Dienstag, März 18

Nach den deutschen Wahlen bleiben viele Fragen offen. Für die weltpolitischen Herausforderungen sind die Parteien schlecht gerüstet.

Kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine setzte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz das Wort von der Zeitenwende in Umlauf. Es brachte zur Geltung, was ohnehin der Fall war, doch sollte es als Signal wirken, die Geopolitik und mit ihr auch die eigene Politik neu einzustellen.

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Allerdings konnte man durchaus den Eindruck gewinnen, dass es mit dieser Verbalie zu gutem Teil bereits getan war. Die deutsche Politik hätte nach bewährtem Muster Betroffenheit bekundet, um abzuwarten, was sich danach ergeben würde – ein wenig in der Art eines politischen Vaterunsers, dass Gott den Gläubigen, die mit ihm rechnen, helfen möge. – Dieser Verdacht gewann, um es freundlich zu formulieren, über die Jahre hinweg an Plausibilität.

Der Krieg gegen die Ukraine sorgte gleichwohl dafür, dass auch die politische Gesamtlage der Bundesrepublik auf den Prüfstand geriet. Dabei offenbarten sich in rascher Folge grosse Schwächen, die zum Teil auf die Ära Schröder und insbesondere auf die Ära Merkel zurückzuführen waren.

Was man längst hätte gewusst haben können, kam nun in brutaler Manier aufs Tapet: erstens die überaus gefährdete Energiesicherheit, zweitens die weitgehend auf null zurückgefahrene Verteidigungskompetenz, drittens die fälschlicherweise auf der sogenannten Friedensdividende basierende Aussenpolitik, viertens ganz allgemein die Führungsrolle in und für Europa, fünftens eine laufend sich abschwächende Wirtschaftsleistung bei zunehmend grassierender Klimahysterie. Hinzu trat als gesellschaftlich besonders disruptiver Faktor die von Angela Merkel ausgeschilderte Willkommenskultur als Etikettenschwindel für eine völlig aus dem Ruder gelaufene Einwanderungspolitik.

Gute und schlechte Schulden

Dem Wort von der Zeitenwende hat nun Friedrich Merz einen neuen Spin erteilt mit seiner Parole «Whatever it takes». Die Frage bleibt, ob die angekündigten Massnahmen – also insbesondere die Aufstockung der Verteidigung und die Investitionen in Deutschlands marode Infrastruktur – wirklich nachhaltig umgesetzt werden können. Steht doch mit der SPD als Koalitionspartner weiterhin eine Partei bei Fuss, die die dringend erforderlichen Reformen des Landes keineswegs einmütig mitzutragen bereit ist und ihrerseits wieder Ansprüche aus dem klassischen Repertoire der gesellschaftlichen Umverteilung angemeldet hat. Sollten die Grünen ebenfalls einbezogen werden müssen, wenn es um die genannte Neuausrichtung geht, verschärfte sich dieses Szenario gleich nochmals.

Dies alles vor dem Hintergrund der Bereitschaft, eine gigantische Verschuldung einzugehen, deren Effektivität durchaus ungewiss ist. Man spricht bereits von einer Grössenordnung um die tausend Milliarden. – Wie wir alle wissen, gibt es gute Schulden und schlechte Schulden. Gute Schulden würden sich darin bewähren, dass sie Investitionen in eine Zukunft gesteigerter Innovationen und Handlungsfähigkeiten sind.

Schlechte Schulden zerrieseln wie gehabt im Irgendwo gegenstrebiger Begehrlichkeiten sowie im Grau-in-Grau bürokratischer Verhinderungen. Was bereits alles unter dem Zauberwort «Infrastruktur» laufend an neuen Wünschen eingebracht wird, hat Kritiker deshalb nicht zu Unrecht von einer «Ampel 2.0» sprechen lassen.

Hartnäckige Russophilie

Wichtiger aber als diese strukturellen Herausforderungen sind letztlich jene, welche die Mentalität, den Spirit des Landes in seiner aktuellen Verfasstheit betreffen. Hier erkennen wir eine komplexe und zugleich toxische Mixtur von gegensätzlichen Überzeugungen, was weshalb wie und wofür getan werden müsse.

Schon mit Blick auf die Steigerung der Verteidigungsfähigkeit finden wir substanzielle politische Kräfte, von der AfD bis zu den Linken, die dieses Traktandum letztlich vom Tische haben möchten. Dabei macht sich Deutschlands alte Russophilie auf mitunter abenteuerliche Weise bemerkbar. Sie erfasst so unterschiedlich farbige Charaktere wie Alice Weidel und Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht und Rolf Mützenich, Richard David Precht und Jürgen Habermas.

Gleichzeitig macht sich in Sonderheit unter linksbewegten Partisanen älterer und jüngerer Generationen ein beängstigender Antisemitismus wieder bemerkbar – mit militant aktivistischer Opfer-Täter-Umkehr in Richtung Israel und erschreckendem Verständnis für die Terrormörder der Hamas. Der Staat hat, windungsreich argumentierend, darauf noch keineswegs ausreichende Gegenmassnahmen ergriffen. Wer hätte gedacht, dass es in Deutschland noch einmal wieder so weit kommen würde?

Befremdlich präsentiert sich das Bild, wenn wir von der Energiepolitik und der Zuwanderungspolitik sprechen. Die Grünen wollen weiterhin Klimaschutz um fast jeden Preis und keinerlei Restriktionen in Sachen Migration. Die SPD zeigt sich beweglicher, doch flüchtet sie sich in die Formalien, und ihre Jugend tickt weitgehend mit den Grünen. Die Linke, die wie eine Pop-Gruppierung aus alter Asche neu erstiegen ist, fährt einen lustvoll konfrontativen Kurs bei praktisch jedem Thema.

Trumps disruptive Brachialgewalt

Anders gesagt: Die Fronten stehen fest, die Zeitenwende hat sie noch kaum in Bewegung zu versetzen vermocht. Man könnte tatsächlich denken, Deutschland sei weiterhin eine Endmoräne der Ära Merkel ohne das notwendige Sensorium für die Bedrohungen von aussen: weder von den Russen noch von den Islamisten und ihren Verstehern und nicht einmal von J. D. Vance. So wird es ganz grundsätzlich überaus schwierig sein, einen halbwegs gemeinsamen Nenner für Aufbruch, Erneuerung, Perspektivenwechsel und Resilienz zu finden.

Es ist schon so: Die Koalitionsregierung unter Friedrich Merz, wenn es denn dazu kommt, steht sowohl innenpolitisch wie auch aussenpolitisch vor kaum bewältigbaren Herausforderungen. Und um das Mass voll zu machen, agiert nun auch der neue Präsident der Vereinigten Staaten wie ein aus der Bahn geratener Meteor. So schön es sein mag, zu registrieren, wie disruptive Brachialgewalt endlich als Weckruf, ja als Schocktherapie wirken könnte, so nebulös sind die Aussichten, was die gemeinsame Strategie westlicher Allianz und Wertegemeinschaft zwischen Washington, Berlin, Paris, Brüssel, London, Kiew und Warschau betrifft, um nur die wichtigsten Player zu nennen.

Wird die Europäische Union, wird das freiheitlich verfasste Europa unter der Führung einer Achse Berlin, Paris und London in der Lage sein, die Lücke zu füllen, die Trump mit welch erratischer Agenda auch immer aufgerissen hat? Oder wird man sich nach bewährtem Muster in kleinteiliges Hin und Her unter dem Schutzschild von illusionären Parolen flüchten? Wird es möglich sein, militärische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Resilienz zu entwickeln, die den alten Kontinent als echten weltpolitischen Akteur ins Leben ruft? Welches Personal stünde dazu bereit und wäre in der Lage, Führung und Überzeugungskraft zu stellen?

Lebensgefährliche Passivität

Solche Fragen rühren an den geopolitischen Lebensnerv unserer Epoche. Denn so viel ist gewiss: Ohne eine massive und nachhaltige Leadership Deutschlands wäre dieses Gegenprojekt zur bisherigen transatlantischen Allianz, so wir ihm überhaupt eine Chance einräumen wollen, von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Zum ersten Mal seit 1945 also wäre die Bundesrepublik gefordert, ihre weitgehend entpolitisierte Mitfahrrolle abzulegen.

Die Geschichte lehrt, dass Revolutionen welcher Art auch immer nicht selten ohne wahrnehmbaren Vorlauf zünden. Dies auch deshalb, weil Eingewöhnung dazu verleitet, zu glauben, dass alles wie bisher und beim Alten bleibe. Das ist zwar bequem. Aber je nach der Bedrohungslage lebensgefährlich. Bezogen auf Deutschland und aus gegebenen Gründen etwas zugespitzt nach dem Motto: Alle reden vom Krieg. Und wir machen weiterhin Kita.

Martin Meyer war bis 2015 Feuilletonchef der NZZ. Beim vorliegenden Text handelt es sich um das Einführungsreferat, das er am 12. März beim «NZZ Podium» unter dem Titel «Nach den Wahlen: Deutschland im Aufbruch – aber wohin?» in Zürich gehalten hat.

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