Mittwoch, März 19

Frühling 1945: Der Krieg war für das Deutsche Reich verloren, Hitlers Getreue begannen sich abzusetzen. Die Verlautbarungen des «Führers» schwankten zwischen Fanatismus und Resignation.

«Alle militärischen Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte innerhalb des Reichsgebiets, die sich der Feind für die Fortsetzung seines Kampfes irgendwie sofort oder in absehbarer Zeit nutzbar machen kann, sind zu zerstören»: So lautete Hitlers sogenannter «Nero-Befehl» vom 19. März 1945. Er zielte darauf ab, dass auf dem Gebiet des Grossdeutschen Reiches – das damals schon ein Rumpf-Reich war – die Eroberer im Westen wie im Osten buchstäblich verbrannte Erde vorfinden sollten.

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Schon in seiner letzten Rundfunkansprache vom 30. Januar 1945 an die «Volksgenossinnen und Volksgenossen» hatte Hitler den langen Abschied von den Deutschen eingeleitet. Im Untergang zeigte sich, wie sehr er sich von seinem Volk gelöst, wie sehr er die Begriffe «Nation» und «Volksgemeinschaft» für seine Weltanschauung missbraucht hatte. Mehr als die Forderung nach fanatischer Pflichterfüllung fiel dem «Führer» nicht mehr ein.

In seiner letzten Proklamation an die Wehrmacht vom 11. März 1945 zum «Heldengedenktag» hatte er Vergleiche zwischen der Lage des Grossdeutschen Reiches und Preussen im Siebenjährigen Krieg gezogen. Er sprach davon, «mit verbissener Entschlossenheit alles zu tun, um den Gefahren zu trotzen, die Wende wieder herbeizuführen».

«Es fällt nur, was als zu leicht befunden wird

Das war der Versuch, mit dem Pathos der Verzweiflung den Zeitpunkt der bedingungslosen Übergabe noch um ein paar Monate hinauszuzögern. In der Sprache des «Dritten Reiches» betonte der Diktator immer wieder, die «Vorsehung» zugunsten des Grossdeutschen Reiches zu zwingen: «Es fällt in der Geschichte nur, was als zu leicht befunden wird, und der Gott der Welten hilft nur dem, der sich selbst zu helfen entschlossen ist.» Wenn sich das deutsche Volk als das schwächere erwies, hiess das, so hatte es nicht verdient, zu überleben.

Die Weigerung, rechtzeitig abzutreten und den Krieg zu beenden und die Gleichsetzung des eigenen Schicksals mit demjenigen des Deutschen Reiches sind Ausdruck einer Überheblichkeit, die auch angesichts der Niederlage nicht vom beispiellosen Mord an den europäischen Juden abrückte und den Beinahe-Untergang des deutschen Volkes für die Verlängerung des Regimes in Kauf nahm.

Wie sehr sich Hitler damals schon von seiner Entourage entfernt hatte, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass selbst in seiner engsten Umgebung nichts unversucht gelassen wurde, um die Konsequenzen des Zerstörungsbefehls möglichst klein zu halten. Die Ausführungsbestimmungen des Oberkommandos der Wehrmacht vom 30. März sowie Ergänzungsbestimmungen vom 4. April waren geeignet, den Befehl in wesentlichen Teilen ausser Kraft zu setzen.

Dass dies gelang, hat viel mit der Obstruktion von Hitlers Rüstungsminister Speer zu tun. Das für die Kriegsproduktion zuständige Kabinettsmitglied tat alles, um die Waffenproduktion und die Maschinerie des totalen Krieges auch unter widrigen Bedingungen intakt zu halten. Speer blieb bis zuletzt der gläubige Nationalsozialist, der sich nicht von Hitlers Bann löste. Und doch verfolgte er eine eigene Agenda, die auf die Nachkriegsentwicklung gerichtet und darauf bedacht war, nichts mit verbrannter Erde zu tun zu haben.

Ribbentrop will verhandeln

Mitte März 1945 war die militärische Lage des Deutschen Reiches verheerend. Am 13. März hatte der Grossangriff der 3. Ukrainischen Front gegen den Verteidigungsraum der 4. Deutschen Armee in Ostpreussen im Raum Heiligenbeil begonnen. Königsberg war von seinen Verbindungen nach Südwesten abgekappt. In Oberschlesien begann die Offensive der 1. Ukrainischen Front, und die 1. US-Armee stand kurz davor, im Westerwald die deutschen Kräfte zu zerschlagen und weiter nach Osten, Südosten und Nordosten vorzudringen.

Überall gab es Absetzbewegungen. Aussenminister Ribbentrop hatte im Februar 1945 Friedensfühler bei den Westalliierten ausstrecken lassen. Der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, war dabei, auf eigene Faust über seinen Masseur Felix Kersten den Westmächten Sondierungen und den Freikauf von Juden aus Konzentrationslagern anzubieten. Die meisten von Hitlers Paladinen waren westorientiert, nur Goebbels hätte eine Einigung mit Stalins Sowjetunion bevorzugt.

Hitler war Realist genug, um einzusehen, dass er alle Karten verspielt hatte. Vom Luftwaffenadjutanten Nicolaus von Below ist überliefert, dass er Hitler nie verzweifelter erlebt habe als nach dem Scheitern der letzten militärischen Offensive, der Ardennenoffensive, gegen Jahresende 1944. Die Operation «Wacht am Rhein», der Vorstoss von der Eifel über die Ardennen und die Maas bis Antwerpen, sollte Briten und Amerikaner voneinander trennen, einen neuen deutschen Westfeldzug vorbereiten und den Deutschen freie Hand im Osten verschaffen.

Es war militärisches Wunschdenken, an dem Hitler wohl auch deshalb so hartnäckig festhielt, weil er hoffte, die Westalliierten dadurch zum Frieden bringen zu können. Die Ardennenoffensive, die zwischen Monschau und Echternach zunächst als Überraschungsschlag erfolgreich begonnen hatte, war schon noch wenigen Tagen, Weihnachten 1944, gescheitert.

«Wir kapitulieren nicht, niemals»

Der Reichskanzler, damals schon ein körperliches Wrack, suchte die «Verräter» in den eigenen Reihen im Heer und in der Luftwaffe, wie Below ihn zitierte: «Ich weiss, der Krieg ist verloren, die Übermacht ist zu gross». Doch dann gab er trotzdem wieder das Mantra der letzten Monate aus: «Wir kapitulieren nicht, niemals» – eine leere Parole in einer ausweglosen Situation.

Militärisch war die bedingungslose Übergabe alternativlos. Anfang Februar 1945 hatte eine grosse britische Offensive zwischen Maas und Niederrhein begonnen, die Beschlüsse der Jalta-Konferenz über die Aufteilung des Reiches brachten Ernüchterung über die tatsächliche politische Lage, die Luftangriffe der Briten und Amerikaner am 13. und 14. Februar 1945 auf Dresden, der scheinbar unaufhaltsame Vormarsch der sowjetischen Kräfte erforderten den Rückzug an die Oder.

Als Generaloberst Heinrici, der am 20. März den Oberbefehl der Heeresgruppe Weichsel vom militärischen Dilettanten Heinrich Himmler übernehmen sollte, sich mit dem Generalstabschef Heinz Guderian traf, hatte er ein verheerendes Bild von den beiden ihm unterstellten Armeen.

«Ich fand Korps, die keine Korps, und Divisionen, die keine Divisionen waren», hielt er fest: «Es handelte sich, mit wenigen Ausnahmen, um schnell zusammengeraffte und zusammengewürfelte Verbände.» In den unteren und mittleren Stellen waren Offiziere und Unteroffiziere, die den Krieg bisher nur an Schreibtischen erlebt hatten, dazu kamen Luftwaffen- und Marinesoldaten ohne Erfahrung im Landkrieg.

Gang in die Unterwelt

Der «Nero-Befehl» ist ein Dokument des Wirklichkeitsverlusts, den Hitler aus einer Art Rache am deutschen Volk vollzog. Mitte Januar hatte er sich in die Reichskanzlei nach Berlin zurückgezogen und musste wegen der Fliegerangriffe immer häufiger den acht Meter tief gelegenen Bunker in deren Garten aufsuchen.

Der körperliche Verfall, die Schlafverschiebung zwischen Tag und Nacht, das ständige Surren der Lüftungsanlage: Hitlers Untergang ging sein Gang in die Unterwelt voraus, zwischen militärischer und politischer Lage war nicht mehr zu trennen. Auch Albert Speer wusste, dass der Krieg verloren war.

In einer 22-seitigen Ausarbeitung hatte er die sofortige Einstellung aller Massnahmen verlangt, die geeignet seien, die Lebensgrundlagen des deutschen Volkes zu beeinträchtigen. Am Vorabend seines vierzigsten Geburtstags am 19. März 1945 überreichte Speer Hitler eine Denkschrift, in der er alle Argumente zusammentrug, um sich gegen eine Politik der verbrannten Erde zu wenden.

Speer argumentierte, «ein jähes Durchhalten an der jetzigen Front für einige Wochen» könne dem Gegner Achtung abgewinnen «und vielleicht doch noch das Ende des Krieges günstig stimmen». Das war reines Wunschdenken. Und Hitler duldete von seinem Architekten und Rüstungsminister keinen Widerspruch. In einer roten Lederkassette händigte er Speer als Geburtstagsgeschenk ein signiertes Porträtbild aus und versprach eine schriftliche Antwort. Sie erging am Tag darauf, dem 19. März, in Gestalt des «Nero-Befehls».

Befehl in allerletzter Stunde

Es waren Hitlers Helfer aus der ersten Reihe wie Speer und Goebbels, die dafür sorgten, dass selbst im Frühjahr 1945 das Räderwerk des ächzenden NS-Staates noch lief. Längst schon hatte der Bombenterror ein normales Leben auf dem Reichsgebiet unmöglich gemacht. Ganze Stadtteile wurden evakuiert, Schul- und Hochschulbetrieb aufgrund von Fliegeralarm unterbrochen, Produktionsstätten waren in unterirdische Hangars und Höhlen verlagert.

Doch noch hämmerten die Durchhalteparolen des «Völkischen Beobachters» und der «Wochenschau» auf die ermatteten Deutschen ein. Thomas Carlyles Schilderung des Siebenjährigen Krieges hatte Goebbels als Lektüre wiederentdeckt und dem zu Tränen gerührten Hitler vorgelesen. Erst jetzt war die Rüstungsproduktion mit den Bombenangriffen auf die Zulieferbetriebe und Hydrierwerke empfindlich getroffen.

Am 15. Februar war Hitler zum letzten Mal an der Front. Er besuchte Heeresverbände in der Nähe von Frankfurt an der Oder. Dass er in eine Scheinwelt geflüchtet war, zeigte sich auch daran, dass er sich nach den täglichen militärischen Lagebesprechungen in die Gesellschaft seiner Sekretärinnen, Ordonnanzen und Begleitärzte zurückzog, um Themen zu erörtern, die nichts mit der Lage zu tun hatten.

Stundenlang fabulierte er mit seinem Architekten Giesler über den Wiederaufbau seiner Heimatstadt Linz. Beförderungen wurden ausgesprochen, Feldmarschälle waren zu Gast im Bunker der Reichskanzlei. Die Teilung des Reichsgebietes in eine nördliche und südliche Hälfte stand unmittelbar bevor. Am 15. April sollte in allerletzter Stunde der Befehl ergehen, der die Verantwortung für den Nordraum Grossadmiral Dönitz und jene für den Südraum Feldmarschall Kesselring übertrug.

Am 22. April wurde Hitler von seiner Entourage bedrängt, die Stadt zu verlassen. Erst jetzt beschloss er, in Berlin zu bleiben und sich das Leben zu nehmen. Hitlers Satz «Ich höre immer erst fünf Minuten nach zwölf auf» wurde am 30. April mit seinem Selbstmord bestätigt.

Ulrich Schlie ist Historiker und Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn.

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