Mittwoch, November 13

Man kann darüber streiten, ab welcher Menge Alkohol schädlich ist. Doch wer davon abhängig wird, wird immer noch stigmatisiert. Neue Therapien eröffnen Wege aus der Sucht.

An geselligen Anlässen darf der «gute Tropfen» meist nicht fehlen. Ob auf der Geburtstagsfeier, beim Geschäftsessen oder beim Candle-Light-Dinner: In unserem Kulturkreis ist es üblich, auf das Wohl des anderen anzustossen und dabei die Gläser klingen zu lassen. Dass sich darin Alkoholisches befindet, versteht sich dabei meist von selbst. Oft bleibt es zudem nicht beim «Gläschen». Manch ein Gastgeber hält seine Party für umso gelungener, je feuchtfröhlicher es dabei zu- und herging.

Wie sehr Alkohol zu unserem Leben gehört, illustriert auch die Statistik. In der Schweiz und in Deutschland greifen bis zu 85 Prozent aller Erwachsenen und Jugendlichen gelegentlich oder regelmässig zu Alkoholischem. Im Jahr 2022 betrug der Pro-Kopf-Konsum von purem Alkohol hierzulande 8,4 Liter und in Deutschland 10,6 Liter. Ganz oben auf dieser Liste stand Bier (63 bzw. 88 Liter), es folgen Wein (35 bzw. 22 Liter) und Höherprozentiges (4 bzw. 5 Liter).

Welche Menge an Alkohol der Gesundheit schadet, wird heute anders bewertet als früher. Galt noch bis vor wenigen Jahren, Frauen könnten weitgehend gefahrlos bis zu 12 Gramm und Männer bis zu 24 Gramm Alkohol – das entspricht etwa einem beziehungsweise zwei Deziliter Wein – am Tag zu sich nehmen, heisst es nun, schon der erste Tropfen erhöhe das Risiko für Krebs und andere Erkrankungen.

Ebenfalls revidiert wurde die Annahme, ein moderater Alkoholkonsum wirke sich günstig auf das Herz aus. Denn wie erneute Analysen der einschlägigen Studiendaten nahelegen, hatten die Probanden mit mässigem Alkoholverbrauch möglicherweise deshalb seltener Herzprobleme als die Abstinenzler, weil sich unter letzteren auch Personen befanden, die aus gesundheitlichen Gründen – etwa wegen eines früheren Krebsleidens oder Suchtproblems – auf Alkohol verzichteten.

Umstrittene Empfehlungen

Auch die neuen Empfehlungen, vehement vertreten etwa von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, stehen allerdings wissenschaftlich auf tönernen Füssen. Denn sie basieren auf den gleichen Bevölkerungsstudien wie die früheren Empfehlungen und damit auf Erhebungen, die aus vielerlei Gründen, etwa weil sie sich auf Umfragen stützen, nicht geeignet sind, kausale Zusammenhänge zu belegen.

Kein Zweifel besteht aber daran, dass ein zu tiefer Blick ins Glas der Gesundheit erheblich zusetzt. Das schweizerische Bundesamt für Gesundheit (BAG) definiert bei Frauen einen Konsum von mindestens zwei Standardgetränken – was etwa zwei Gläsern Wein entspricht – am Tag oder mindestens vier innert kurzer Zeit als risikoreich; bei Männern setzt es die entsprechenden Grenzwerte auf vier beziehungsweise fünf Drinks fest.

Wie verbreitet solche Trinkgewohnheiten sind, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Glaubt man den Ergebnissen von Umfragen, trinken in der Schweiz und in Deutschland rund ein Fünftel bis ein Sechstel der Bevölkerung zu oft oder zu viel. Die Zahl der Alkoholabhängigen soll hüben wie drüben rund 2,5 bis 3 Prozent betragen.

Personen mit Alkoholproblemen wenden sich, wenn überhaupt, indes grösstenteils erst dann an einen Arzt, wenn ihre Sucht zu Konflikten mit dem Gesetz, Schwierigkeiten in der Partnerschaft oder Gesundheitsschäden geführt hat. Denn viele wollen das Trinkproblem nicht wahrhaben oder haben Angst, sich zu exponieren. So sehr «Trinkfestigkeit» in unseren Breitengraden akzeptiert sein mag, so gering ist zugleich das Verständnis für all jene, die sich «nicht im Griff haben».

«Auch die Betroffenen selbst haben meist eine schlechte Meinung von Alkoholikern und schämen sich daher für ihre als Laster empfundene Sucht», sagt Anil Batra von der Sektion für Suchtmedizin und Suchtforschung am Universitätsklinikum in Tübingen. Die Selbststigmatisierung habe zur Folge, dass sie sich nicht mehr an die Öffentlichkeit wagten und es für sie daher noch schwerer werde, Hilfe zu erhalten.

Trinkimpuls im Gehirn

Dass Alkoholiker von der Gesellschaft stigmatisiert werden, führt Susanne Rösner, Forschungsleiterin der auf die Behandlung von Alkoholabhängigen spezialisierten Forel-Klinik, auf mangelndes Verständnis zurück. «Personen ohne Trinkprobleme können sich schlicht nicht vorstellen, wie schwer es für die Betroffenen ist, dem intrinsischen Verlangen nach Alkohol zu widerstehen», sagt die Naturwissenschafterin.

Ursächlich für den starken Trinkimpuls sei eine Überempfindlichkeit des dopaminergen Systems. Über die Ausschüttung des Botenstoffs Dopamin steuert dieses Hirnzentrum lebensnotwendige Funktionen, etwa die Nahrungsaufnahme, die Fortpflanzung und die elterliche Fürsorge. Steht es fortwährend unter dem Einfluss eines psychoaktiven Stoffs wie Alkohol, richtet es seine Aufmerksamkeit zunehmend auf die stimulierende Droge und verliert seine wahren Aufgaben immer mehr aus dem Blick. «Werden Ratten alkoholabhängig, was bei chronischem Alkoholkonsum der Fall ist, hören sie auf, sich zu ernähren und fortzupflanzen. Stattdessen interessieren sie sich nur noch dafür, ihre Sucht zu befriedigen», so Rösner.

Der neurobiologisch bedingte Trinkzwang ist auch ein wesentlicher Grund, weshalb der Weg aus der Abhängigkeit selbst mit professioneller Unterstützung nicht immer gelingt. «Ein Jahr nach der Therapie sind noch etwa 50 Prozent der Patienten abstinent, die anderen werden rückfällig», sagt Marcus Herdener, Chefarzt am Zentrum für Abhängigkeitserkrankungen des Universitätsspitals Zürich. Erfolgreich sei eine Behandlung besonders dann, wenn sie den Patienten dazu befähige, den Alkoholverbrauch stark einzuschränken.

Dass auch eine Verminderung der Trinkmenge ein valides Therapieziel sein kann, hat der kürzlich verstorbene Psychiater und langjährige Chefarzt der Forel-Klinik Gottfried Sondheimer bereits in den 1970er Jahren propagiert. Was damals einer Revolution gleichkam, gilt heute als eine mögliche Alternative zur Abstinenz. Nur eine Minderheit der Alkoholkranken komme damit allerdings langfristig zurecht, gibt Batra zu bedenken. «Jene, die sich hierfür entscheiden, kommen meist früher oder später zu dem Schluss, dass es leichter ist, den Alkoholkonsum ganz einzustellen, als ihn zu begrenzen.»

Dennoch: Das Verdienst Sondheimers ist es, den Betroffenen eine Wahl und damit ein Mitspracherecht gegeben zu haben. Charakteristisch für den Zürcher Arzt, war ein solcher demokratischer Behandlungsstil damals ausgesprochen ungewöhnlich, insbesondere in der Psychiatrie. Er gründete auf der Überzeugung, dass eine Suchttherapie langfristig nur gelingen kann, wenn sie auf Augenhöhe erfolgt und vom Patienten mitgetragen wird.

Der Wille genügt oft nicht

Um erfolgreich zu sein, muss eine Suchttherapie den Patienten ausserdem dazu befähigen, das mit Alkohol bekämpfte Problem anderweitig zu beherrschen. Denn Alkoholismus ist meist die Folge des Versuchs, etwas zu überwinden, sei es innere Unsicherheit, Ängste, Kummer oder eine bedrückende Lebenssituation.

Ziel der Behandlung ist es darüber hinaus, die Betroffenen dazu zu bringen, aus eigenem Antrieb alles unternehmen zu wollen, um die Sucht hinter sich zu lassen. «In dieser Hinsicht hat sich über die Jahre hinweg viel geändert. Früher wurden die Patienten nur dann für eine Behandlung in Betracht gezogen, wenn sie bereits hochmotiviert in der Klinik erschienen sind», sagt Batra.

Auch bei bestem Willen gelingt es vielen Betroffenen indes nicht auf Anhieb, dem Alkohol für immer zu entsagen. Eine Stütze auf dem Weg zur Abstinenz können dabei Medikamente sein, die den Belohnungseffekt von Alkohol im Gehirn unterdrücken und damit das starke Verlangen nach Alkohol dämpfen. Als Hoffnungsträger gilt dabei unter anderem Semaglutid – jener ursprünglich gegen Diabetes entwickelte Wirkstoff, der auch gegen Adipositas hilft und in den neuen Abnehmspritzen (Wegovy) enthalten ist.

In zwei Bevölkerungsstudien ging die Anwendung von Semaglutid mit einem deutlich verminderten Alkoholkonsum einher, und das gleichermassen bei Diabetikern, stark Übergewichtigen sowie bei Personen mit und solchen ohne Trinkprobleme. Zudem erlitten ehemalige Alkoholiker unter Semaglutid nur halb so oft einen Rückfall wie unter Placebo.

Ob es sich dabei um eine ursächliche Beziehung handelt, Semaglutid also die Lust auf Alkohol verringert, können die Studien aus methodischen Gründen nicht beantworten. Tierexperimentelle Untersuchungen weisen zwar in diese Richtung, wissenschaftliche Studien beim Menschen stehen indes noch aus.

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