Freitag, November 1

Florian Wenninger forscht zur Demokratiegeschichte. Er ordnet den Aufstieg des FPÖ-Chefs Herbert Kickl ein und erklärt, warum sich Österreichs rechte Partei noch weiter radikalisieren wird.

Obwohl die FPÖ Wahlsiegerin ist, wird die Partei unter Herbert Kickl von der Regierungsbildung ausgeschlossen. Schadet das dem FPÖ-Chef, Herr Wenninger?

Nein. Im Gegenteil. Als Oppositionspartei wird die FPÖ nicht dafür verantwortlich gemacht werden, wie sich die wirtschaftliche und soziale Lage entwickelt. Wenn sich die derzeitigen Prognosen bewahrheiten, wird Kickl davon profitieren.

Der Konfrontationskurs bewährt sich für Kickl also auf ganzer Linie?

Kickl ist ein kluger Politiker. Er ist einerseits der radikalste Vorsitzende, den die FPÖ je hatte. Andererseits hat Kickl verstanden, dass er seinen Ton mässigen muss, wenn er noch erfolgreicher werden will. Die FPÖ hat dieses Jahr einen handwerklich guten Wahlkampf geführt, der viel weniger aggressiv war als früher. So hat sich die Partei als respektable Alternative inszeniert. Und ich glaube, der Wunsch nach einer Alternative wird auch bei der nächsten Wahl ungebrochen sein.

Kickl sucht die Nähe zu rechten Politikern in Ungarn, Tschechien und der Slowakei. Ist das eine Sehnsucht nach der alten Grösse der Habsburgermonarchie?

Nein. Kickl denkt nicht an das Kaiserreich. Er schliesst sich einfach mit jenen Kräften in den Nachbarstaaten zusammen, denen er sich aufgrund ihres autoritären Politikverständnisses, ihres Antiliberalismus und ihrer Fremdenfeindlichkeit verbunden fühlt. Sein grosses Vorbild bei alldem ist der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban.

Das Kaiserreich ist in Österreich aber allgegenwärtig. Denke ich an Österreich, sehe ich Sisi und Franz vor mir.

Das ist auch kein Zufall. Das Kaiserpaar wurde in der Hochphase des österreichischen Nation-Buildings nach 1945 beliebt. Jede Nation muss sich eine Identität aufbauen. In der Regel tut sie das, indem sie auf eine scheinbar gloriose Vergangenheit verweist. In Österreich geschah das nach dem Zweiten Weltkrieg unter Rückgriff auf die Habsburgermonarchie. Die Sehnsucht nach einer heilen Welt war gross. Der Sisi-Franzl-Zuckerguss kam da gerade recht.

Die Österreicher sehnen sich also doch nach dem Kaiserreich zurück.

Diese Verklärung von Franzl und Sisi hat sich interessanterweise nie ins Politische übertragen. Man denkt lieber nostalgisch an den Kaiser, als dass man ihn sich zurückwünscht. Spätestens seit den 1970er Jahren begreifen die Österreicher ihren Kleinstaat ausserdem als Vorteil. Im Geschichtsunterricht in der Schule lernen die Kinder zwar noch: Wir waren mal wer. Aber will man wieder wer werden?

Die Österreicher wollen das nicht?

Nein. Mal abgesehen davon, dass niemand mit uns eine Grossmacht würde bilden wollen, lehrt das 20. Jahrhundert recht eindrücklich, dass Grossmachtpolitik einen Preis hat. Den wollen die wenigsten bezahlen.

Zur Person

PD

Florian Wenninger

Der 46-Jährige ist ein österreichischer Historiker und Politologe. Er widmet sich vor allem der Zeitgeschichte. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die österreichische Demokratie- und Diktaturgeschichte sowie historische Identitätsbildung. Er ist Leiter des Instituts für Historische Sozialforschung in Wien.

Trotzdem wählen 29 Prozent aller Österreicher mit der FPÖ eine nationalistische Partei mit autoritären Tendenzen.

Genau. Die Frage ist: Woher kommt der Autoritarismus?

Und, woher kommt er?

Schauen wir nach Ostmitteleuropa: Die Demokratisierung in Österreich war ein langer und schwieriger Weg, den man in den ehemaligen Ostblockstaaten so nicht gehen konnte. Trotzdem haben wir heute sowohl in Österreich als auch in Ungarn, Tschechien oder Polen starke autoritäre Strömungen. Der Autoritarismus speist sich also nur zum Teil aus einer fehlenden demokratischen Tradition. Viel wichtiger ist die ökonomische Lage. Die stark gestiegenen Lebenshaltungskosten setzen die Menschen unter Druck. Und Menschen unter Druck suchen nach Verantwortlichen. Genau die liefert ihnen die politische Rechte, auch wenn sie sonst wenig anzubieten hat.

Aber den Menschen in Österreich geht es deutlich besser als den Menschen in Ungarn oder Tschechien.

Im europäischen Vergleich steht Österreich ziemlich gut da. Die Frage ist aber, mit wem man sich vergleicht. Mit Entwicklungen in anderen Staaten, über die man kaum etwas weiss? Oder mit dem eigenen Umfeld? Die Wohnungspreise sind vielerorts enorm gestiegen, ein Eigenheim ist für viele Normalverdiener unerschwinglich geworden. Die gegenwärtige Generation wird das Wohlstandsniveau der vorherigen nicht mehr erreichen. Das verbittert die Menschen.

Und deswegen unterstützt man eine Partei mit einem offen rechtsextremen Chef?

Nach 1945 wurde in Deutschland der Rechtsextremismus in die Illegalität verbannt. Entstanden ist ein nationalsozialistischer Untergrund. Diesem ist es nun in Teilen gelungen, die rechte Protestpartei AfD zu übernehmen. In Österreich war dieses Milieu nie im Untergrund. Bei uns gründete im Jahr 1956 ein SS-General die FPÖ. Die Partei wurde in das politische System integriert. Das hat vorübergehend mässigend gewirkt. Doch seit Jahrzehnten radikalisiert sich die Partei zunehmend und verändert die Gesellschaft.

Wie hat die Partei die Gesellschaft verändert?

Die FPÖ hat in den 1980er Jahren begonnen, Wahlkämpfe mit dem Thema Ausländer zu führen – mit all jenem Radikalisierungspotenzial, das dem innewohnt. Mittlerweile haben wir es mit der dritten Generation zu tun, die mit rassistisch aufgeladenen Wahlkämpfen politisch sozialisiert wurde. In Österreich ist eine aggressive Fremdenfeindlichkeit konsensfähig geworden, die es in anderen europäischen Ländern noch nicht ist.

Sind denn alle Menschen in Österreich unzufrieden?

Es gibt da einen interessanten Widerspruch. Die Menschen auf dem Land rücken nach rechts, in der Stadt wählt eine Mehrheit weiterhin eher links. Dieses Gefälle hat historisch viel mit der dominanten Stellung der Kirche auf dem Land zu tun. Doch die ist dahin. Heute nutzen die Menschen in der Stadt und auf dem Land die gleichen Medien. Gesellschaftspolitisch ist die Landbevölkerung spürbar liberaler geworden, das Dorf hat sich sozusagen der Welt geöffnet. Trotzdem verfestigt sich der Gegensatz zwischen Stadt und Land.

Haben Sie eine Erklärung dafür?

Die Stadt war für das Dorf schon immer der Inbegriff alles Fremden. Früher sagten viele Menschen auf dem Land, die Stadt sei voller Juden. Heute sagen sie, es gebe dort zu viele Ausländer. Auf dem Land denkt man also nach wie vor in ethnischen Kategorien über die Stadt. Die Menschen in der Stadt gehören gedanklich nicht zur Nation. Auch das kann eine Erklärung sein, warum die FPÖ so erfolgreich ist.

Kickl hat die Migration geschickt für seine Zwecke genutzt.

Alle Führungspersonen der FPÖ seit den 1980ern haben die rassistische Agitation weiter zugespitzt. Insofern ist Kickl überhaupt keine Überraschung. Neu bei ihm ist, dass er unverhohlener als seine beiden Vorgänger mit dem äussersten rechten Rand in Kontakt steht. Mit ihm betritt die FPÖ die nächste Stufe: Die Partei folgt offen einer völkischen Ideologie, wie sie auch der Nationalsozialismus vertrat. Was macht unsere Nation aus? Das ist eine Debatte, vor der sich Kickls Ziehvater Jörg Haider gedrückt hat. Kickl sagt heute sehr offen: Die Nation ist eine Blutsgemeinschaft. Wer als Migrant oder Migrantin die Staatsbürgerschaft erworben hat, gehört noch lange nicht dazu. Bei Fehlverhalten droht «Remigration», also Deportation.

Kann sich die FPÖ denn überhaupt noch weiter radikalisieren?

Ich möchte als Historiker nicht berufspessimistisch sein, aber was ich als Haupttreiber für den Aufstieg der Rechten halte, verstärkt sich weiter. Die sozioökonomische Lage wird die Unzufriedenheit der meisten Menschen wachsen lassen. Da hat auch die FPÖ ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. Und ich sehe wenig Indizien dafür, dass sie sich dabei mässigt.

Immerhin ist Österreich nicht Europa . . .

Diesen Impuls verstehe ich. Aber die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft durch rechte Parteien ist kein österreichisches Alleinstellungsmerkmal. Ähnliches geschieht auch in Deutschland mit der AfD, in Österreich ist der Prozess bloss weiter fortgeschritten. Einen Unterschied gibt es immerhin: Wir sind innerhalb der Europäischen Union ein Micky-Maus-Staat. Wir gefährden nur uns selbst.

Das klingt schon pessimistisch . . .

Alles, was ich in der Politik beobachte, ist zum Fürchten. Selbst eine so alte Demokratie wie die USA gerät ins Wanken. Die Situation ist in Europa zwar noch nicht so prekär, aber wir sehen ähnliche Radikalisierungstendenzen. Und diese Radikalisierung wird sich verstärken. Ich sehe keine ernstzunehmende Kraft, die dem entgegentritt, sondern vielmehr Ratlosigkeit. Um den Aufschwung der rechten Parteien zu stoppen, muss es uns gelingen, einen gesellschaftlich breit geteilten Gegenentwurf zu entwickeln. Dafür brauchen wir eine positive Zukunftsvision, die Aussicht auf ein besseres Leben. Andernfalls ist unsere Demokratie in Gefahr.

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