Unter dem Feuerwerk zum Jahresende leiden nicht nur Hund und Katze, sondern auch wilde Tiere. Für sie kann der nächtliche Schreck mitten im Winter lebensbedrohlich sein.
Um 23 Uhr 55 ist die Welt noch in Ordnung. In den Aufnahmen der Wetterradarstationen Herwijnen und Den Helder des königlich-niederländischen meteorologischen Instituts ziehen in der Nacht des 31. Dezember 2017 nur hie und da kleine Wolken durch das Bild.
Punkt Mitternacht ändert sich das schlagartig. Wie ein Feuerwerk leuchten die Radarbilder auf. Was da auf einmal den niederländischen Luftraum bevölkert, sind Abertausende von Vögeln. Mitten in der Nacht schwingen sie sich empor, aufgeschreckt vom Krach des Silvesterfeuerwerks.
Es sind vor allem Wildgänse aus dem hohen Norden, die zu Hunderttausenden in den Niederlanden überwintern. Aber auch andere Wasservögel wie Enten, Watvögel, Säger, See- und Lappentaucher sowie verschiedene Singvogelarten nutzen Gewässer, Feuchtwiesen und Ackerland als Zwischenstopp oder Endstation ihrer jährlichen Wanderung. Hier finden sie noch Futter, das dank dem milden Klima nur selten von Schnee bedeckt ist. Und Ruhe und Erholung.
Doch damit ist es zu Silvester vorbei. Beim Feuerwerken sind die Niederländer mit mehr als einem Kilo Pyrotechnik pro Einwohner klare Spitzenreiter, vor den Deutschen (zirka 500 Gramm) und den auch in dieser Beziehung zurückhaltenden Schweizern (zirka 200 Gramm). Immer wieder verlieren Menschen durch Knallkörpereinwirkung Augenlicht, Gehör oder eine Hand. Doch auch Tiere leiden unter dem Böllerspass: Hund und Katze verkriechen sich panisch unter dem Sofa, Pferde gehen durch und verletzen sich dabei nicht selten.
Studien zum Thema sind rar
All das ist wohlbekannt. Aber wie reagieren Wildtiere auf die Böllerei? Die wissenschaftliche Studienlage zu dieser Frage ist noch ziemlich lückenhaft.
Doch es gibt rühmliche Ausnahmen. Etwa die Ende 2023 erschienene Studie von Forschern um die Vogelzug-Spezialistin Judy Shamoun-Baranes von der Universität Amsterdam auf Basis der Radarbilder aus der Silvesternacht 2017.
Auf 384 000 schätzen die Forscher die Zahl der auffliegenden Vögel allein im Studiengebiet. In den gesamten Niederlanden seien vermutlich Millionen Tiere betroffen. In ruhigen Winternächten erfasst das Radar dagegen kaum Flugbewegungen.
Ein grosser Teil der Vögel steigt auf Flughöhen von mehreren hundert Metern. Dort kreisen sie fast eine Stunde, bevor sie in der Dunkelheit einen geeigneten Landeplatz finden. Das Feuerwerk stelle eine «gewaltige Störung von Wildtieren» dar, die für die Tiere Stress bedeute und sie viel Energie koste, so das Fazit der Forscher.
Zwei kleinere Studien im «Ornithologischen Beobachter», dem Organ der Schweizerischen Gesellschaft für Vogelkunde und Vogelschutz, aus dem Jahr 2015 bestätigen dieses Bild: In Nächten mit Feuerwerk legten sich Vogelfreunde am Nordende des Zürichsees beziehungsweise am Bodensee nahe der Insel Mainau auf die Lauer und zählten mit Nachtsichtgeräten das Geflügel auf der Wasserfläche. An beiden Orten flüchtete ein Grossteil der Tiere panisch ins Röhricht. Oder sie flogen davon und kehrten zum Teil erst nach Tagen wieder.
«Die Tiere verstehen die Welt nicht mehr»
Gerade Gänse seien sehr vorsichtige Tiere, erklärt die Biomathematikerin Andrea Kölzsch, die parallel an der Radboud-Universität in Nijmegen und am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell forscht. «Wenn es mitten in der Nacht knallt, verstehen die Tiere die Welt nicht mehr.»
Für eine 2022 erschienene Studie nutzte Kölzsch individuelle GPS-Daten von 347 besenderten Bläss-, Weisswangen-, Kurzschnabel- und Saatgänsen aus den Jahren 2014 bis 2021. Die Wintergäste waren über ein weites Gebiet von den Niederlanden über Norddeutschland und Dänemark bis zur polnischen Ostseeküste verteilt.
In den Daten zeigt sich die Bandbreite individueller und artspezifischer Reaktionen. So gehen Kurzschnabelgänse, die sich auch sonst nur selten nachts auf die Flügel machen, offenbar gelassener mit dem Lärm um als andere Arten.
Im Mittel flogen die Gänse je nach Art bis zu 16 Kilometer weiter und 150 Meter höher als in ruhigen Nächten. Den Rekord brach eine Saatgans, die sich um Mitternacht auf einen 500 Kilometer langen Irrflug machte. Er führte sie von ihrem Rastplatz nördlich von Amsterdam über grosse Teile der Niederlande bis weit auf das offene Meer Richtung England.
«Es ist schockierend zu sehen, wie viel weiter die Vögel in den Silvesternächten flogen», sagt Kölzsch. «Das sind Distanzen, die sie normalerweise nur während des Zuges absolvieren.» Dabei braucht es nicht einmal den vollen Wumms: Das erheblich reduzierte Spektakel im Lockdown-Winter 2020/21 reichte noch immer für deutliche Verhaltensänderungen. Auch die Präliminarien ungeduldiger Feuerwerker in den Nächten vor Silvester spiegeln sich in aktiveren Bewegungsmustern wider.
Ein paar Kalorien entscheiden über Leben und Tod
Wie schlimm ist das für die Tiere? Auf ein bis zehn Prozent schätzt Kölzsch den zusätzlichen Energieverbrauch durch die unruhige Nacht. Das klingt nicht dramatisch, doch in harten Wintern können ein paar Kalorien mehr oder weniger im schlimmsten Fall über Leben und Tod entscheiden.
Einen Blick ins Innere der gestressten Tiere wirft eine ebenfalls 2022 erschienene Studie der inzwischen im englischen Cambridge arbeitenden Verhaltensbiologin Claudia Wascher. An der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle der Universität Wien am Almsee in Oberösterreich stattete Wascher halb wild lebende Graugänse mit implantierten Sensoren aus, die Herzschlag und Körpertemperatur aufzeichneten. Die Ergebnisse zeigen: Zum Jahreswechsel verdoppelte sich die Herzfrequenz beinahe, die Temperatur stieg um durchschnittlich ein Grad.
«Gänse sind nicht wirklich nachtflugtauglich und können sich dabei leicht verletzen oder verirren», sagt Wascher. Der zusätzliche Energieverbrauch sei für die gut im Futter stehenden Gänse der Forschungsstation zwar kein Problem, wohl aber für wilde Artgenossen. Dabei hätten Gänse noch gute Fettspeicher. Grössere Sorgen mache sie sich um kleine Singvögel, die im Winter ohnehin nie weit vom Verhungern entfernt seien.
Blick in den Meisenkasten
Da sieht auch Stefan Bosch so: «Aufgeschreckte Gänseschwärme werden wahrgenommen. Aber was in Schlafhöhlen oder Schlafgebüschen passiert, entzieht sich weitgehend unserer Wahrnehmung.» Das wollte der süddeutsche Mediziner und passionierte Vogelkundler Bosch mit einer Studie ändern, die er zusammen mit einem Kollegen 2019 in den «Ornithologischen Mitteilungen» veröffentlicht hat. Die beiden werteten über zehn Jahre hinweg aufgenommene Videos aus Nistkästen an Boschs Wohnhaus aus, in denen im Winter Blau- und Kohlmeisen sowie Zaunkönige übernachten.
Normalerweise verschlafen die Tiere die ganze Nacht, zu einem wärmenden Federball aufgeplustert. In der Silvesternacht wachen die Tiere auf, entplustern sich und werden unruhig. Nur eine Flucht aus der Sicherheit des Nistkastens, wie sie in einem auf Youtube geposteten Video eines englischen Vogelfreundes zu sehen ist, kam Bosch nicht unter.
«Von anderen kleinen Singvögeln wie dem Goldhähnchen wissen wir, dass sie tagsüber tatsächlich nur gerade so viel Brennstoff aufnehmen, dass es knapp für das Überleben einer langen, kalten Winternacht reicht. Reserven für Störungen sind dabei nicht vorgesehen und können fatale Folgen haben», so Bosch.
Massenpanik im Vogelschwarm
Unmittelbar fatal endete Silvester 2020 eine Massenpanik unter mitten in Rom überwinternden Staren. In ihrer Angst flogen die Tiere offenbar mit vollem Karacho in Fensterscheiben und andere Hindernisse, ihre leblosen Körper bedeckten anschliessend die Strassen.
Während die potenziell tödlichen Folgen von Böllerknall und Feuerwerk für Vögel langsam klarer werden, gibt es für ungefiederte Wildtiere wie Eichhörnchen oder Fuchs noch weniger gesicherte Erkenntnisse. Hinweise liefern Studien über die Folgen von anderem Zivilisationslärm. So trauten sich während eines Musikfestivals in England Wasserfledermäuse erst 45 Minuten nach dem letzten Ton aus ihren Verstecken.
Die grosse Frage lautet: Wie lassen sich Böllerspass und Tierwohl unter einen Hut bringen? Fachleute und Tierschutzorganisationen fordern, zumindest Naturschutzgebiete, Waldränder und städtische Parks zu böllerfreien Zonen zu erklären.
Claudia Wascher findet den Kompromiss in ihrem ländlichen Wohnort in England vorbildlich: Dort gebe es ein zentral organisiertes Feuerwerk in der Ortsmitte. Im Rest des Dorfes seien Böller dagegen offiziell tabu, erzählt Wascher. «Das funktioniert, weil hier fast jeder Nachbar Hunde, Katzen oder sogar Pferde hat – dadurch haben Haustiere eine ausreichend starke Lobby. Und mit ihnen auch die Wildtiere.»