Mit harter Hand etabliert Kosovos Ministerpräsident die Souveränität Pristinas in den serbisch besiedelten Gebieten. Die westliche Politik gegenüber Belgrad bezeichnet er als naiv.
Er hat die Nachkriegsgeschichte Kosovos geprägt wie sonst kein Politiker seines Landes: Albin Kurti, Gründer der Bewegung Vetevendosje (Selbstbestimmung) und seit drei Jahren Ministerpräsident. Die Chancen stehen gut, dass er nach den Wahlen im Februar 2025 für weitere vier Jahre sein Land führt.
Dafür spricht das ansehnliche Wirtschaftswachstum von 6 Prozentpunkten. Auch die Auslandsinvestitionen sind im Vergleich zum bescheidenen Bruttosozialprodukt des 1,7 Millionen Einwohner zählenden Landes beträchtlich. Die Arbeitslosenquote fiel unter Kurti auf 10 Prozent.
Zur Popularität des 49-Jährigen trägt vor allem seine konfrontative Haltung gegenüber dem Nachbarn Serbien bei. Belgrad anerkennt die 2008 deklarierte Unabhängigkeit der vormaligen Provinz nicht. Fünf EU-Staaten, China und Russland sehen dies gleich.
Kurtis Vorwärtsstrategie bekommt weniger Belgrad zu spüren als die rund 90 000 Serben in Kosovo. Die serbische Bevölkerung (knapp 5 Prozent) lebt verstreut im Süden des Landes und im Norden in einem kompakten, an Serbien grenzenden Gebiet. Dort stellt sie die grosse Mehrheit der Bewohner dar.
In diesem Landesteil war der serbische Staat noch bis vor kurzem mit Verwaltungsstellen und Postämtern präsent und spielte als Arbeitgeber eine wichtige Rolle. Dem hat Kurti ein Ende gesetzt. Mit harten administrativen Massnahmen setzt er dort seit gut einem Jahr die kosovarische Souveränität durch.
Er liess im Norden Basen für die schwerbewaffnete Spezialpolizei bauen, schickte die Finanzkontrolle los und beschlagnahmte Gebäude, die ohne Pristinas Bewilligung gebaut worden waren. Der Gebrauch des serbischen Dinar wurde verboten und die kyrillisch beschrifteten serbischen Ortstafeln ausgewechselt. Nur noch das Schul- und das Gesundheitswesen sind de facto serbisch geführt.
Kurtis Vorgehen erbittert und verunsichert die Kosovo-Serben und irritiert die westlichen Schutzmächte. Letztere kritisieren, dass die Schritte «einseitig» vollzogen würden und nicht mit Brüssel, Berlin oder Washington abgesprochen seien. Doch Kurti lässt das kalt.
Serbien als Einfallstor für russischen Einfluss?
Diese Nonchalance gegenüber den mächtigen Protektoren seines Landes hat eine Geschichte. Es ist gleichzeitig die Geschichte von Kurtis politischem Aufstieg. So wie er in den 1990er Jahren als politischer Aktivist gegen die serbische Herrschaft kämpfte – wofür er zwei Jahre im Gefängnis sass –, wehrte er sich später gegen die westliche Nachkriegsordnung.
Er gründete 2005 mit einer kleinen Gruppe von Mitstreitern die Bewegung Vetevendosje, die sich für die Selbstbestimmung Kosovos und eine spätere Vereinigung mit Albanien einsetzte. Dazu musste die Herrschaft der Uno-Verwaltung abgeschüttelt werden, die 1999 nach dem Kriegsende einen pannenreichen Staatsbildungsprozess begonnen hatte.
Vetevendosje mobilisierte gegen die fremden Verwalter, Richter und Polizisten und erhielt zunehmend Rückhalt in der Bevölkerung. Das machte Kurti zu einem roten Tuch für die Botschafter der Westmächte in Pristina, die sich dort als eine Art Prokonsuln verstanden. Auch Verhandlungen mit Belgrad über den Status Kosovos lehnte Kurti kategorisch ab. Dass diese 2008 – unter amerikanischem Druck und gegen Serbiens Widerstand – in eine «überwachte Unabhängigkeit» mündeten, widerstrebte ihm. Er sagte damals im Gespräch: «Staaten werden nicht ‹gegeben›, sondern von den Völkern erkämpft.»
Was Kurti von vielen Politikern unterscheidet, ist sein intimes Verhältnis zur politischen Theorie. Sie dient ihm nicht bloss als intellektuelle Anregung, sondern prägt seine Weltsicht und seine Praxis. Früh studierte er die postkolonialen Theorien und las ihre Klassiker. Serbiens Souveränität über Kosovo seit dem Ersten Balkankrieg 1912 erscheint in dieser Perspektive als Kolonialherrschaft, der albanische Nationalismus dagegen als emanzipatorisch. Das 1999 folgende internationale Protektorat kritisierte Kurti als Fremdherrschaft unter neoliberalen Vorzeichen.
Zwei Jahrzehnte später ist die Kritik gemässigter im Ton. Der Westen, so Kurti an einer Veranstaltung der Schweizer Gesellschaft für Aussenpolitik, schätze Serbien auch heute falsch ein: Es sei ein Einfallstor für chinesischen und russischen Einfluss in Europa.
Das kann man auch anders sehen. Serbien kauft zwar chinesische und russische Rüstungsgüter, hat aber im August eine Milliardenbestellung für französische Rafale-Kampfflugzeuge aufgegeben. Präsident Aleksandar Vucic pflegt zu Washington, Brüssel und Berlin enge Beziehungen. Und dies, obwohl er in regimenahen Medien seine Nähe zu Russland und zu «Bruder Xi» zelebriert und das Brüsseler Sanktionenregime boykottiert.
Die Gunst des Westens hat sich Vucic erworben, indem er seit Russlands Überfall Munition im Wert von über 800 Millionen Euro an die Ukraine liefern lässt. Und mit der EU und Deutschland verbindet ihn eine sogenannte Rohstoffpartnerschaft: Die für die europäische Autoindustrie strategisch wichtigen Lithiumvorkommen in Westserbien sollen in Zukunft vom Rio-Tinto-Konzern abgebaut werden.
Wer schaut, was Vucic macht – nicht, was er sagt –, kann zu dem Schluss kommen: Serbien steht fest im westlichen Lager. Ist die Schaukelpolitik zwischen Ost und West also nur ein Schauspiel für das heimische Publikum? Und ebenso Vucics Behauptung, er habe Kosovo nicht aufgegeben?
Kurti widerspricht: «Keineswegs, Vucic führt den Westen bloss an der Nase herum. Die Elite, die das Land dominiert, hat das grossserbische Projekt nie aufgegeben. Es heisst jetzt nur anders, nämlich ‹serbische Welt›.» Gemeint ist damit der Zusammenschluss aller Serben in einem Land. Das würde die Zerschlagung von Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Kosovo bedeuten.
Trump und die neuen Risiken für den Balkan
«Man muss eben genau hinhören, was Vucic sagt», fährt Kurti fort. «Zum Beispiel, wenn es um den Südkaukasus geht.» Der serbische Präsident lobte 2023 Aserbaidschans Vorgehen bei der «Heimholung» von Nagorni Karabach. Das Gebiet hatte sich 1991 einseitig für unabhängig erklärt. Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew liess sich danach viel Zeit.
Er konzentrierte sich auf die Entwicklung der Wirtschaft und rüstete die Armee systematisch auf. Erst, als es die geopolitische Lage zuliess, schlug er los und holte das Gebiet zurück. Geduld, so Vucic, zahlt sich aus.
«Genauso», sagt Kurti, «möchte Vucic mit Kosovo verfahren. Auch er übt sich in strategischer Geduld, doch das Ziel bleibt die Revanche. Darauf müssen wir vorbereitet sein.»
Tatsächlich spekulieren in Belgrad manche darauf, dass mit Trumps Wahlsieg die Chance kommt, wenigstens den Norden Kosovos zurückzuholen. Ein Hoffnungsträger ist Richard Grenell. Der ehemalige Sondergesandte Trumps für den Westbalkan pflegt enge Beziehungen zu Belgrad und ist ein Kritiker von Kurti. Ist Trump ein Risiko für Kosovo?
Der Regierungschef beschwichtigt diplomatisch: Mit Präsidenten beider Parteien habe Kosovo gut zusammengearbeitet. 1999 sei es unter dem Demokraten Bill Clinton befreit worden, und George W. Bush, ein Republikaner, war Präsident, als Kosovo 2008 unabhängig wurde.
Wenn wieder rauere Zeiten auf den Balkan zukommen, wie steht es um die Pläne der frühen Jahre? Kommt die Vereinigung Kosovos und Albanien aufs Tapet? Nein, sagt Kurti, dafür sei jetzt nicht der Zeitpunkt. In einer Epoche von Grosskonflikten sei die nationalstaatliche Optik viel zu eng. Es gehe jetzt um Europa. Angesichts der russischen Bedrohung wünsche er sich vielmehr den Beitritt seines Landes zur Nato.
Ist das eine Absage an die Vereinigung? Nicht ganz. Vielleicht übt sich auch Kurti in strategischer Geduld.