Neu auf Deutsch

Mit der These, die italienische Küche sei noch keine fünfzig Jahre alt, brachte der Historiker Alberto Grandi das Gemüt Italiens zum Kochen. Nun ist die deutsche Fassung seines Buches «Denominazione di origine inventata» erschienen.

«Italien ist gemacht, jetzt müssen die Italiener gemacht werden» – mit diesem provokanten Zitat (1861) des Dichters Massimo d’Azeglio steigt Alberto Grandi in sein soeben auf Deutsch erschienenes Buch «Mythos Nationalgericht» ein. Während es damals, zur Einigung Italiens, schon schwierig gewesen sei, allen die gleiche Sprache und die gleichen Gesetze beizubringen, sei es praktisch unmöglich gewesen, die Italiener von denselben Speisen zu überzeugen.

Das, was wir heute unter «italienischer Küche» verstehen, habe nicht in althergebrachten Traditionen seine Wurzeln, schreibt der italienische Historiker, und auch nicht im Ende des 19. Jahrhunderts, sondern hauptsächlich in den 1970er Jahren. Mit seinen Thesen, hat er eine Welle der Entrüstung ausgelöst.

Vor sechs Jahren ist sein Buch unter dem Titel «Denominazione di origine inventata» auf Italienisch erschienen. Seither streitet sich das speisestolze Land darüber; selbst Vizeregierungschef Matteo Salvini schaltete sich 2023 ein.

Nun ist die deutsche Version «Mythos Nationalgericht» erschienen. Die Streitschrift wird wohl manch einen Sehnsuchtsitaliener in eine Sinnkrise stürzen. Über alle Zweifel erhaben sind Grandis Aussagen jedoch nicht.

Neuerscheinung

«Mythos Nationalgericht – Die erfundenen Traditionen der italienischen Küche»

Alberto Grandi, Harper Collins Verlag, 2024, 256 Seiten, ca. 31 Franken. (Bild: PD)

Ein Professor entzaubert Legenden

Tiramisu sei ein Industrieprodukt, und die Carbonara ähnele dem amerikanischen Frühstück. Und Pizza? Von der hätten die meisten Italiener bis in die 1950er Jahre noch nichts gehört, heisst es im Buch.

Alberto Grandi greift das an, worauf die Italiener so stolz sind wie kaum etwas anderes: ihre kulinarische Tradition. Wenn es überhaupt eine geben sollte, dann würde die sich auf «die gute Küche» beziehen, «Speisen für Päpste und Kaiser, von deren Existenz der allergrösste Teil der Bevölkerung Italiens nicht einmal etwas ahnte», weil diese «über Jahrhunderte hinweg aus Mangelernährten und Hungernden» bestanden habe.

Vielmehr sei es die schwere Wirtschaftskrise der Siebzigerjahre gewesen, die Italien erschüttert habe, schreibt Grandi. Sie habe die Nation dazu veranlasst, sich auf angebliche kulinarische Traditionen zu besinnen, die so nie existiert hätten. Seine Thesen formuliert er zugespitzt und aufheizend.

Alberto Grandi ist Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Parma, er hat die letzten Jahre seiner Karriere der Entlarvung von Mythen über die italienische Küche gewidmet und mehrere Bücher zum Thema geschrieben. In einigen der Passagen im aktuellen Buch bezieht sich Grandi auf Historiker, die meisten Aussagen aber beruhen auf den Ergebnissen seiner eigenen Forschung.

Er argumentiert anhand von fünfzehn Speisen, für die Italien berühmt ist: vom Lardo di Colonnata über den «echten», ursprünglichen Parmesan, der nur noch in Wisconsin hergestellt wird, bis zu Nutella. Vielen Speisen, wie wir sie heute kennen, schreibt er den Ursprung in den USA zu. Etwa die Pasta: Erst über den Umweg über Amerika und das dort reichlich vorhandene Hartweizenmehl sei diese auch in Italien so richtig populär geworden. «Die italienischen Emigranten schufen im Ausland, insbesondere in Nordamerika, einen Grossteil der italienischen Küche, die später nach Italien rückimportiert wurde», so die Analyse von Grandi. Eine solche Aussage muss erst einmal verdaut werden.

Dafür ist etwas verantwortlich, was meist zu kurz kommt, wenn es um Gastronomie geht: die Rolle der Massenauswanderung. Sie war für Grandi auch der Anlass, sich dem Thema der kulinarischen Geschichte Italiens zu widmen: Er stiess auf Dokumente seines Grossvaters, die belegen, dass dessen Brüder nach Brasilien und Argentinien ausgewandert sind. Gandi schreibt, die Mehrheit des italienischen Volks habe im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert nicht von Parmaschinken und Pasta alla Carbonara, sondern in Armut gelebt. Sie habe sich notdürftig von dem, was es gab, ernährt. In der Hoffnung auf ein besseres Leben strömten Millionen Italiener ins Ausland.

Besonders die Essgewohnheiten der italienischen Gemeinschaften in Nordamerika sollen sich geändert haben. Grund dafür sei die verbesserte wirtschaftliche Lage gewesen, die Zugang zu anderen Lebensmitteln ermöglichten. Hinzu kamen Elemente der Küche des Gastlandes und die Fusion regionaler Essgewohnheiten, die in der italienischen Heimat nie zusammengetroffen wären. Diese neue Art des Essens wurde mittels Briefen, ausgetauschten Rezepten und Besuchen in der Heimat nach Italien gebracht. Sie soll die Basis für die Küche gebildet haben, wie wir sie heute kennen.

Neapolitanische Pizza made in USA?

Zur italienischen Küche gehört Pasta al Pomodoro. Doch auch mit diesem Gericht räumt Grandi in seinem zugänglich und amüsant geschriebenen Buch auf: Pasta soll ursprünglich nahezu ausschliesslich mit den Fingern und ohne Sauce auf der Strasse gegessen worden sein. Die Tomaten und der heimische Esstisch seien erst Ende des 19. Jahrhunderts dazugekommen.

Gemäss Grandi ist es «schwer vorstellbar, dass diese neuen Gewohnheiten ausschliesslich auf einer inneren Entwicklung beruhten; wahrscheinlicher gelang den Nudeln der soziale Befreiungsschlag in Amerika», was sich dann auf das Ursprungsland übertrug. Einen Beweis für diese Aussage liefert er allerdings nicht.

Was die Italiener dann aber wirklich entrüstete und das grösste aller Donnerwetter auslöste, ist seine These, die Spaghetti Carbonara sei eine amerikanische Erfindung. So zumindest erzählt es der Provokateur Grandi gegenüber der Presse. Ein römischer Journalist habe ihn am Ende des Interviews aufgrund dieser Aussage sogar verprügeln wollen. Dabei widmet der Historiker diesem «traditionell römischen» Gericht doch nur zwei Sätze auf über 250 Seiten.

Aber eben, der Inhalt hat es in sich: Die Spaghetti Carbonara sei «ganz klar» ein amerikanisches Gericht, «zumindest was die Zutaten betraf, die von den amerikanischen Besatzungstruppen geliefert wurden», schreibt er. «Ich würde behaupten, dass sie nichts anderes sind als ein typisch amerikanisches Frühstück (Eier mit Speck), dem man Nudeln hinzufügte.» Auch diese Aussage lässt der Autor einfach so im Raum stehen. Gab es in Italien denn keine Eier und keinen Speck?

Alberto Grandis Buch bietet eine unterhaltsame Perspektive auf die Geschichte der italienischen Küche – ob nun 50-jährig oder 500-jährig. Man sollte sie aber nicht allzu verbissen ernst nehmen, sondern vielmehr geniessen und dabei etwas aufschnappen, das man vielleicht bei der nächsten Tavolata in die Runde werfen kann. Für Diskussionen sorgen Grandis Thesen bestimmt.

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