Sonntag, September 29

Die meisten Menschen möchten ihren Wohlstand mehren. Zur Not werden sie dafür fossile Rohstoffe verbrennen. Klimaschutz kann es also nur mit Wachstum geben – oder gar nicht. Ein Essay.

Wir haben lange über einem 1-Euro-Shop gewohnt. Man kann dort alles kriegen, Nagelscheren, Tupperdosen, Sekundenkleber, Haribos, Shampoo und Spielzeugautos, der Preis ist immer gleich. Jedes Mal, wenn wir mit unserem Sohn an dem Laden vorbeigehen wollten, blieb er stehen. Manchmal kauften wir ihm etwas, manchmal nicht, aber was wir auch taten, es endete im Streit. Meine Frau fand, wir könnten ja mal eine Ausnahme machen, ich fand, den Krempel brauchten wir nicht. Die meisten Spielzeuge waren nach einer halben Stunde kaputt, ich hielt das für Verschwendung.

Eines Abends schickte meine Frau mich noch mal runter mit dem Auftrag, ihr etwas zu besorgen. Ich war gerade fertig mit dem Einkauf und trat durch die Tür wieder auf die Strasse, da begegnete ich einer Kollegin, die Tüte vom Laden in der Hand. Sie schaute mich mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung an. Wir sind dann zum Glück bald umgezogen.

In unserem Freundeskreis gibt es viele, denen ein sparsamer Umgang mit Ressourcen wichtig ist. Viele haben kein Auto mehr, und wenn doch, fahren sie damit höchstens zum Einkauf oder zu den Grosseltern auf dem Land. Was früher der VW Golf war, ist jetzt das Lastenrad: Wer eines hat, ist Teil einer Avantgarde. Nur dass an erster Stelle nicht mehr die Freiheit steht, loszufahren, wohin man will, sondern die Entscheidung, sich im Einklang mit dem Planeten fortzubewegen.

Verzicht ist für die Leute in meinem Freundeskreis mehr als eine Notwendigkeit, um die Erde zu retten, er ist edel, ja sexy. Dieses Gefühl wirkt auch umgekehrt. Verschwendung ist mehr als nur moralisch falsch, sie ist abstossend. Wer sinnlos Ressourcen verbraucht oder auch nur in den Verdacht gerät, sie zu verschwenden, ist uncool. Deshalb war es so unangenehm, der Kollegin vor dem 1-Euro-Shop zu begegnen.

Im Plauderton über das Ende des Kapitalismus

Eines Abends schaute ich mit meiner Frau einen Vortrag der Wirtschaftsjournalistin Ulrike Herrmann vor dem Schauspiel Stuttgart an, auf den ich zufällig gestossen war. Er zog uns sofort in den Bann. Herrmann sprach über den Klimaschutz, aber so, wie wir es noch nie gehört hatten. Sie legte ihre Armbanduhr vor sich auf das Pult, strahlte die Zuschauer an, bedankte sich dafür, vor einem Theaterpublikum sprechen zu dürfen, und dann erklärte sie den Besuchern in aller Ruhe, warum ihre Art zu leben keine Zukunft mehr hat.

Herrmann redete nicht darüber, was passieren muss. Es war kein flammender Appell, keine Rede ins Gewissen. Die Moral blieb aussen vor. Sie erzählte einfach, was passieren wird, ganz von allein.

Ihr Gedankengang war schnörkellos: Deutschland muss schnellstens umstellen auf Ökostrom, um klimaneutral zu werden, dazu gibt es keine Alternative. Wie gewaltig diese Herausforderung ist, verdeutlichte sie mit einer Zahl. Die Windkraft machte damals gerade einmal 5,4 Prozent des Endenergieverbrauchs in Deutschland aus. Bei der Solarenergie war es ähnlich.

Das war alles, trotz der Hunderten von Milliarden von Euros, mit denen Deutschland die Erneuerbaren seit zwei Jahrzehnten fördert. «Daraus folgt etwas», sagte Herrmann, «das man sich in aller Härte klarmachen muss: Ökoenergie wird immer knapp und immer teuer sein. Das ist nicht etwas, das im Überfluss zur Verfügung steht.»

Nun kam ihre eigentliche schlechte Nachricht. Wenn Energie knapp bleibt, kann die Wirtschaft nicht mehr wachsen, wie es in den 250 Jahren seit der Industrialisierung der Fall war. Sie muss also schrumpfen. Herrmann sprach im Plauderton über das Ende des Kapitalismus, ihre Armbanduhr immer im Blick. Nicht, dass sie noch überzog, die Leute wollten ja noch ein Theaterstück sehen.

Keine Zukunft mehr für das Auto

Die verbliebenen Minuten nutzte Herrmann, um nüchtern darzulegen, was diese Schrumpfkur bedeutet. Die Menschen müssten zum Beispiel Abschied nehmen von Reisen mit dem Flugzeug. Dafür werde keine Energie übrig sein. Und zwar gar keine, sagte Herrmann, «egal ob es Kurzstreckenflüge sind oder Langstreckenflüge. Also, wenn wir hier wirklich klimaneutral werden wollen, dann ist das mit dem Fliegen vorbei, und zwar egal, ob es nach Bali geht, nach New York oder nur nach Mallorca.»

Herrmann sah auch keine Zukunft mehr für das Auto, und damit für die Automobilkonzerne, keine für Bankangestellte, PR-Berater und Messelogistiker. Wer in diesen Branchen arbeitet, ist schliesslich auf Wachstum angewiesen, und das würde ja bald enden.

Wir diskutierten lange über diesen Vortrag. Mich erfrischte einerseits die Ehrlichkeit. Mir kam es vor, als hätte zum ersten Mal jemand auf offener Bühne ausgesprochen, was ich seit meinen Recherchen zur Energiepolitik befürchtete: dass die Rechnung nicht aufging. Andererseits erschütterten uns beide die Schlüsse, die Herrmann daraus zog. So drastisch hatte uns noch niemand ausbuchstabiert, was Klimaschutz zu Ende gedacht bedeuten könnte.

In gewisser Weise wirkte der Vortrag aber auch befreiend. Der Verzicht für das Klima, der vorher dem Einzelnen aufgelegt war, ergab sich bei Herrmann automatisch. Er war nicht mehr mit einer persönlichen Entscheidung verbunden, sondern eine Folge von Energieknappheit, mit der man sich nur noch arrangieren musste. Herrmann tat etwas Geniales: Sie gab dem diffusen Gefühl, dass alle kürzertreten müssen, ein energiepolitisches Fundament. So machte sie die Entsagung zu einer Fügung des Schicksals.

Kurz darauf planten wir eine Urlaubsreise, nach Kos, «all-inclusive». Zwei Dinge blieben mir in Erinnerung. Das erste war die Schlange vor dem Büfett. Von wegen Cluburlaube sind unbeliebt. Wir unterhielten uns mit Polen, Rumänen und Türken. Viele machten zum ersten Mal eine solche Reise. Sie waren stolz darauf. Wir schämten uns eher dafür. Das zweite, was mir in Erinnerung blieb, war die Schlange am Flughafen auf der Rückreise.

Die Halle auf der griechischen Insel konnte nicht alle Urlauber auf einmal aufnehmen, sie war dafür nicht ausgelegt. Ein Bus nach dem anderen entlud seine Touristen, bis auf den Parkplatz staute sich die Masse. Ich stand mit meiner Familie in der Sonne, ein Gewirr verschiedenster Sprachen wehte über den Platz, und da ahnte ich, dass Verzicht für das Klima schwierig werden könnte. Jedenfalls, wenn man die Menschen vor die Wahl stellte.

Was Deutschland tut, ist das eine, dachte ich. Mag sein, dass die Deutschen für ein höheres Ziel Energiemangel in Kauf nehmen und sich mit einer schrumpfenden Wirtschaft abfinden. Aber dass es unsere Nachbarn tun werden, das hielt ich in diesem Moment, in der Schlange am Flughafen von Kos-Hippokrates, für ausgeschlossen. Die Touristen, die dort mit uns standen, hatten sich ihren Urlaub hart erarbeitet. Ihre gute Laune liess keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie wiederkommen würden, wenn nicht auf diese Insel, dann auf irgendeine andere, wenn nicht in ihr altes Hotel, dann in irgendein anderes der Tausenden Resorts in der Ägäis oder der Adria.

Welche demokratische Regierung sollte sie daran hindern? Sollte die polnische Regierung ihren Landsleuten erklären: Sorry, für solche Flüge ist die Energie zu knapp? Eher würden die Polen wieder Kommunisten an die Macht lassen, Hauptsache, sie versprachen, die Bürger mit dem Flieger verreisen zu lassen.

Wer wohlhabend ist, kann leicht verzichten

Sollte die griechische Regierung ihrer Bevölkerung mitteilen: Entschuldigung, aber Hotelurlaube gefährden das Klima, wir müssen die Resorts und die Flughäfen per Erlass schliessen, sucht euch im Sommer bitte alle eine andere Arbeit, ihr könntet doch wieder Schafe hüten? Es kam mir vollkommen weltfremd vor. Ich war mir sicher: Wenn man die Menschen in Europa vor die Wahl stellt, ob sie auf Flugreisen verzichten oder weiter Kerosin verbrennen wollen, dann werden sich die meisten dafür entscheiden, weiter Kerosin zu verbrennen. Dann werden sie Klimaschutz hintanstellen. Ich fürchtete sogar, dass viele sich gegen den Klimaschutz entscheiden, wenn man sie in aller Drastik fragt, ob sie ihren bisherigen Wohlstand erhalten wollen oder den Planeten.

Jeder kann sich vorstellen, was es bedeutet, das eigene Auto und die eigene Wohnung zu verlieren. Das geht ohne viel Fantasie. Es braucht aber schon mehr Vorstellungsvermögen, um sich auszumalen, dass wir eines fernen Tages auf einem unwirtlichen Planeten leben könnten. Die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen passiert schleichend, in manchen Regionen langsamer als anderswo, in einigen wird es sogar erst einmal angenehmer.

Ich dachte im Flugzeug länger über Verzicht nach. Wer wohlhabend ist, kann leicht verzichten. Es gibt dann ja genügend Alternativen. Es ist keine grosse Sache, dem All-inclusive-Urlaub am Mittelmeer zu entsagen, wenn die Eltern ein Ferienhaus in der französischen Riviera haben. Niemand braucht ein eigenes Auto, wenn er zur Not das von Freunden oder das der Grosseltern nehmen kann. Verzicht ist also ein Privileg. Wer weniger privilegiert ist, dem fällt es schon schwerer, für das Klima zurückzustecken.

In dem 1-Euro-Shop unter unserer alten Wohnung kauften häufig Menschen ein, denen man ansah, dass sie keine Spitzenverdiener waren. Vielleicht taten sie es ja aus genau jenem Grund: weil sie ansonsten nur schlechte Alternativen hatten. Sie hatten wahrscheinlich kein Geld übrig, um im Edelsupermarkt zwei Strassen weiter Shampoo und Spülung zu kaufen, sie brauchten das Billigshampoo zum Preis von einem Euro. Und wenn sie schon mal da waren, kauften sie für ihre Kinder eben noch eine Winkekatze für den gleichen Preis und eine Kinderschere für die Schule. Sie konnten froh sein, dass es in der Stadt wenigstens diesen einen Laden gab, in dem sie sich all diese Dinge ohne Probleme leisten konnten. Der Laden war für sie ein Geschenk, kein Übel.

Was der 1-Euro-Shop im Kleinen ist, ist der Flughafen im Grossen. Der 1-Euro-Shop verkauft Dinge für den Alltag, der Flughafen Dienstleistungen für die Ferienzeit. Natürlich muss niemand in einen Flieger steigen, um in den Urlaub zu fliegen. Schon Urlaub selbst ist ein Privileg. Trotzdem gibt es Parallelen. Ein Europäer, der mit der Chartermaschine zum Urlaub in der Hotelanlage flog, hatte vielleicht keinen Campingwagen im Hof stehen, mit dem er an die Ostsee fahren konnte.

Er hatte bestimmt auch niemanden in der Familie mit einem Ferienhaus an der Riviera. Er stand vor der Wahl, das Lastminute-Angebot anzunehmen und für ein paar Tage ins Dreisternehotel auf Kos zu fliegen oder zu Hause zu bleiben. Eine einfache Entscheidung.

Manchmal denke ich, dass in Deutschland zu selten getrennt wird zwischen der Moral und den Verhältnissen. Moralisch ist die Sache klar: Es ist schlecht, dass Flugreisen zulasten des Klimas so billig sind. Es ist schlecht, dass in China zulasten des Klimas jeden Tag Millionen Spielzeuge hergestellt werden, die in Europa nach ein paar Tagen im Müll landen.

Aber es ist nun einmal so, dass daran viele Menschen verdienen, die Reiseveranstalter vor Ort, die Hoteliers in der Ferne, die Spielzeughersteller in China, die Ladenbesitzer in Europa. Selbst diejenigen, die dafür ihr Geld ausgeben, profitieren. Alle gewinnen. Nur die Umwelt verliert. Die Menschheit kann diese Verhältnisse nicht nur ändern, sie muss es sogar.

Das weitere Wachstum auf der Welt ist gesetzt

Aber mit Moral allein kann man in einer Demokratie nichts erreichen. Dafür braucht man Mehrheiten. Ich war mir im Flieger nach Hause sicher, dass es für eine schrumpfende Wirtschaft und die daraus resultierende Kargheit in Europa keine Mehrheiten gab.

Ich fragte mich allerdings, wie das im Rest der Welt aussah. Die Folgen der Erderwärmung müssen ja vor allem die ärmsten Kontinente tragen, Afrika und Asien. Der Klimawandel bedroht dort ganze Landstriche, sie werden einfach zu heiss oder gehen langsam unter im Meer. Wem der Verlust der Heimat droht, der ist vielleicht eher bereit, auf Wirtschaftswachstum zu verzichten, dachte ich. Es ging hier schliesslich um die Existenz. Wen interessiert schon der Mercedes in der Garage, wenn sein Land im grönländischen Schmelzwasser versinkt?

Tatsächlich war die Sache dort aber sogar noch eindeutiger, wie mir ein Mitglied der Grünen erklärte. Es war Ralf Fücks, Vorsitzender des Zentrums Liberale Moderne. Fücks setzt sich schon seit mehr als zehn Jahren mit «Degrowth» auseinander und widerlegte all meine Überlegungen mit einem einzigen Argument: Das weitere Wachstum auf der Welt ist gesetzt. Es wird stattfinden, egal, was passiert. Es ist eine Art Naturgesetz. Im Moment leben 7,6 Milliarden Menschen auf der Erde, erläuterte er. Fachleute der Vereinten Nationen gehen davon aus, dass es bis zur Mitte des Jahrhunderts knapp zehn Milliarden sein werden.

Die meisten von ihnen werden in Afrika und Asien geboren. Ich versuchte mir klarzumachen, was das heisst. Es bedeutet, dass innerhalb von nur wenigen Jahren so viele neue Menschen auf der Erde geboren werden, wie 1950 auf der ganzen Welt lebten. In 25 Jahren kommen so viele Menschen auf dem Planeten dazu wie davor in einer Zeitspanne von 30 000 Jahren. All diese Menschen haben Bedürfnisse, sie brauchen Essen, Kleidung, ein Dach über dem Kopf.

Klimawandel? Haben wir von gehört

Die Nachfrage nach Gütern aller Art wird also steigen, so viel ist sicher. Schon darin verbarg sich ein gewaltiges wirtschaftliches Wachstum, ganz von allein. Es brauchte dafür keinen Aufschwung, wie man ihn im Westen kennt, keine boomende Wirtschaft, keine kauffreudigen Bürger. Die Menschen konnten in Armut leben, ohne Strom, Wasserversorgung und Strassen, trotzdem würde ihre Wirtschaft wachsen. Schon allein, weil sie Getreide anbauen und Vieh züchten, weil sie Milliarden neu hinzugekommene Menschen versorgen mussten.

Ich stellte mir vor, dass nun noch eine dynamische Wirtschaft dazukam. Angenommen, es gab einen Staat in der Region, der politisch stabil blieb. Er verlegte jetzt Strassen, damit Händler ihr Getreide in abgelegene Regionen bringen konnten. Dann kamen die Handwerker, dann die Kaufleute. In einigen Häusern gab es bald fliessendes Wasser. Bald darauf entdeckte die Regierung im Osten des Landes Kohlevorkommen, erschloss sie mithilfe von Krediten, und begann damit, Kraftwerke zu bauen. Die Bevölkerung war natürlich dafür, keine Frage. Die Wirtschaft brauchte Energie, und die Menschen wollten abends in ihren Häusern Licht haben.

Klimawandel? Haben wir von gehört. Und jetzt lassen Sie uns bitte darüber reden, wie wir den Kohlestrom in den hintersten Winkel des Landes kriegen.

Je länger ich darüber nachdachte, desto deplatzierter kam mir das Wort Verzicht vor. Wer arm ist, kann nicht verzichten. Er kann höchstens arm bleiben. Und diesen Menschen wollen wir weismachen, dass sie es für das Klima bitte schön für immer bleiben sollen? Dass sie nur noch Windräder und Solardächer bauen sollen, auch wenn deren Energie leider niemals ausreichen wird für das wirtschaftliche Wachstum, das sie just in diesem Moment aus der Armut befreite?

Ich war jetzt im globalen Massstab angelangt. Vom 1-Euro-Shop in Frankfurt zum Flughafen in Griechenland zum Kohlekraftwerk in Indien. Je weiter ich mich gedanklich aus Deutschland entfernt hatte, desto unrealistischer, ja vermessen kam mir die Idee vor, die Wirtschaft für das Klima zu schrumpfen.

Das gilt erst recht für all jene, die gerade dabei sind, sich aus den Fängen einer generationenübergreifenden Armut zu befreien. Sie werden ihre Wirtschaft antreiben, zur Not mit fossilen Rohstoffen. Wenn Wachstum und Klimaschutz tatsächlich nicht miteinander vereinbar sind, so wie Herrmann und Umweltaktivisten es sagen, dann ist die Erde dem Untergang geweiht.

Dies ist ein Auszug aus dem zweiten Kapitel des Buches «So rettet ihr das Klima nicht!» von Morten Freidel, stellvertretender Chefredaktor NZZ Deutschland. Es erscheint an diesem Donnerstag.

Morten Freidel: So rettet ihr das Klima nicht! Warum die Energiewende gescheitert ist und was wir jetzt tun müssen. Piper-Verlag, München 2024. 208 Seiten, 29,90 Fr.

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