechtskräftig.

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