Viele Menschen, die Unverträglichkeiten bei sich vermuten, haben keine Diagnose. Übertreiben sie einfach?
«Warum essen Sie hier?» Pure Neugierde trieb Nanette Ströbele-Benschop an, als sie die Gäste in einem glutenfreien Restaurant fragte, warum sie das Lokal gewählt hatten. Die Ernährungspsychologin von der Universität Hohenheim bei Stuttgart erhielt überraschende Antworten: Niemand hatte Zöliakie, einige sagten, sie vertrügen Gluten nicht, hätten aber keine Diagnose. Mehrere erachteten eine glutenfreie Ernährung als allgemein gesünder und der Zeit entsprechend. So isst man als bewusst lebender Mensch heute eben, oder?
Ob Glutenhaltiges, Milch oder bestimmte Obst- und Gemüsesorten – viele Menschen sagen, sie vertrügen manche Lebensmittel nicht, es gehe ihnen besser, wenn sie darauf verzichteten. Viele von ihnen haben keine medizinische Diagnose.
Die Diskrepanz zwischen dem notwendigen Verzicht aus medizinischen Gründen und der freiwilligen Selbsteinschränkung zeigt sich etwa bei Nahrungsmittelallergien. Dabei schlägt das Immunsystem als Reaktion auf Allergene, die in der Nahrung vorkommen, Alarm. Es kommt beispielsweise zu juckendem Ausschlag, Atemnot oder Verdauungsbeschwerden. Gemäss einer wissenschaftlichen Übersichtsarbeit, die im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde, sind in entwickelten Ländern 8 Prozent der Kinder und 10 Prozent der Erwachsenen von einer Lebensmittelallergie betroffen. Ein sehr seltenes Beispiel ist die Weizenallergie, häufiger können Nüsse oder Früchte Allergien auslösen.
Wird eine Allergie diagnostiziert, sollte der Betroffene gewisse Nahrungsmittel meiden und bekommt Notfallmedikamente für den Ernstfall. Bei Kindern kann man zudem versuchen, durch schrittweises Konsumieren eine Toleranz zu bewirken.
Allerdings zeigen Studien: Der Anteil der Menschen, die meinen, an einer Nahrungsmittelallergie zu leiden, ist immer höher als die tatsächliche Zahl der Betroffenen. So gaben in einer internationalen Studie rund 37 Prozent der Teilnehmenden aus Zürich entsprechende Beschwerden an – bei der Untersuchung war aber nur bei knapp 6 Prozent eine allergische Reaktion feststellbar.
Bei Intoleranzen ist oft kein vollständiger Verzicht nötig
Und die anderen: alles Hypochonder? Das kann man so nicht sagen. Denn es gibt neben der Allergie noch eine andere Art der Nahrungsmittelunverträglichkeit: die Intoleranz. Hier schlägt nicht das Immunsystem Alarm, sondern den Betroffenen fehlt es beispielsweise an Enzymen, um bestimmte Bestandteile der Nahrung zu verdauen – etwa bei der Laktoseintoleranz. Die Betroffenen müssen oft nicht gänzlich auf bestimmte Nahrungsmittel verzichten. Es geht darum, die individuell verträgliche Menge zu bestimmen und fehlende Enzyme zu ersetzen. Eine Ernährungsberatung ist dabei sinnvoll.
10 bis 20 Prozent der Bevölkerung sind in Ländern wie der Schweiz und Deutschland davon betroffen. Während die Laktoseintoleranz über einen Atemtest einfach zu diagnostizieren ist, sind andere Intoleranzen schwierig zu erfassen. Deshalb gibt es auch keine verlässlichen Zahlen über die Häufigkeit von Intoleranzen und darüber, wie sich diese entwickeln.
«Auch Intoleranzen werden von den Betroffenen viel häufiger vermutet, als sie effektiv vorliegen», sagt Barbara Ballmer-Weber, Professorin für Allergologie am Kantonsspital St. Gallen und am Universitätsspital Zürich.
Auch Fruktan im Weizen bereitet Probleme
Ein Spezialfall ist die Zöliakie, an der etwa ein Prozent der Bevölkerung leidet. Sie ist weder Allergie noch Intoleranz, sondern eine Autoimmunerkrankung. Dabei reagiert das Immunsystem mit einer Abwehrreaktion auf das Klebereiweiss Gluten, das natürlicherweise in bestimmten Getreidesorten wie Weizen vorkommt. Das Gluten sorgt etwa beim Brotbacken dafür, dass der Teig elastisch ist und aufgeht.
Bei Zöliakie bewirkt die Immunreaktion, dass sich die Schleimhaut im Dünndarm entzündet. Wenn die Betroffenen glutenhaltige Lebensmittel essen, können sie eine breite Palette von Symptomen entwickeln, etwa Müdigkeit, Durchfall und Appetitlosigkeit. Für Betroffene ist ein glutenfreies Restaurant daher ein Segen.
Manche Menschen haben keine Zöliakie, aber glauben dennoch, empfindlich auf Gluten zu reagieren. Sie machen dies daran fest, dass sie weniger Beschwerden haben, wenn sie auf glutenhaltiges Getreide verzichten. Einige vermuten bei sich eine sogenannte Nicht-Zöliakie-Glutenhypersensitivität. Diese ist allerdings sehr selten.
«In vielen Fällen ist es nicht das Gluten, sondern das ebenfalls in Weizen enthaltene Fruktan – ein Kohlenhydrat, das aus einer Kette von Fruchtzuckermolekülen besteht –, das die Betroffenen nicht vertragen», sagt die Allergologin Ballmer-Weber. Umso wichtiger sei es, Beschwerden ärztlich abklären zu lassen.
Und es gibt noch eine andere mögliche Ursache für das Unwohlsein: Immer mehr Menschen haben chronische Magen-Darm-Beschwerden. So steigt sowohl die Zahl der entzündlichen Darmerkrankungen als auch die Häufigkeit des Reizdarmsyndroms. Schätzungen sprechen beispielsweise für Deutschland von mehr als einer Million Reizdarmpatienten. Zu den Symptomen gehören Bauchschmerzen, Krämpfe sowie ein veränderter Stuhl – wobei Frauen eher zu Verstopfung, Männer eher zu Durchfall neigen.
Reizdarmsyndrom – schwierig zu behandeln
Medizinisch ist deshalb bei Verdauungsbeschwerden nicht nur die Allergologie gefragt, sondern auch die Gastroenterologie – also die Magen-Darm-Heilkunde. «Ein grosser Teil der Zunahme der vermeintlichen Unverträglichkeiten hängt mit den häufigeren Darmerkrankungen zusammen, die von Allergien und Intoleranzen zu unterscheiden sind», sagt Ballmer-Weber.
Der Reizdarm galt früher als psychosomatische Erkrankung – ausgelöst etwa durch Stress und Ängste. Heute wird er in der Medizin als multifaktorielle Erkrankung betrachtet. Dabei spielen gemäss Ballmer-Weber vor allem Faktoren mit, welche das Mikrobiom im Darm verändern – etwa Infekte, die Einnahme von Antibiotika und allenfalls die Genetik. Verstärkend könne auch der moderne Lebensstil mit mangelnder Bewegung sowie fett- und zuckerhaltiger Ernährung wirken.
Die Ursachen und Beschwerden des Reizdarms sind gemäss der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten zu individuell für eine Standardtherapie und generelle Ernährungsempfehlungen. Als einzig wirksame Diät hat sich in Studien bisher eine Fodmap-arme Ernährung erwiesen. Dabei werden verschiedene Kohlenhydrate, darunter Fruktan und Laktose, eine Zeitlang weggelassen, um dann die individuell verträgliche Dosis zu bestimmen. Auch dies geschieht im Rahmen einer Ernährungsberatung, damit es nicht zu Mangelerscheinungen kommt.
Ernährung als Identität
Das Beispiel Gluten zeigt, wie komplex das Zusammenspiel von Körper, Psyche und gesellschaftlichen Entwicklungen ist. Das erklärt die Ernährungspsychologin Ströbele-Benschop am Beispiel des glutenfreien Restaurants, wo kein Gast eine medizinische Diagnose hatte: «In unserer westlichen Gesellschaft beschäftigen wir uns heute viel mehr mit unserer Ernährung als früher. Sie ist für viele ein wichtiger Teil ihrer Identität.»
Mit all den offengelegten Befindlichkeiten in den sozialen Netzwerken und der Werbung für Lebensmittel ohne bestimmte Inhaltsstoffe komme man auch eher auf die Idee, vielleicht selber eine Unverträglichkeit zu haben. «Auch ohne konkrete Beschwerden ist die Besorgnis um die eigene Gesundheit durch eine vermeintlich falsche Ernährung heute grösser als früher», so Ströbele-Benschop.
Und dann gibt es noch diejenigen, die im glutenfreien Restaurant sagten, so esse man heute eben. Ist das ein guter Grund für den Verzicht? Menschen ohne Verdauungsbeschwerden sollten nicht aus Modegründen oder vagen Vermutungen bestimmte Lebensmittel meiden, sagt die Allergologin Ballmer-Weber: «Damit kann man seiner Gesundheit auch schaden.» So könne etwa ein Vitamin- oder ein anderer Nährstoffmangel drohen, oder man nehme zu wenige Ballaststoffe zu sich. «Wer keine Beschwerden hat, sollte sich möglichst vielseitig und gesund im Sinne der etablierten Lebensmittelpyramide ernähren», sagt sie.
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