Samstag, Dezember 21

Fixe Beträge für gewisse Eingriffe sollen die Kosten senken. Das Gegenteil werde passieren, sagen nun die Operateure warnend. Manche Behandlungen würden die Patienten gar nicht mehr bekommen.

In der Ärzteschaft brodelt es, die Rede ist von einer «existenziellen Bedrohung». Grund für den Unmut sind die neuen Tarife für ambulante Behandlungen, die ab dem Jahr 2026 gelten. So hat es der Bundesrat im Juni entschieden. Einerseits kommt der Tarif Tardoc, der die Vergütung von medizinischen Einzelleistungen regelt. Andererseits gibt es neu auch Pauschalen für 119 besonders häufige Eingriffe. Der Arzt bekommt also immer den gleichen Betrag, egal wie lange eine Operation dauert.

Im stationären Bereich funktioniert das gut: Die fixen Vergütungen zwingen die Spitäler, möglichst effizient zu arbeiten. Die ambulanten Pauschalen hingegen sind aus der Sicht der Ärzte ein Pfusch. Das Hauptproblem sei die fehlende Homogenität, schreiben die Verbände der Spezialisten in einem offenen Brief an den Bundesrat, der der NZZ vorliegt. Mit fehlender Homogenität ist gemeint, dass eine Pauschale verschiedene Leistungen versammelt, obwohl sich diese vom Aufwand her enorm unterscheiden können.

Ein Beispiel von vielen ist die Pauschale «Narben- und Weichteilkorrektur». Darunter fällt eine kleine Gewebeentfernung, die in weniger als 30 Minuten in Lokalanästhesie durchgeführt werden kann. Eine Weichteilkorrektur kann indes auch ein mehrstündiger Eingriff in Vollnarkose sein. Ein anderes Beispiel ist die Pauschale für Verbrennungen. Sie umfasst ein sehr heterogenes Gebiet – von einer Fingerkuppe, die jemand in die Geburtstagskerze gehalten hat, bis zur Verbrühung der ganzen Brust und des Bauchs.

Eine Goldgrube für findige Ärzte

Ein solcher Tarif kann für einen Arzt eine Goldgrube sein. Nämlich dann, wenn er sich auf jene Behandlungen spezialisiert, die relativ kurz dauern, aber die volle Pauschale bringen. Patienten, die kompliziertere Beschwerden haben, könnte der Praxisinhaber abwimmeln. Die Spitäler müssten die finanziell unattraktiven Fälle übernehmen. Deshalb weisen die Spezialistenverbände warnend darauf hin, dass ein hohes Risiko bestehe, dass sich die Situation für die Patienten verschlechtere.

Eine starke Verzerrung bringt laut den Ärzten zudem der Umstand, dass manche Pauschalen neben der eigentlichen Behandlung auch Material, Implantate sowie Labor- oder Gewebeuntersuchungen umfassen. Ein Beispiel ist die Untersuchung der Bronchien bei Verdacht auf Lungenkrebs (Bronchoskopie). Diese ist nicht besonders aufwendig. Erhärtet sich der Krebsverdacht nicht, kostet sie laut dem heutigen Tarif nur rund 230 Franken.

Bestätigt sich jedoch der Verdacht, braucht es nach bisheriger Praxis weitere molekularbiologische Untersuchungen am Gewebe. Dies, um Informationen darüber zu gewinnen, welche Krebstherapie den meisten Erfolg verspricht. Das wird teuer, derzeit gibt es für diese Diagnosestellung rund 3450 Franken.

Dieselbe Pauschale deckt also ein sehr grosses Spektrum ab. Der behandelnde Arzt muss nicht zuletzt aus finanziellen Gründen hoffen, dass sein Patient keinen bösartigen Krebs hat. Falls doch, könnte er versucht sein, die Nachfolgeuntersuchungen auf ein Minimum zu beschränken. Auch hier droht aus Sicht der Ärzteschaft also eine Unterversorgung.

Inputs wurden ignoriert

Im Brief der Spezialisten melden sich ebenfalls die Kinderchirurgen zu Wort. Bis auf ganz wenige Ausnahmen würden die bewilligten Pauschalen die besonderen Bedürfnisse von Kindern nach mehr Zeit, mehr Personal, mehr Zuwendung und langsameren Abläufen nicht berücksichtigen, kritisieren sie. «Kein Auffangen von kindlichen Ängsten, kein Adressieren von elterlichen Unsicherheiten, sondern Narkose und hopp, hopp.» Wenn ihre speziellen Bedürfnisse nicht abgegolten würden, könnten gewisse Leistungen im schlechtesten Fall nicht mehr erbracht werden, mahnen die Kinderchirurgen.

Besonders ärgert es die Spezialisten, dass ihre «sachdienlichen und konstruktiven» Inputs ignoriert worden seien. Das sei nicht nur ein Angriff auf die ärztliche Selbstbestimmung, sondern auch ein offener Bruch des gesetzlichen Mandats zur Tarifpartnerschaft.

Zuständig für die Erarbeitung der Pauschalen ist die Organisation ambulante Arzttarife (OAAT). In ihr vertreten sind die Ärztevereinigung FMH, der Spitalverband H+ und die beiden Krankenkassenverbände. Der OAAT-CEO Rémi Guidon sagt auf Anfrage, die von den Spezialisten kritisierten Pauschalen seien gemäss Berechnungen seiner Organisation bezüglich Aufwand als «homogen bis sehr homogen» einzustufen.

Die OAAT arbeitet allerdings unter grossem Zeitdruck. Der Bundesrat hat die Tarifpartner im Juni beauftragt, bis am 1. November einen Umsetzungsvertrag vorzulegen – sonst könnte das Bundesamt für Gesundheit einen «Staatstarif» diktieren. «Ignorant kurz und willkürlich» nennen die Spezialärzte die gesetzte Frist von ein paar Monaten. Unter diesen Umständen sei es nicht möglich gewesen, die Fachgesellschaften einzubeziehen, erklärt der OAAT-Chef Guidon. Für zukünftige Versionen könnten die Inputs der Mediziner jedoch berücksichtigt werden.

Einführung verschieben?

Doch diese Zusicherung reicht den Spezialisten nicht. Sie fordern den Bundesrat mit scharfen Worten auf, die Einführung der Pauschalen zu verschieben: Es sei weder rechtlich noch faktisch zwingend, diese zusammen mit dem Ärztetarif Tardoc in Kraft zu setzen. «Zeitliche Dringlichkeit ist kein Argument, um ein sensibles Gesundheitswesen gegen die Wand zu fahren.»

Es hat eine ironische Note, dass nun ausgerechnet die FMCH, der Dachverband der Chirurgen, gegen die Pauschalen kämpft. Denn es war die FMCH, die 2016 gemeinsam mit dem Krankenkassenverband Santésuisse anfing, fixe Vergütungen zu bewerben. Dies auch als Präventivmassnahme gegen staatliche Interventionen, vor denen sich die Chirurgen wegen des starken Kostenwachstums fürchteten.

Dass sich die Pauschalen dann in eine Richtung entwickelten, die den Spezialisten nicht passt, hat laut dem FMCH-Präsidenten Michele Genoni damit zu tun, dass 2021 die Spitäler zur Allianz von FMCH und Santésuisse stiessen. Anfänglich verlief die Zusammenarbeit noch harmonisch. Doch dann hätten die Interessen der Spitäler innerhalb der Tariforganisation zu viel Gewicht bekommen, finden die Praxisärzte.

Datenerhebung eine «Farce»

«Das zeigt sich daran, dass die Datenerhebung eine Farce ist», sagt Genoni – und verweist darauf, dass den Pauschalen nur Zahlen aus einem Bruchteil der Schweizer Spitäler zugrunde lägen, während Daten aus den Facharztpraxen komplett fehlen würden. «Weil die Eingriffe einer Pauschale in den Spitälern und nicht in den günstigeren ambulanten Praxen durchgeführt werden, besteht auch ein erhebliches Risiko, dass die Kosten noch stärker steigen», sagt Genoni.

Beim Spitalverband versteht man die Fundamentalopposition der Spezialisten nicht, wie die stellvertretende Direktorin Dorit Djelid sagt. Die Pauschalen seien gewiss noch nicht perfekt, aber sie würden auf Millionen von Daten beruhen – und damit die Realität deutlich besser und transparenter abbilden als der veraltete ambulante Tarif von heute. «Irgendwie muss man anfangen. Die Pauschalen werden immer präziser werden, wenn später auch die Daten aus den Praxen einfliessen», verspricht Djelid.

Auch das BAG sieht keinen Grund, mit der Einführung der ambulanten Pauschalen länger als bis am 1. Januar 2026 zu warten, wie eine Sprecherin auf Anfrage festhält. Dies nicht nur, weil das Parlament festgehalten habe, dass es rasch Pauschalen brauche, und es mehr Sinn ergebe, die Koordination mit dem Einzelleistungstarif vor der Inkraftsetzung sicherzustellen. Sondern auch, weil sich die Pauschalen im Vergleich zu den Vorversionen wesentlich verbessert hätten.

Auch für das BAG ist klar, dass in einer Pauschale Fälle mit ähnlichen Kosten zusammengeführt werden müssen. Die Sprecherin räumt ein, dass noch unklar ist, ob die Spitaldaten repräsentativ für die Spezialistenpraxen sind. Deshalb habe der Bundesrat verlangt, dass die Zahl der Pauschalen bei niedergelassenen Ärzten um mindestens 50 Prozent reduziert werde. «Die Pauschalen kommen in den Praxen somit vorerst nur sehr beschränkt zur Anwendung.»

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