Montag, Oktober 7

Die Labour-Partei wirft der konservativen Vorgängerregierung vor, sie habe ihr das Land in einem desaströsen Zustand überlassen. Damit will Premierminister Starmer drohende Steuererhöhungen politisch den Tories anlasten.

Der Sieg von Keir Starmer und seiner Labour-Partei bei den Unterhauswahlen vor knapp zwei Monaten hatte einen Hauptgrund: Die Wählerinnen und Wähler hatten genug von der Konservativen Partei, die nach einer turbulenten Regierungszeit von vierzehn Jahren ihren politischen Kredit aufgebraucht hatte. Im Wahlkampf hatte sich Starmer darauf beschränkt, möglichst wenig Angriffsflächen zu bieten. Das genügte ihm, um sich von der Welle der Antipathie gegen die Tories ins Amt tragen zu lassen.

«Fäulnis» im britischen Staat

Am Dienstag nun hat der Labour-Chef im Rosengarten des Regierungssitzes an der Downing Street Nummer 10 seine erste programmatische Rede als Premierminister gehalten – und dabei deutlich gemacht, dass er die Unbeliebtheit der Tory-Partei auch im Amt weiter ausschlachten will.

Starmer inszenierte sich als Mann des einfachen Volkes und lud Lehrerinnen, Krankenpfleger, Lehrlinge und Feuerwehrleute in den Garten ein. Genüsslich erinnerte er das Publikum daran, dass Boris Johnsons Beamte im selben Garten vor wenigen Jahren wilde Lockdown-Partys feierten, während sie der gewöhnlichen Bevölkerung harte Corona-Restriktionen auferlegt hatten.

Der Premierminister bekräftigte, dass die Ankurbelung der Wirtschaft und die Schaffung von Wohlstand seine obersten Prioritäten seien. Doch nannte er die Lockdown-Partys als Beispiel für eine «Fäulnis», die nach vierzehn Jahren konservativer Herrschaft den britischen Staat befallen habe. Diese Fäulnis gelte es nun von Grund auf auszumerzen, um die Voraussetzungen für Wachstum zu schaffen.

Er verglich seine Aufgabe mit der Renovation eines Hauses, dessen Fundamente repariert werden müssten. «Alles ist noch viel schlimmer als gedacht», erklärte der Premierminister und ergänzte warnend, dass die Lage für die Bevölkerung zuerst noch einmal schlechter werde, bevor sie sich bessere.

Labour findet «schwarze Löcher»

Konkret wirft Starmer der Vorgängerregierung vor, in der Staatskasse einen Fehlbetrag hinterlassen zu haben, der um 22 Milliarden Pfund (24,5 Milliarden Franken) höher sei als ausgewiesen. Die Labour-Partei argumentiert, dieses «schwarze Loch» sei entstanden, weil die konservative Regierung zu wenig Geld für Lohnforderungen von Staatsangestellten oder für das Asylsystem budgetiert habe.

Zudem betont Starmer, auch das unabhängige Office for Budget Responsibility, das über die Nachhaltigkeit des Staatshaushalts wacht, sei vom Fehlbetrag überrascht worden. Doch hatten Experten im Wahlkampf wiederholt auf die sich abzeichnende Kluft zwischen budgetierten Mitteln und Verpflichtungen hingewiesen – weshalb die Überraschung von Starmer und seiner Schatzkanzlerin Rachel Reeves nun reichlich theatralisch anmutet.

Doch Starmer macht sich dieses Narrativ zunutze, um die Bevölkerung auf Steuererhöhungen einzustimmen – und diese politisch der Vorgängerregierung anzulasten. Im Wahlkampf hatte die Labour-Partei versprochen, die Bürgerinnen und Bürger mit zusätzlichen Abgaben zu verschonen. Nun aber kündigte Starmer für Oktober einen «schmerzhaften Staatshaushalt» an – vor allem für die Briten mit den «breitesten Schultern». Dies dürfte den sich bereits abzeichnenden Exodus von Millionären noch beschleunigen, wobei sich die Mehrbelastungen kaum auf Superreiche beschränken werden.

Laut Starmer hat die Labour-Regierung neben dem schwarzen Loch in der Staatskasse auch ein «gesellschaftliches schwarzes Loch» geerbt. Damit spielte er auf die ausländerfeindlichen Proteste an, die im Juli und August während etwa einer Woche für Krawalle, Gewalt und Chaos gesorgt hatten.

Starmer war den Unruhen mit staatlicher Repression begegnet. Doch gab er nun zu, dass er angesichts der überlasteten Justiz und der überfüllten Gefängnisse unsicher gewesen sei, ob der Staat die Übeltäter wirklich zur Rechenschaft ziehen könne. Dass kurzfristig nur dank der frühzeitigen Entlassung von Häftlingen genügend Platz in den Haftanstalten geschaffen werden könne, nannte Starmer als weiteres Beispiel für das «faule Erbe» der Konservativen

Neue Angriffsflächen

Starmer versprach, die Probleme grundsätzlich anzugehen statt auf kurzfristige Pflaster zu setzen. Allerdings verlor der Premierminister bei seiner Rede kaum ein Wort zu den strukturellen Hintergründen der Sommer-Unruhen: Weder liess er eine Strategie zur Bekämpfung der regionalen Ungleichheiten im Land erkennen noch einen neuen Plan zur Reduktion der hohen Migration, die eine Mehrheit der Britinnen und Briten inzwischen als wichtigstes Problem des Landes nennt.

Für Irritationen sorgt überdies, dass die Labour-Regierung trotz den Klagen über Geldmangel auf die Lohnforderungen des Bahnpersonals und der Assistenzärzte einging – was die Begehrlichkeiten weiterer Gewerkschaften zu wecken scheint.

Doch Starmer argumentiert, ein Ende der Streiks im öffentlichen Verkehr und im Gesundheitswesen sei eine Grundvoraussetzung für Wachstum, damit die Arbeitskräfte zur Arbeit fahren könnten und nicht monatelang auf eine medizinische Behandlung warten müssten. Dass die Regierung gleichzeitig den Rentnern die staatlichen «Heizsubventionen» streicht, sorgt aber für Kritik. Die Organisation Age UK schreibt, zwei Millionen Senioren drohten im anstehenden Winter in finanzielle Schwierigkeiten zu geraten.

Angriffsflächen bot Starmer in den letzten Tagen auch mit umstrittenen Personalien. So hat die Regierung mehrere Geldgeber der Labour-Partei in höhere Positionen innerhalb der Verwaltung berufen – etwa den Banker Ian Corfield, der nach einer Wahlkampfspende von rund 20 000 Pfund eine Stelle im Finanzministerium erhielt. Anders als etwa die Mitarbeiter der amerikanischen Bundesverwaltung werden die britischen Beamten nach einem Machtwechsel nicht ausgewechselt. Sie sind der politischen Neutralität verpflichtet, weshalb die Opposition nun Vetternwirtschaft wittert.

Die Vorwürfe passen schlecht zu Starmers Narrativ einer integren Regierung, die keine Partikularinteressen vertrete, sondern sich ganz in den Dienst der Bevölkerung stelle. Da er kaum zwei Monate im Amt ist, profitiert Starmer von einem Vertrauensvorschuss. Doch unendlich gross ist die arg strapazierte Geduld der Bevölkerung nicht.

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