Donnerstag, Oktober 3

Kosovos Regierungschef geht entschlossen gegen Serbiens Präsenz im Land vor. Die westlichen Partner befürchten eine Eskalation und rufen zu Verhandlungen auf. Der Balkan-Experte Marko Prelec erklärt, warum er eine Fortsetzung des Konfrontationskurses erwartet.

Der Konflikt zwischen Serbien und Kosovo ist auch 25 Jahre nach der Nato-Intervention ungelöst. Belgrad erkennt die Unabhängigkeit der einstigen Provinz nicht an und unterhält parallele Behörden und Institutionen für die Region. Kosovos Regierungschef Albin Kurti akzeptiert dies nicht und drängt Serbiens Präsenz entschlossen zurück: die Einfuhr serbischer Dinar wurde blockiert, serbische Postfilialen mussten den Betrieb einstellen. Ende August wurden nun fünf serbische Gemeindeverwaltungen geschlossen.

Besonders im serbisch besiedelten Norden Kosovos verursachen diese Schritte jeweils grosse Spannungen. Die westlichen Partner Kosovos, die seit der Unabhängigkeit immer starken Einfluss auf Pristina nahmen, verurteilen die Massnahmen, stehen ihnen aber scheinbar machtlos gegenüber.

Herr Prelec, wie steht es um die Fähigkeit der EU, zwischen Serbien und Kosovo eine Lösung auszuhandeln?

Der Dialogprozess befindet sich im Koma, ist aber noch nicht endgültig tot. Zumindest existiert ein Kanal, der im Ernstfall für eine Deeskalation genutzt werden kann. Dass vor den Wahlen in den USA neue Gespräche geführt werden, halte ich aber für sehr unwahrscheinlich.

Wie ist man an diesen Punkt gelangt? Immerhin gab es doch so etwas wie eine Kompromisslösung: Kosovo gesteht der serbischen Minderheit eine Teilautonomie zu, im Gegenzug legt Belgrad Pristina auf der internationalen Bühne keine Steine mehr in den Weg.

Kurti hat kein Vertrauen, dass der Dialog das gewünschte Resultat herbeiführt: Serbiens definitive Anerkennung von Kosovos Unabhängigkeit. Deshalb schafft er Fakten, indem er die staatliche Souveränität im Norden durchsetzt, wo immer er kann. Die Strategie ist erfolgreicher, als die meisten von uns erwartet hätten. Auch weil man sich nicht vorstellen konnte, dass ein Regierungschef in Pristina bereit ist, sich dermassen über seine westlichen Partner hinwegzusetzen.

In Washington oder Berlin sorgt das für einige Konsternation. Was kann der Westen tun, um auf Pristina einzuwirken?

In sicherheitsrelevanten Fragen kann die [Nato-geführte Schutztruppe] Kfor gewisse rote Linien aufzeigen. Im Streit um die Eröffnung der symbolisch wichtigen Brücke in Mitrovica ist das kürzlich geschehen. Darüber hinaus sind die Einflussmöglichkeiten aber gering. Kurtis Kurs ist im Land populär und hat dadurch auch eine demokratische Legitimation. Seit dem Vorfall von Banjska, als serbische Milizen kosovarische Polizisten angriffen, gilt das erst recht.

Hat die EU auch an Einfluss verloren, weil im westlichen Balkan niemand mehr an einen Beitritt glaubt?

Die Beitrittsperspektive war immer das Zuckerbrot des Westens auf dem Balkan. Dass dieses nicht mehr zieht, haben sich die Staaten der Region aber auch selber zuzuschreiben. Mit Ausnahme von vielleicht Montenegro erfüllen sie die Beitrittskriterien schlicht nicht.

Wie wird es nun weitergehen?

Kurti wird vermutlich auch die verbleibenden serbischen Institutionen wie das Schulsystem oder die Gesundheitsversorgung ins Visier nehmen. Das heisst nicht, dass über Nacht die serbischen Schulen geschlossen werden. Kosovo hat ja gar keine Lehrer, um auf Serbisch zu unterrichten. Aber man könnte als ersten Schritt eine engere Anbindung an Pristina verlangen, etwa mit der Forderung, dass Lehrerlöhne nur noch in Euro ausbezahlt werden.

Was beabsichtigt Pristina damit?

Auch wenn Belgrad das behauptet, glaube ich nicht, dass Kurti die Präsenz einer serbischen Bevölkerung in Kosovo grundsätzlich ablehnt. Er fordert aber ein ungeteiltes Bekenntnis zum kosovarischen Staat. Ein wie auch immer geartetes Zugehörigkeitsgefühl zu Serbien toleriert er nicht. Ich vermute, ihm schwebt langfristig ein Arrangement wie in Kroatien vor. Dort gab es ebenfalls eine substanzielle serbische Minderheit, die nach dem Krieg auf wenige Prozent der Bevölkerung geschrumpft ist. Diese Menschen haben heute gewisse kulturelle und politische Rechte. Eine Teilautonomie gibt es aber nicht und auch keine wirkliche Einflussmöglichkeit für Belgrad. Die Zugehörigkeit zu Kroatien wird nicht infrage gestellt. Aber Kosovo ist nicht Kroatien.

Das Problem liegt nicht nur in Pristina. Serbiens Präsident Aleksandar Vucic hält seinen Teil des Deals auch nicht ein und bekämpft Kosovos internationale Anerkennung weiterhin. Geht der Westen mit Belgrad zu pfleglich um?

Tatsächlich liegt der diplomatische Druck vor allem auf Pristina. Vucic positioniert sich sehr geschickt. Die Munitionslieferungen an die Ukraine etwa haben ihm viel Wohlwollen im Westen eingebracht. Hinzu kommt die Sorge in einigen europäischen Hauptstädten, Serbien an Russland zu verlieren, wenn der Druck auf Belgrad zu hoch wird. Dies halte ich für eine grundlegende Fehleinschätzung. In Belgrad hat man sich damit abgefunden, geopolitisch ein Teil des Westens zu sein. Vucic weiss, dass er auf gute Beziehungen zur Nato und zur EU angewiesen ist. Schliesslich umschliessen diese Organisationen sein Land. Der Preis eines ernsthaften Konfrontationskurses wäre sehr hoch.

Besteht also keine Gefahr einer neuerlichen Eskalation um Kosovo?

Nicht unmittelbar. Abhängig von den geopolitischen Rahmenbedingungen kann sich die Ausgangslage aber auch wieder verändern. Ich denke da vor allem an zwei Faktoren. Wenn der Krieg in der Ukraine mit einem wie auch immer gearteten Sieg Russlands endet, wäre der Westen gezwungen, eine gewaltsam herbeigeführte Grenzveränderung zu akzeptieren. Zusammen mit der Unsicherheit, die ein Wahlsieg Trumps für das amerikanische Engagement in einer europäischen Sicherheitsfrage wie Kosovo bedeutet, könnte dies mittelfristig zu einer Neubeurteilung in Belgrad führen.

Was wollen Sie damit sagen?

Der Westen begeht einen Fehler, wenn er die Bedeutung solcher ungelösten Konflikte unterschätzt. Es gibt eine Tendenz, die Politiker auf dem Balkan als korrupte und zynische Machtmenschen zu betrachten, die nationalistische Themen nur zum eigenen Nutzen bewirtschaften. Das ist zwar nicht völlig falsch, bedeutet aber nicht, dass diese Politiker nicht ernst meinen, was sie sagen. Vucic wird Kosovos Unabhängigkeit nie akzeptieren.

Marko Prelec verfolgt und analysiert seit mehr als drei Jahrzehnten die Geschehnisse im westlichen Balkan. Der in Yale promovierte Historiker arbeitete am Uno-Kriegsverbrechertribunal ICTY, leitete das Balkan-Projekt der International Crisis Group (ICG) und gründete eine eigene Denkfabrik. Zurzeit ist er als Berater für die ICG tätig.

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