Samstag, Oktober 5

Psychische Ausnahmezustände verbanden sich bei dem Freund Franz Kafkas mit einem hellsichtigen Blick für den Abgrund, auf den Europa zusteuerte. Die Albertina würdigt Kubin, der auch einen dystopischen Roman verfasste, mit einer grossen Ausstellung.

Als er neunzehn Jahre alt ist, fährt Alfred Kubin ans Grab seiner jung verstorbenen Mutter. Er ritzt sich mit einer Nadel die Schläfe, um mit dem Pistolenlauf den Punkt nicht zu verfehlen, an dem die Kugel das Gehirn treffen soll. Die eingerostete Waffe versagt, aber fortan gibt es einen Lebenswillen, der immer mit dem Tod verwandt bleiben wird.

Wie kaum ein anderer war der 1877 im böhmischen Leitmeritz geborene Alfred Kubin ein Beispiel für die Wechselwirkungen zwischen Trauma und Kunst. Psychische Delirien und künstlerische Visionen hatten bei ihm die gleichen Quellen. Dass Kubin in seiner Zeit zum Star wurde, hat einen besonderen Grund: Sein aus privatem Unglück gespeister Bildervorrat passte in die Untergangsstimmung der Jahrhundertwende. Die hellsichtige Décadence seines Werks war auch ein Blick in den Abgrund, auf den Europa zusteuerte.

Ein neuer, alter Staat

Wenn der jetzige kulturkämpferische Kriegszustand etwas Apokalyptisches hat, dann lässt sich ein Werk wie das von Alfred Kubin ganz schnell neu etikettieren. Die allegorischen, an Hieronymus Bosch erinnernden Inhalte seiner Bilder haben etwas zeitlos Verzweifeltes und zugleich Mahnendes. Kubins gezeichnetes Todesfurioso, dessen künstlerische Anfänge die Wiener Albertina jetzt in einer grossen Ausstellung zeigt, ist das eine. Aber da ist noch etwas, bei dem sich der Interpretationswille nicht allzu sehr verbiegen muss, um einen Anschluss an die Gegenwart zu sehen: der Roman «Die andere Seite».

Die kühne und im Herbst 1908 wie im Rausch niedergeschriebene Vision eines neuen Staates. Die Bürger dieses künstlich geschaffenen Gemeinwesens trotzen der Moderne. Regiert wird das «Traumreich» von einem autoritären, seltsam chamäleonhaften Patriarchen namens Patera. Für ihn spielt Geld keine Rolle, und er verfolgt etwas, das man wie eine Karikatur konservativer Programme lesen kann. Er möchte die Welt von gestern in die Gegenwart hinüberretten.

Sein Volk spielt bei diesem Projekt nur die Rolle des Statisten. Es muss sich kleiden wie im neunzehnten Jahrhundert. Die Häuser dieses irgendwo in Asien neu gegründeten Stadtstaates namens Perle stammen aus dem Fundus der österreichischen Monarchie. Man hat sie am ursprünglichen Standort kurzerhand demontiert und in eine Heterotopie verfrachtet, in der nichts besser ist als früher. Weil dieses Früher so originalgetreu ist, ist es genauso schlecht, wie es immer schon war.

Wer in Kubins Roman auch noch auftritt: ein sinistrer Fackelträger der Moderne. Heutige Anhänger von Verschwörungstheorien würden ihn einen Globalisten nennen. Passenderweise ist er Amerikaner und ist als «Pökelfleischkönig» in seiner Heimat zu Reichtum gekommen. Dieser Millionär namens Herkules Bell gründet in Perle einen politischen Oppositionsverein und wird die Saat zum Untergang des ohnehin längst schäbig gewordenen Traumreichs ausbringen. Das Ende von Kubins fiebriger Dystopie ist wenig erbaulich: Ein Lavastrom aus Dreck und Kadavern wälzt sich durch die Stadt, die Menschen laufen nackt und verloren herum, und es hat ihnen die Sprache verschlagen. Das Einzige, was sie in dieser letzten Eskalationsstufe eines fundamentalistischen Kulturkampfs noch können: einander zu würgen.

Ritt durchs eigene Unbewusste

In nur zwölf Wochen und zu einem Zeitpunkt, als nach dem Tod des Vaters zeichnerisch nichts gelingen wollte, hat Alfred Kubin «Die andere Seite» niedergeschrieben. In einem kreativen Schub und in einem forcierten Ritt durchs eigene Unbewusste hat der Künstler etwas hervorgebracht, was sich auf verstörend viele Arten, vor allem auch freudianisch, lesen lässt. Wie freudianisch das autoritätssüchtig Politische heute ist, wäre vielleicht einmal eine Überlegung wert.

Jedenfalls: Der eigene Vater, zu dem Kubin ein schwieriges Verhältnis hatte, ist gerade zu Grabe getragen, da erscheint schon sein literarischer Wiedergänger. Im Namen des Traumreich-Diktators Patera steckt auch der Paterfamilias der Kubins. Vom ungreifbaren Herrscher des Romans geht eine fluide Gefahr aus, wie man sie aus dem Werk Franz Kafkas kennt. Der Prager Schriftsteller, der mit Kubin freundschaftlich verkehrte, stand dem eigenen Erzeuger bekanntlich auch skeptisch gegenüber und hat ihn in Selbstauskünften zur dröhnend übermächtigen Ursache seiner literarischen Schreckensbilder erklärt.

Noch viel mehr als die Kindheit Kafkas war die von Alfred Kubin wie ein finsterer Roman. Als er zehn Jahre alt ist, muss der Sohn eines k. u. k. Landvermessers das Sterben der schwindsüchtigen Mutter miterleben. Ihn bangt damals «vor der masslosen Verzweiflung des Vaters», wie der Künstler schreibt. «Er hob die lange Leiche der abgezehrten Frau aus dem Bett und lief damit weinend und wie um Hilfe rufend in der ganzen Wohnung herum.» Kurze Zeit später heiratet der Vater wieder. Diese zweite Frau überlebt das Wochenbett nicht.

Alfred Kubins erste grosse Liebe stirbt kurz nach der Verlobung an Typhus. Mit ihr schien die Überwindung eines traumatischen Ereignisses möglich, das Kubin mit elfeinhalb Jahren erlebt hat. Eine ältere schwangere Frau hat ihn damals verführt. Eine «tatsächliche Höllenperiode» begann, die später beim Künstler zu selbsthypnotischen Zuständen führte. Kubin verfiel in Delirien, in denen er glaubte, ein bourbonischer Prinz zu sein. Oder er geriet in einen Rausch des Zeichnens, bei dem er sein eigener Psychograf war, mit der Feder in der Hand. «Sie sichert uns durch ihre elastische Schmiegsamkeit die unmittelbare Übertragung nicht nur der Vorstellung, sondern auch der sie begleitenden Erregung», schreibt Kubin im autobiografischen Buch «Aus meiner Werkstatt». Stellvertretend verkörperte er die Nervosität des Fin de Siècle, schwankte zwischen Pathos und Ernüchterung, war konservativer Avantgardist.

Abneigungen gegen das Weibliche

Die Einhegung des bisher Unerklärlichen durch die Naturwissenschaften und die gleichzeitige Verdrängung des Triebhaften waren explosiver Stoff für die Kunst. Die Delirien des Unheimlichen, die es bei Kollegen wie Max Klinger, Félicien Rops und Fernand Khnopff, bei Ambrose Bierce und Kafka gab, fanden sich auch bei ihm. Aber das persönliche Leid Kubins beglaubigt bis heute das Werk in einem Mass, dass man die Lebensgeschichte immer mit dazu erzählen muss.

Das tut auch die Ausstellung in der Wiener Albertina-Dépendance Albertina Modern, die sich ganz dem bis 1904 entstandenen Frühwerk widmet und dabei mitten hineinführt in die vom Künstler so benannten «Wunderräusche». Die vertrauten «kubinischen Erfahrungen» kommen dem angehenden Zeichner, der Nietzsche und Schopenhauer gelesen hat, «wie eine Verirrung» vor. Er wildert in den «stillen Gründen der Traumnatur», und was dabei herauskommt, ist den eigenen Traumata nachgezeichnet. Phantasmagorien des Todes, der Angst und des Ekels entstehen auf kleinformatigem Papier. Die Mütter gebären rittlings über dem Grab, die Totenbraut trägt Weiss, und rätselhafte Tiergestalten und Schlangen bevölkern eine phallische Welt.

Dass die bei Kubin aufscheinende Misogynie auch ein Phänomen der Zeit war und gerade in Wien mit Otto Weiningers 1903 erschienenem Pamphlet «Geschlecht und Charakter» publizistische Wurzeln geschlagen hatte, entschärft nicht seine eigenen Abneigungen gegen das Weibliche. Im Bild «Die Spinne» von 1902 sitzt eine von Kubins Femmes fatales mit gespreizten Beinen in ihrem Netz und wartet auf Opfer. Der kugelhaft geblähte, wie schwanger wirkende Leib ist auf den Blättern in der Ausstellung immer wieder eine Signatur für die Angst vor dem Sexuellen. Oft sind die Köpfe der Menschen winzig klein und damit blosse Zutaten zur Dominanz des restlichen Körpers.

Es sind monströse Welten, die sich aus dem Inneren von Alfred Kubin nach aussen stülpen. In entschärfterer Form hat das etwas grotesk Komisches, aber meist ist es tödlicher Ernst. Vier Jahre nach seinem Selbstmordversuch zeichnet der junge Künstler einen winzig kleinen Menschen, der eine technische Apparatur bedient. An ihrem Ende ist der Abzug einer Pistole, die ihr Ziel nicht verfehlen wird. Für alle, die diese Kunst für erschreckend halten, hat Alfred Kubin die wahren Verhältnisse klargestellt: «Ich fand seit jeher unsere Welt durch und durch gespenstig.»

Alfred Kubin: Die Ästhetik des Bösen. Albertina Modern, Wien. Bis 25. Januar. Katalog 29.90 Euro.

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