Mittwoch, Januar 29

Heute vor achtzig Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Mittlerweile steht es sinnbildlich für die Vernichtungsindustrie der Nazis. Das war nicht immer so.

Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess spielte das Thema Auschwitz keine zentrale Rolle. Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich waren tot, Adolf Eichmann geflohen. Eichmann wurde erst 1961 in Jerusalem vor Gericht gestellt. Rudolf Höss sagte in Nürnberg lediglich als Zeuge aus. Das interessanteste Dokument zu Auschwitz legte die sowjetische Anklage vor: Es war die «Mitteilung der Ausserordentlichen Staatlichen Kommission zur Feststellung und Untersuchung der Schandtaten der faschistischen deutschen Eindringlinge und ihrer Helfershelfer über die ungeheuren Verbrechen der deutschen Regierung in Auschwitz».

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Dieser Bericht sprach von einem «riesigen Lager, das die deutsche Regierung zur Vernichtung gefangengenommener sowjetischer Menschen in der Umgebung der Stadt Auschwitz errichtet hatte». An anderer Stelle ist nicht nur von sowjetischen Menschen die Rede: «Deutsche Henker mordeten Bürger aller europäischen Länder in Auschwitz.» Das Wort «Juden» kam nicht vor.

Der Bericht sollte in dem von Wasili Grossman und Ilja Ehrenburg zusammengestellten Schwarzbuch über den Genozid an den sowjetischen Juden erscheinen. Im gesamten Schwarzbuch das Wort «Jude» zu vermeiden, war angesichts seines Themas nicht möglich. Die beiden Herausgeber übten sich in vorauseilendem Gehorsam in Selbstzensur, trotzdem fiel das Schwarzbuch der stalinistischen Zensur zum Opfer. Die russische Originalausgabe erschien nie, eine deutsche Übersetzung erst 1994.

Heute ist allgemein bekannt, dass von den 1,1 Millionen Menschen, die in Auschwitz ermordet wurden, mehr als 90 Prozent Juden waren. Eigentlich wusste man das auch damals schon, aber nicht nur die Sowjets, sondern auch Briten und Amerikaner taten alles, um den Eindruck zu vermeiden, die Rettung der von Vernichtung bedrohten Judenheit könnte ein Motiv für den Krieg gegen das nationalsozialistische Regime sein.

Geknackte Codes

Die Westalliierten waren gut informiert. Schon im Januar 1940 war es gelungen, den von den Achsenmächten benutzten Enigma-Code zu entschlüsseln. Ende 1940 knackte der britische Geheimdienst auch einen der hochentwickelten Enigma-Codes der SS und konnte den streng vertraulichen Funkverkehr zwischen den Konzentrationslagern und dem Reichssicherheitshauptamt mithören. Die Mitarbeiter des Geheimdienstes registrierten auch die grosse Zahl jüdischer Häftlinge, die nach Auschwitz deportiert wurden.

Gleichzeitig wurde das Problem der jüdischen Flüchtlinge immer drängender. Im April 1943 veranstalteten Amerikaner und Briten auf Bermuda eine bilaterale Flüchtlingskonferenz. Jüdische Organisationen durften nicht teilnehmen. Die amerikanische Delegation hatte kaum Verhandlungsvollmachten, und die Briten schlossen jegliche Einwanderung nach Palästina kategorisch aus. Aber es wurde ein neues Gremium geschaffen, das War Refugee Board (WRB).

Bis zu seiner Etablierung verging allerdings viel Zeit, denn es gab heftige Kontroversen zwischen den verschiedenen Bundesbehörden. Beamte des Finanzministeriums informierten den Minister Henry Morgenthau darüber, dass das State Department Informationen über den Holocaust unterdrückte. Das veranlasste Morgenthau, der der einzige Jude im Kabinett und zudem ein enger Freund des Präsidenten war, offiziell bei Roosevelt mit einem Memorandum vorstellig zu werden.

Daraufhin erliess Roosevelt am 22. Januar 1944 ein Dekret und übertrug dem WRB die Aufgabe der «sofortigen Rettung und Hilfe für die Juden Europas und andere Opfer feindlicher Verfolgung». Roosevelt stellte aus dem Notfallfonds des Präsidenten 1,1 Millionen Dollar zur Verfügung, die immerhin die Gehälter der Mitarbeiter und die Verwaltungskosten deckten, ausserdem eine Million Dollar, um Lebensmittelpakete für KZ-Insassen zu kaufen, die, wenn sie ankamen, meistens in den Vorratskammern der Lager-SS landeten.

Lufthoheit der Alliierten

Keines der alliierten Länder war bereit, Initiativen zugunsten der vom Tod bedrohten Juden zu ergreifen, sei es durch Bombardierung von Auschwitz oder durch die grosszügige Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge. Stalins Führung, die schon durch die unmittelbare geografische Nähe sehr gut über die deutschen Massaker an der Zivilbevölkerung und insbesondere an der jüdischen Minderheit in den besetzten Gebieten informiert war, setzte sich lediglich dafür ein, die Deportationen sowjetischer Häftlinge zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich zu verhindern, damit sie als Arbeitskräfte erhalten blieben.

Am 10. Juli 1943 erreichten die britische 8. Armee unter General Montgomery und die amerikanische 7. Armee unter General George S. Patton Sizilien und eroberten die Insel innerhalb von fünf Wochen. Spätestens jetzt war Auschwitz für amerikanische und britische Flugzeuge erreichbar. Den Deutschen war das durchaus bewusst, sie setzten aber darauf, dass es den Alliierten zu riskant wäre, den Luftraum über Deutschland beziehungsweise über Österreich und dem Protektorat zu überfliegen.

Erst im März 1944 war die deutsche Luftwaffe so weit zerstört, dass die Alliierten die Lufthoheit hatten. Dennoch gab es eine Vielzahl von alliierten Luftangriffen, allein 18 in der Zeit zwischen Juli und Dezember 1944. Sie galten vor allem oberschlesischen Industrieanlagen, die synthetische Treibstoffe und Buna produzierten.

Bereits am 4. April 1944 flog ein amerikanisches Aufklärungsflugzeug über Monowitz und fotografierte die Fabrikanlagen der IG Farben AG. Erstmals massiv bombardiert wurde Monowitz am 20. August 1944. 127 Boeing B-17 Flying Fortress, eskortiert von 100 Mustang-Jägern, warfen 1336 500-Pfund-Bomben über den Fabrikanlagen ab. Am 13. September 1944 flogen 96 Liberator-Bomber einen Angriff auf Auschwitz, die wieder mehr als 1000 500-Pfund-Bomben abwarfen.

«Die Bomben hoben unsere Moral»

Versehentlich trafen etliche Bomben das Stammlager. Sie zerstörten die Unterkünfte der SS, töteten 15 SS-Männer und verletzten 28. Ausserdem kamen 40 Häftlinge ums Leben, und 65 wurden verletzt. Die Anlagen in Monowitz, dem eigentlichen Ziel des Angriffs, wurden nur leicht beschädigt, aber 30 Zwangsarbeiter wurden getötet und etwa 300 verletzt.

Trotz diesem Blutvergiessen löste der Luftangriff ein Glücksgefühl bei den Häftlingen aus. Shalom Lindenbaum erinnerte sich später: «Diese Bomben hoben unsere Moral, und paradoxerweise weckten sie vermutlich Hoffnungen, wir könnten überleben, könnten dieser Hölle entrinnen.» Auch wenn die sowjetischen Panzer damals nur noch 150 Kilometer von Oswiecim entfernt waren, sollte es noch vier Monate dauern, bis die Lager befreit wurden. Die Rettung aus der Luft wäre dagegen sofort möglich gewesen. Allein sie blieb aus.

Die vielen Luftangriffe dienten der Zerstörung kriegswichtiger Produktionsanlagen, sie waren ein logischer Bestandteil der alliierten Kriegsführung. Luftangriffe auf Gaskammern und Krematorien dienten diesem Ziel nicht, aber sie wären ziemlich leicht zu realisieren gewesen. Die Bombergeschwader hätten, unter Inkaufnahme geringer Umwege, die Ziele auf dem Weg zu ihren eigentlichen Zielorten, oder auf dem Rückweg, attackieren können.

Zu den Hauptaufgaben des in Süditalien stationierten 15. Geschwaders der US-Luftwaffe gehörte die Bombardierung von Brücken und Streckenabschnitten der Eisenbahn. Das behinderte die deutsche Logistik erheblich und unterstützte den sowjetischen Vormarsch in Ungarn wirkungsvoll. Da in Budapest noch 200 000 Juden lebten, deren Deportation noch drohen konnte, wäre es durchaus sinnvoll gewesen, auch die Eisenbahnstrecke nach Oswiecim zu bombardieren.

Erklärung der Passivität

Dagegen wurde immer wieder eingewandt, dass Bahngleise schnell wieder repariert seien. Selbst dann hätten die Angriffe aber mindestens eine grosse symbolische Wirkung gehabt. Eine Bombardierung der Bahngleise hätte ausserdem womöglich die verbliebenen Juden in Polen, der Slowakei und Theresienstadt retten können. Die Wahrheit ist, dass solche Angriffe, die nichtmilitärischen Zielen galten und jüdische «Flüchtlinge» gerettet hätten, grundsätzlich nicht gewollt waren.

Ein anderes Argument, das zur Erklärung der Passivität der Westalliierten immer wieder ins Feld geführt wird, ist die Behauptung, man habe nicht wirklich gewusst, was in Auschwitz vor sich gehe. Tatsächlich lag der britischen Regierung 1944 eine grosse Fülle an Berichten von Kurieren vor, die die polnische Exilregierung in London an die westlichen Alliierten und an die Presse weitergab.

Aber die britische Regierung wollte das Schicksal der verfolgten Juden unbedingt aus dem ihrer Kriegsführung zugrunde liegenden Narrativ heraushalten. Das Aussenministerium weigerte sich deshalb auch, die Richtigkeit der Informationen aus polnischen Geheimdienstquellen über Auschwitz zu bestätigen, und spielte so eine entscheidende Rolle bei der Verhinderung der Verbreitung des vorhandenen Wissens.

Auf amerikanischer Seite sah es nicht besser aus. Alle flehentlichen Bitten, bestimmte Eisenbahnstrecken zu bombardieren, wurden abgelehnt. Entweder mit der Begründung, die Vorschläge seien undurchführbar, oder deshalb, weil Einsätze der Luftwaffe für «nichtmilitärische Aufgaben» grundsätzlich nicht infrage kämen.

Selbst die Empfehlung der Bermuda-Konferenz, in Nordafrika ein Notaufnahmelager für Flüchtlinge einzurichten, wurde abgelehnt. Man befürchtete, es würde nicht bei dem einen Lager bleiben, ausserdem mangle es an Transportkapazitäten und auch an Lebensmitteln. Und die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge könne die arabische Bevölkerung verärgern.

Das deprimierende Fazit lautet: Die alliierten Regierungen massen den nationalsozialistischen Massenverbrechen keine entscheidende Bedeutung bei. Erst der Vormarsch ihrer Armeen setzte dem Morden ein Ende.

Ernst Piper ist Professor für neuere Geschichte an der Universität Potsdam.

Exit mobile version