Sonntag, November 24

Er wagte alles im Kampf für ein gerechteres Russland: In den Lebenserinnerungen zeigt sich Alexei Nawalny als Held zwischen Aufopferung und Selbstüberschätzung.

Ob Alexei Nawalnys Tod eine sinnlose Selbstaufopferung oder eine notwendige Vorbedingung für eine demokratische Wiedergeburt Russlands war, wird sich erst zeigen, wenn sein Peiniger nicht mehr im Kreml sitzt. Hegel spräche sich dezidiert für die zweite Option aus: Wenn Freiheit in Russland gedacht werden kann, dann wird Russland über lang oder kurz auch frei sein. Und wenn es in Russland jemanden gab, der Freiheit nicht nur dachte, sondern auch mutig ins Werk setzte, dann war es Nawalny.

Hegels Zeitgenosse Clausewitz würde hingegen nüchtern die erste Erklärung bevorzugen: Bei diesem ungleichen Duell konnte Nawalny nur die stumpfen Waffen der öffentlichen Meinung einsetzen, während Putin alle Ressourcen der Staatsmacht zur Verfügung standen. Allerdings war der Gesichtskreis der beiden Theoretiker beschränkt.

Hegel glaubte, dass die grösstmögliche bürgerliche Freiheit im preussischen Staat erreicht sei, und Clausewitz war blind für jenen Krieg, der nicht die Fortsetzung, sondern das innerste Wesen einer despotischen Politik ist. Die Endlichkeit der Zeit mahnte sich bei beiden Denkern unbarmherzig ein: Sowohl Hegel als auch Clausewitz starben im November 1831 an der Cholera, die damals in Deutschland grassierte.

Auch Alexei Nawalny wusste um die Knappheit seiner Lebenszeit. Er wagte enorme Einsätze und leistete den höchsten, als er wenige Monate nach dem Giftanschlag des Sommers 2020 nach Russland zurückkehrte. Gleichzeitig veröffentlichte er eine Video-Recherche über Putins korrupte Machenschaften und erreichte damit in kürzester Zeit über vierzig Millionen Zuschauer.

Ein gerechteres Russland

Nawalny rechnete damit, dass er mit dieser Kombination aus persönlichem Mut und direktem Angriff das Putin-Regime in den Grundfesten erschüttern würde. Allerdings erwies sich diese Erwartung als krasse Fehleinschätzung: Nawalny wurde direkt am Flughafen verhaftet und sofort mit einer Reihe von Gerichtsverfahren überzogen.

Bereits während der Rehabilitation in Deutschland hatte er mit der Niederschrift seiner Autobiografie begonnen. Auf seiner Odyssee durch russische Gefängnisse, die ihn von Moskau bis in den hohen Norden des Landes führte, stellte er den Text fertig, der nun in 26 verschiedenen Sprachen vorliegt. Unter dem provokativen Titel «Patriot» erzählt Nawalny seine Lebensgeschichte, die sich aus Schilderungen seiner Kindheit, Erinnerungen und Tagebucheinträgen zusammensetzt.

Die Lektüre des 560 Seiten starken Buchs hinterlässt ein zwiespältiges Gefühl. Auf der einen Seite imponiert Nawalnys unbedingter Wille, ein gerechteres Russland zu schaffen, auf der anderen Seite zeigt sich auch seine Neigung zur Selbstinszenierung in aller Deutlichkeit.

Mit dem Titel «Patriot» greift Nawalny eine Denkfigur auf, die bereits von Oppositionellen im Zarenreich und in der Sowjetunion geprägt wurde. Alexander Herzen und Alexander Solschenizyn betrachteten sich zwar als Regimegegner, aber gleichzeitig auch als überzeugte Patrioten. Die Voraussetzung für diese paradox scheinende Doppelrolle bestand in der Unterscheidung zwischen Staat und Vaterland.

«Ein gutes Volk mit einer schlechten Regierung»

Herzen und Solschenizyn stellten fest, dass sich Russland in einer inneren Okkupation befand: Die Regierung führte sich wie eine Besatzungsmacht im eigenen Land auf. Genau diese Diagnose stellt Nawalny auch dem Putin-Regime: Er hasse den russischen Diktator nicht in erster Linie deswegen, weil Putin ihn umbringen wolle, sondern weil er Russland die vergangenen zwanzig Jahre gestohlen habe. Für Herzen, Solschenizyn und Nawalny war klar: Ein wahrer Patriot muss gegen den Staat für das Vaterland kämpfen.

Allerdings tun sich bereits hier die ersten Risse in Nawalnys Argumentation auf. Immer wieder betont Nawalny, dass man es in Russland mit einem «guten Volk mit einer schlechten Regierung» zu tun habe. Dabei überschreitet er auch die Grenze zum Kitsch, wenn er vom zukünftigen Russland als einem «metaphysischen Kanada» träumt – einem reichen Land im Norden, das von lauter melancholischen Philosophen besiedelt ist.

Einmal versteigt er sich sogar zu der Aussage, die Russen seien «das wunderbarste Volk der Welt». Das wunderbarste Volk der Welt, das seinem Präsidenten sogar die Gefolgschaft nicht verweigert, wenn er einen Nachbarstaat überfällt? Das wunderbarste Volk der Welt, das sich kaum um Nawalnys Kampf gegen Korruption schert?

Gleichzeitig macht Nawalny aus seinen eigenen Ambitionen kein Hehl. Deutlich zeigt sich seine Selbststilisierung in der Schilderung seiner Jugendstreiche. Seine beiden Hobbys seien Lesen und Sprengstoffexperimente gewesen, erzählt er. Das ideale Leben habe sich ihm als Kombination von Büchern und Dynamit präsentiert. Damit findet er die perfekte Metapher für seine öffentliche Mission: Als «mutiger Nerd» stellte er sich in die Tradition der von ihm bewunderten Solvay-Konferenzen, in denen ein enger Kreis auserlesener Spezialisten die Zukunft plante.

Die Geschichte in die Knie zwingen

Wenig bescheiden blickt Nawalny auch auf seine Mitgliedschaft in der liberalen Jabloko-Partei Anfang der 2000er Jahre zurück. Er ist sich sicher: Wenn er nicht den Machtkampf mit dem Vorsitzenden Jawlinski verloren hätte und aus der Partei ausgeschlossen worden wäre, dann hätte er aus der Partei eine schlagkräftige Organisation geformt.

Über Jawlinski weiss Nawalny wenig Gutes zu berichten. Der Tiefpunkt war erreicht, als Jawlinski 2006 in einer Abbildung einer Jabloko-Demonstration aus der Parteizeitung Nawalnys Gesicht wegretuschieren liess. Auch der 2015 ermordete Boris Nemzow kommt als politischer Rivale schlecht weg. Nawalny nennt ihn einen «Komsomolzen» und beklagt sich darüber, dass seine eigenen Wahlempfehlungen nicht von Nemzow mitgetragen wurden.

Das vielleicht deutlichste Zeugnis für Nawalnys robustes Selbstbewusstsein ist eine kritische Bemerkung über Leo Tolstois Geschichtsphilosophie, in der das Individuum den historischen Kräften weichen muss. Nawalny sieht sich im Gegensatz dazu als bonapartistischen Helden, der selbst die Geschichte in die Knie zwingen kann.

Auf der positiven Seite sind die zahlreichen selbstkritischen Stellen in Nawalnys Memoiren zu vermerken. So bedauert er offen, ein «blinder Bewunderer Jelzins» gewesen zu sein. Damit habe er mitgeholfen, «den Weg in die heutige Gesetzlosigkeit» zu ebnen. Noch deutlicher wird Nawalny, wenn er sich an seine Reaktion auf Jelzins Beschiessung des Parlaments während der Verfassungskrise 1993 erinnert. Er stellte sich vorbehaltlos hinter Jelzins gewaltsames Vorgehen und forderte, dass es für die «unverbesserlichen Schwachköpfe, die sich im Parlament verstecken, keine Gnade geben» solle.

Leerstellen

Auch die Zeit seines Hausarrests nach einer Verurteilung im Jahr 2014 gibt er schonungslos wieder: «Fast sofort verwandelte mich das ständige Zu-Hause-Herumsitzen in einen gereizten Tiger im Käfig. Und fast sofort machte ich meine Frau und meine Kinder verrückt. Alle waren genervt, mich eingeschlossen.» Schliesslich räumt Nawalny im Rückblick ein, sich im «kafkaesken» Gefängnisalltag nicht immer unter Kontrolle gehabt zu haben. Er schrie Wärter an, musste aber gleich dafür büssen: Er wurde mit auf den Rücken gedrehten Händen durch das Gefängnis geschleift und in Einzelhaft gesteckt.

Es gibt einige bezeichnende Leerstellen in diesem Buch. So geht Nawalny zwar kurz auf seine «nationalistische» Phase ein, die er aber damit begründet, man müsse alle möglichen Gegner des Putin-Regimes mobilisieren. Mit keinem Wort erwähnt er den rechtsradikalen Schriftsteller Sachar Prilepin, mit dem er im Jahr 2007 die Bewegung «Das Volk» gründete.

Die beiden selbsternannten Revolutionäre träumten von der Wiederherstellung der nationalen Grösse Russlands, der Abschaffung der Vertikale der Macht, der Einführung von lokalen Sheriffs, der Überprüfung der wilden Privatisierungen der neunziger Jahre und einer Beschränkung der Zuwanderung.

Keinen Kommentar findet man auch zu den Verleihungen des Friedensnobelpreises an Dmitri Muratow, den Chefredaktor der oppositionellen «Nowaja Gaseta», im Jahr 2021 und an die russische Menschenrechtsorganisation «Memorial» im Jahr 2022. Möglicherweise hatte Nawalny bei seiner Rückkehr nach Russland im Januar 2021 auch selbst auf die Verleihung des Friedensnobelpreises spekuliert.

Nawalnys Autobiografie kann man entweder als Ausdruck einer masslosen Selbstüberschätzung oder im Gegenteil als selbstloses Engagement für ein besseres Russland deuten. Sicher ist: Der zweifache Familienvater Nawalny wusste, dass es etwas Grösseres als sein eigenes Lebensglück gab. Vielleicht das emotionalste Moment seiner Erzählung ist das Geständnis seines Wandels von einem «eingefleischten Atheisten» zu einem «religiösen Menschen».

Zu diesem Zeitpunkt war ihm bereits bewusst, dass er Putins Kerkern wahrscheinlich nicht lebend entkommen würde. Er beendet seinen Bericht mit einer berührenden Formulierung seiner Lebensaufgabe. In diesem Satz verschränkt sich seine übliche Flapsigkeit mit einem aufrichtigen Pathos: «Meine Aufgabe ist es, das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu suchen und es dem guten alten Jesus und seiner Familie zu überlassen, sich um alles andere zu kümmern.»

Alexej Nawalny: Patriot. Meine Geschichte. Aus dem Englischen von Rita Gravert, Norbert Juraschitz und Karin Schuler. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2024. 560 S., Fr. 39.90.

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