Sonntag, Oktober 6

Unter den Taliban haben die Afghanen ihre Rechte, Freiheiten und Träume verloren. Ein Staatsanwalt, eine Hausfrau und ein Musiker erzählen von rastlosen Nächten.

Der Staatsanwalt

Ali Qazizadah* liegt reglos neben seiner Frau und starrt in die Dunkelheit. Die Luft ist stickig und heiss, über 40 Grad ist es in diesen Sommernächten in Kabul. Der 50-Jährige liegt aber nicht deshalb wach: Ali hatte eine Panikattacke, wieder einmal, sein Herz rast.

Seit die Taliban im August 2021 in Afghanistan die Macht ergriffen haben, schläft er kaum mehr. Bevor er sich gegen Mitternacht auf die dünnen Kissen neben seine Frau legt, nimmt er zwei Schlaftabletten. So döst er wenigstens zwei, drei Stunden. Bei jedem Geräusch schreckt er auf. Wenn ein Motorrad durch die Strasse vor der Mietwohnung im Nordwesten von Kabul fährt, denkt er jedes Mal, die Taliban kämen. Die Angst, entdeckt zu werden, ist immer da, aber nachts erstickt sie ihn fast.

In den vergangenen drei Jahren sind Ali und seine Familie mehrmals umgezogen. Einmal tauchte er auch für eine Weile allein bei einem Freund in einer anderen Stadt unter, um seine Spur zu verwischen. Die Taliban erkundigen sich regelmässig bei Verwandten und Bekannten nach ihm. Auch sein Haus überwachen sie. Seit jener chaotischen Nacht, in der er untergetaucht ist, war er nie mehr dort.

Zur Recherche

Die Autorin Andrea Spalinger hat Afghanistan als Südasien-Korrespondentin in den letzten Jahrzehnten häufig besucht. Unter den Taliban sind Recherchen für Journalisten aber schwierig geworden. Für diesen Artikel hat unsere Autorin über Whatsapp mit zahlreichen Frauen und Männern im Land gesprochen. Mit den drei Protagonisten führte sie zusammen mit einem Übersetzer mehrstündige Telefongespräche und Videoanrufe. Die drei haben uns zum Veranschaulichen verschiedener Szenen zudem Fotos aus ihrem früheren und ihrem heutigen Leben geschickt.

Er vermisst das alte Haus, das er von seinem Vater geerbt hat. All seine sechs Kinder wurden dort geboren. Es ist freundlich und hell im Vergleich zu dieser düsteren Wohnung, in der er nun festsitzt. Selbst im Hochsommer dringt kein Sonnenstrahl hinein. Und sie ist eng, sie leben zu acht in drei kleinen Zimmern. Deshalb haben sie keine Betten mehr und schlafen auf Kissen am Boden.

Ali war einst furchtlos. Als Staatsanwalt hatte er Schwerverbrecher hinter Gitter gebracht, die drohten, ihn zu zerstückeln, wenn sie freikämen. Auch die Taliban sahen in ihm einen Feind, da er den verhassten demokratischen Staat repräsentierte und eng mit den Nato-Truppen zusammenarbeitete. In ihren Augen verdiente er dafür den Tod. Mehrere seiner Arbeitskollegen wurden in ihrem Dienstwagen durch Bomben getötet.

Geschlafen hatte Ali damals trotzdem gut. Er vertraute den afghanischen Sicherheitskräften und den Geheimdienstlern, die sein Viertel überwachten, weil dort viele hohe Beamte wohnten, und wenn Ali beruflich unterwegs war, bekam er Polizeischutz. Er vertraute auch den westlichen Verbündeten. Als Staatsanwalt begleitete er ihre Soldaten bei Such- und Verhaftungsaktionen. Er besuchte etliche Konferenzen, auf denen Amerikaner und Europäer den Afghanen erklärten, wie sie ihren Justizapparat aufzubauen hätten.

Er dachte nie, dass sie Afghanistan überstürzt verlassen würden. Wie er nun wach liegt und darüber nachdenkt, fühlt er sich verraten.

Terroristen, Vergewaltiger und Mörder, gegen die Ali ermittelt hatte, sind wieder auf freiem Fuss. Sie haben ihm mit dem Tod gedroht.

Als Staatsanwalt hatte Ali Qazizadah so viel zu tun, dass er abends müde ins Bett sank. Nun sitzt er tagsüber nur herum und fühlt sich nutzlos. Die Taliban haben die Staatsanwaltschaft aufgelöst, 6500 Angestellte verloren ihren Job.

Wie Hunderttausende andere afghanische Staatsangestellte, die im Islamischen Emirat unerwünscht oder überflüssig geworden sind. Politiker und Beamte, Polizisten und Soldaten haben nicht nur ihr Einkommen verloren, sie sind zu Staatsfeinden geworden. Vor allem jene, die wie Ali höhere Positionen innehatten. Drei Staatsanwälte, mit denen er befreundet war, wurden in den turbulenten Wochen nach dem Sturz der demokratischen Regierung umgebracht. Andere sind ins Ausland geflohen oder wie er untergetaucht.

Ali verlässt die beengende Dreizimmerwohnung kaum je, und wenn, dann abends, wenn sich der Nachtschatten über Kabul gelegt hat und ihn niemand sogleich erkennt. Dazu hat er sich auch einen Bart wachsen lassen. Schleicht er sich aus dem Haus, trägt er einen beigen Salwar Kamiz, den traditionellen Zweiteiler aus einem längeren Hemd über einer lockeren Hose. Er fühlt sich komisch, fast wie ein Verräter an seinen Idealen. Als Staatsanwalt trug er stets einen Anzug und rasierte sich jeden Morgen. Er hatte sich als moderner Mann gefühlt, doch im Land der Mullahs sind moderne Männer unerwünscht. Sie fallen auf, werden kontrolliert und belästigt. Strenge Kleidervorschriften gelten nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer.

Die Taliban haben Tausende von Kriminellen freigelassen, auch Schwerverbrecher. Wer behauptete, Islamist zu sein, kam auf freien Fuss, nicht nur Terroristen, auch Vergewaltiger und Mörder, gegen die Ali ermittelt hatte. Mehrere von ihnen schickten ihm über Verwandte Drohbriefe, in denen sie Rache schworen.

Nicht nur die Angst, umgebracht zu werden, hält Ali in dieser Nacht wach. Er fragt sich auch bange, wie er für seine Familie sorgen soll. Seit drei Jahren verdient er nichts mehr. Er hat sein ganzes Erspartes aufgebraucht und den Familienschmuck verkauft. Im Dunkeln liegt er und schwitzt, das dünne Leintuch klebt an seinem Körper.

Ali hat vier Töchter und zwei Söhne im Alter zwischen 7 und 27 Jahren. Die Buben sind noch zu klein zum Arbeiten, die Töchter dürfen das nicht mehr. Nur seine älteste unterrichtet an einer privaten Primarschule. Das erlauben die Islamisten noch. Doch für wie lange? Die Tochter verdient 6000 Afghani im Monat, das einzige Einkommen der Familie, umgerechnet 70 Franken. Ali hatte früher als Staatsanwalt 40 000 Afghani verdient.

Ali erinnert sich in seinen schlaflosen Stunden an sein komfortables früheres Leben. Er konnte seinen Kindern eine gute Ausbildung ermöglichen, auch den vier Mädchen. Er war stolz darauf. Sie sollten ihrem aufblühenden Land nützlich sein.

In den vergangenen zwanzig Jahren machte Afghanistan mit westlicher Hilfe grosse Fortschritte bei Bildung und Gleichberechtigung. Die meisten nutzten die Chance und schickten ihre Buben und Mädchen zur Schule oder sogar an die Universität. Viele Frauen in den Städten begannen zu arbeiten, als Lehrerinnen oder Krankenschwestern, als Journalistinnen oder Anwältinnen, als Polizistinnen oder Unternehmerinnen.

Als die Taliban erneut an die Macht kamen, hofften viele, sie würden sich anpassen und auf die Stimmung im Volk Rücksicht nehmen. Doch die Hardliner unter den Mullahs setzen sich durch. Modernes Wissen hat in ihrem Emirat keinen Wert – und Frauen noch weniger. Mädchen dürfen nur noch die Primarschule besuchen, Frauen arbeiten nicht mehr in staatlichen Betrieben und dürfen auch sonst nur unter strengen Auflagen tätig sein.

Die Afghaninnen sind verzweifelt, aber auch viele Männer teilen ihr Unglück. Sie möchten ihre Töchter zur Schule schicken. Nicht nur Väter aus der hauptstädtischen Mittelschicht wie Ali, der überzeugt ist, dass ein Land ohne Frauen nicht funktionieren kann. Auch Männer in ländlichen Gegenden investierten in den vergangenen Jahren in die Ausbildung ihrer Töchter. Nun sitzen diese wie Gefangene zu Hause, untröstlich.

Ali macht sich am meisten Sorgen um seine Zweitälteste. Sie ist 25 und war im letzten Jahr des Medizinstudiums, als die Taliban Kabul eroberten. Sie war selbstbewusst und wollte Zahnärztin werden. Nun liegt sie den ganzen Tag apathisch im Zimmer und spricht kaum mehr mit ihm. Vor zwei Monaten war Ali mit ihr beim Psychiater. Es fällt ihm schwer, darüber zu sprechen.

Psychische Probleme sind in Afghanistan von jeher ein Tabu. Die sowjetische Besetzung, der grausame Bürgerkrieg, die erste Herrschaft der Taliban von 1996 bis 2001 und der Terror der Islamisten in den Jahren danach haben in der Gesellschaft schwere Traumata hinterlassen. Darüber gesprochen wurde nicht, auch gebildete Afghanen litten lieber still hinter den hohen Lehmmauern ihrer Häuser.

Viele Menschen in Afghanistan sind heute abhängig von Psychopharmaka, noch mehr von Schlaftabletten wie Ali.

Nun sind die Probleme kaum mehr zu verbergen. «Es ist wie eine Epidemie», denkt Ali in dieser schlaflosen Nacht. Jeder, den er kennt, scheint an Angstzuständen zu leiden oder sich zu sorgen um depressive Ehepartner oder Kinder. Der Psychiater, bei dem er mit der Tochter war, hat ihm auch gesagt, so schlecht habe es um die psychische Gesundheit im Land noch nie gestanden.

Das Reich der Taliban ist ein Reich der Schlaflosen und der Depressiven. Wahrscheinlich trifft es die Afghaninnen und Afghanen diesmal so schwer, weil sie in den letzten zwei Jahrzehnten gelernt haben, zu hoffen und zu träumen, um dann mit einem Schlag alles zu verlieren. Vor allem die jungen Frauen erdulden die archaischen Regeln der Islamisten nicht mehr mit der Unterwürfigkeit ihrer Mütter, ihre Psychen rebellieren.

Viele Menschen in Afghanistan sind laut Ärzten heute abhängig von Psychopharmaka, noch mehr von Schlaftabletten wie Ali. Beides ist in dem südasiatischen Land leicht zu bekommen, in der Apotheke ohne Rezept. Zumindest für jene, die ein paar Franken im Monat übrig haben. Man könnte sagen, das sei ein Glück, denn sonst litten die Menschen im Land psychisch noch mehr. Langfristig dürfte die Abhängigkeit von Medikamenten jedoch ein ernstes Problem für die Gesellschaft werden.

Wie er in seinem dunklen Zimmer ins Nichts starrt, erinnert sich Ali an den Abend, als er mit seiner Tochter beim Psychiater war. Die Praxis war übervoll mit Hilfesuchenden. Sie hatten einen Termin um 17 Uhr, um 1 Uhr morgens waren sie an der Reihe. Der Arzt verschrieb seiner Tochter ein Antidepressivum, seither geht es ihr ein wenig besser. Das verschafft ihm Raum für Gedanken rund um das Wohlergehen seiner anderen Töchter. «Was, wenn auch diese erkranken?», fragt sich Ali, «Ich habe nicht das Geld, um sie alle behandeln zu lassen.»

Ali weiss, dass auch seine Töchter im Zimmer nebenan nicht schlafen. Wenn er nach einer Panikattacke in die Küche schleicht, um ein Glas Wasser zu holen, brennt im Zimmer der Mädchen meist Licht, oder er sieht durch den Türspalt den flackernden Fernseher. Nachts gibt es ein paar Stunden Strom, tagsüber müssen sie ohne auskommen. Das liegt nicht nur an ihrem sozialen Abstieg, auch in besseren Quartieren Kabuls häufen sich die Stromausfälle.

Kabul zählt 5 Millionen Bewohner. Die Infrastruktur ist chronisch überlastet. Unter den Taliban verschärften sich Missmanagement und Geldknappheit. Die zuständigen Mullahs in den staatlichen und städtischen Behörden haben weder Verwaltungserfahrung noch fachliche Kenntnisse. Zudem fehlt es dem Regime an Geld, um teuren Strom zu importieren. In dem ärmlichen Wohnblock, in dem sich Ali momentan versteckt, gibt es kein fliessendes Wasser mehr. Nicht nur das Wasser, das er nun in der schmalen Küche durstig trinkt, auch jenes zum Waschen und Kochen müssen sie an den Tankwagen kaufen, die alle paar Tage durchs Viertel fahren.

Nur in den Vierteln, in denen Taliban-Funktionäre wohnen, gibt es kaum Engpässe. Die Gotteskrieger, die sich einst dem Kampf gegen die Korruption verschrieben hatten, haben selbst ein System der Privilegien und der Vetternwirtschaft geschaffen. Viele von ihnen wohnen in der einst bei Politikern und Expats beliebten Innenstadt. Einer ihrer Minister hat es sich gar im Haus des geflohenen Präsidenten Ashraf Ghani gemütlich gemacht.

«Die Taliban schlafen wohl besser als ich», denkt sich Ali, während er durch das zerbrochene Küchenfenster zum Sternenhimmel hochschaut. «Ob sie stolz darauf sind, wie sie Kabul verändert haben? Ob sie wirklich glauben, dass Gott es so will?»

Die Strassen im Stadtzentrum sind kaum wiederzuerkennen. Früher hatten dort junge Frauen mit locker übers Haar geworfenen Kopftüchern in Gartencafés gesessen und junge Männer mit kecken Frisuren in französischen Restaurants Bier aus Teetassen getrunken, da Alkohol offiziell verboten, in Kabul aber geduldet wurde. Die schicken Cafés und Restaurants sind verschwunden, ebenso die vielen Schönheitssalons, Barbiere und Fitnessstudios. Ali hat die Veränderungen nicht mit eigenen Augen gesehen, aber seine Freunde berichten in Chats täglich über die traurige Realität da draussen.

In diesen schweren Zeiten gibt ihm das Internet Hoffnung. Es bewahrt ihn davor, verrückt zu werden. Es ist seine einzige Verbindung zur Aussenwelt. Eigentlich könnte er sich das nicht leisten. Seine Smartphone-Rechnung beläuft sich auf 80 Franken im Monat, mehr als seine Tochter verdient. Doch zwei Kollegen, die nach Deutschland und in die USA geflüchtet sind, zahlen ihm die Rechnung. Sie hatten es ihm angeboten, weil sie sich Sorgen um ihn machten. Er hätte sie nicht darum gebeten, er weiss, dass sie selbst grosse Familien haben, die sie unterstützen müssen.

Der Staatsanwalt ist seinen Kollegen dankbar. Täglich verbringt er um die fünf Stunden online. Er liest, was in der Welt geschieht, und freut sich darüber, dass viele Länder das Taliban-Regime bis heute nicht anerkennen. Wenn die Welt die Afghanen nicht vergisst und den Druck aufrechterhält, gibt es vielleicht doch eine Hoffnung auf einen Sturz oder zumindest eine Mässigung der Islamisten, denkt er.

Ali tauscht sich auf sozialen Netzwerken und Whatsapp auch mit Freunden und ehemaligen Arbeitskollegen aus. Die Chats sind für ihn eine Art Selbsthilfegruppe, in der er über seine Nöte sprechen kann. Früher hätte er so etwas nie getan, aber es tut ihm gut, er fühlt sich dann nicht mehr so allein. «Viele da draussen leiden wie ich», denkt er in der Küche und blickt durch das kaputte Fenster auf die menschenleere Strasse und die geschlossenen Rollläden der Geschäfte auf der anderen Strassenseite. Ali wohnt in einem belebten Geschäftsviertel. Tagsüber herrscht da unten Trubel und Lärm. Dann stünde er nie wie jetzt am offenen Fenster, dann sind die dicken weissen Vorhänge alle zugezogen. Er will nicht riskieren, dass ihn jemand sieht.

In einigen Chats reissen er und seine Kollegen auch Witze. Für Ali ist es wichtig, tagsüber ab und zu zu lachen, die Nächte sind trostlos genug. Der Jurist hat wie die meisten Afghanen Humor. Vielleicht liegt es daran, dass in seinem Land schon so lange so vieles schiefläuft. Könnten sie nicht über unfähige Politiker, religiöse Eiferer und gewalttätige Kriegsherren lachen, müssten sich die Afghanen zu Tode grämen. Und so machen sie Witze über alles und jeden – auch über sich selbst.

Auf Tolo TV lief unter der demokratischen Regierung die populäre Sendung «Laughter Network», in der Komiker freche, oft auch schmutzige und politisch unkorrekte Witze erzählten. Jetzt produzieren sie ihre Sendung im Exil und machen sich über die unfähigen Mullahs lustig oder über die Herausforderungen, mit denen sich afghanische Flüchtlinge im Westen konfrontiert sehen. Wenn Ali sich die Folgen auf Youtube anschaut, hellt sich sein von den Sorgen zerfurchtes Gesicht auf. Dann lacht er manchmal so sehr, dass ihm die Tränen kommen.

Im Reich der Taliban braucht es keine Staatsanwälte und keine Verteidiger mehr. Die Polizei schickt Verdächtige direkt zum Richter, der meist nach einer kurzen Anhörung urteilt. Zivile Streitigkeiten und Kriminalfälle lösen sie schnell, aber willkürlich. Die Islamisten haben die Verfassung ausser Kraft gesetzt, und niemand weiss, was gilt. Ihr mysteriöser Oberster Führer hat lediglich erklärt, dass das islamische Gesetz, die Scharia, gelte. Doch diese kann sehr unterschiedlich ausgelegt werden, und jeder handhabt das Recht nun so, wie es ihm passt.

Der Rechtsstaat, für den Ali Qazizadah hart gearbeitet hatte, existiert nicht mehr. Als Ali sich zurück in der kleinen Kammer auf die dünnen Kissen neben seiner Frau legt, erscheint ihm sein ganzes Leben sinnlos.


Die Hausfrau

Im Norden Afghanistans, in einem Aussenquartier von Kunduz, liegt auch Nasima Khalil wach. Ihre Kammer ist fensterlos, eingetaucht in ein grobkörniges Schwarz. Sie denkt an ihren toten Bruder und weint still vor sich hin. Sonst ist nur das Surren des Ventilators zu hören. Die Taliban hatten Nasimas Bruder das Haus weggenommen. Völlig verzweifelt, brach er nach dem Gerichtstermin zusammen. Der Richter hatte ihren Bruder beschimpft und bedroht. Es ist kein Recht, was die Taliban sprechen, wer zu ihnen gehört oder Bestechungsgeld bezahlt, gewinnt den Fall.

Ihr Bruder hat sieben Kinder hinterlassen. Nasima weiss nicht, wie seine Frau es ohne ihn schaffen kann. Das Schicksal der Schwägerin nimmt die 54-jährige Hausfrau so mit, weil auch sie ihre Kinder allein aufziehen musste. Sie weiss, wie schwierig es ist, als rechtlose Witwe im Reich der Mullahs zu überleben.

Nasimas Mann war Bauer. 1997, als die Taliban zum ersten Mal an der Macht waren, stürmten sie ihr Haus und erschossen ihn im Wohnzimmer vor ihren Augen. Danach nahmen sie ihr das Haus und das Land weg. Ohne die Hilfe ihrer Geschwister hätten Nasima und ihre fünf Kinder nicht überlebt. Doch nun haben sie alle kaum genug zu essen. Wer würde da noch die Schwägerin unterstützen?

Seit Wochen quält sich Nasima mit dieser Frage, während sie nachts neben ihren zwei unverheirateten Töchtern liegt und keinen Schlaf findet. Ihr Sohn hat ihr einen kleinen weissen Plastikventilator gekauft, damit sie die Hitze besser ertragen kann. Es war ihr nicht recht, eigentlich hätten sie kein Geld für solchen Luxus. Doch jetzt ist sie dankbar, dass der Ventilator ihr etwas frische Luft zubläst. Die traurigen Gedanken mag er aber nicht zu vertreiben.

Nasima besuchte nur drei Jahre die Schule. Gerade deshalb weiss sie, wie wichtig Bildung ist. Nach dem Sturz der Taliban 2001 hat sie alles darangesetzt, dass ihr Sohn und ihre vier Töchter eine gute Ausbildung erhielten. Der Sohn studierte in Kabul politische Wissenschaften und arbeitete anschliessend im Büro eines Politikers. Er holte sie und die Schwestern zu sich in die Hauptstadt. Sie lebten gut dort, in den Jahren der Freiheit. Auch ihre Töchter konnten studieren.

Geschenkt wurde ihnen nichts, sie lebten bescheiden und gingen jeden Tag zu Fuss zur Universität, vierzig Minuten hin, vierzig Minuten zurück. Beklagt haben sich ihre Mädchen nie, sie hatten grosse Träume.

Als die Taliban wieder an die Macht kamen, verlor ihr Sohn seine Stelle. Politische Parteien wurden verboten, und wissenschaftliche Ausbildungen haben in ihrem theokratischen Emirat keinen Wert mehr. Doch ihr Sohn hat nicht aufgegeben, eine Ausbildung als Krankenpfleger gemacht und im letzten Jahr eine Stelle in einer Klinik in Kunduz gefunden. Deshalb sind sie alle zurück in den Norden gezogen: die Mutter, ihre zwei jüngeren Töchter und der Sohn mit seiner Frau und den beiden Enkeln.

Nun leben sie zu siebt in einem winzigen Haus. Ein Schlafzimmer haben sie nicht. Tagsüber sitzen und essen sie auf Kissen, nachts liegen sie auf einem dünnen Leintuch am Boden. Der Sohn mit seiner Familie im grösseren Zimmer, sie und die Töchter in der kleinen Kammer.

Nachts jammert ihre Jüngste, ihr Leben sei vergeudet. Sie habe so hart gearbeitet, um Hebamme zu werden, doch alles sei für nichts gewesen.

Nach der Machtübernahme der Taliban plagten Nasima ein Jahr lang schreckliche Albträume. Sie träumte, dass ihr Sohn wie sein Vater von den Taliban erschossen wurde und sie machtlos danebenstand und nichts tun konnte. Nun träumt sie kaum mehr, vielleicht, weil sie eh meistens wach liegt. Angst um den Sohn hat sie noch immer, doch viel mehr Sorgen bereiten ihr mittlerweile die Töchter. Sie leiden sehr darunter, dass sie nicht mehr arbeiten können, vor allem ihre Jüngste. Diese ist Hebamme und hat noch eine Weile in einer Klinik in Kunduz arbeiten können, doch dann wurde diese geschlossen.

Der Gesundheitssektor ist wie vieles, was in den letzten zwanzig Jahren mühsam aufgebaut worden ist, am Kollabieren. Überall in Afghanistan machen Spitäler zu, weil die Gehälter des Personals nicht mehr bezahlt werden und es an Medikamenten, Verbandsmaterial und Treibstoff für die Generatoren fehlt.

Drei Viertel des afghanischen Budgets stammten von ausländischen Geldgebern, bis die Taliban Kabul eroberten. Die Uno und das Rote Kreuz finanzieren zwar noch Kliniken, aber die Lage ist dramatisch. Laut einer Umfrage von Médecins sans frontières müssen über 80 Prozent der Afghanen, die medizinische Hilfe benötigen, heute auf eine Behandlung verzichten oder diese aufschieben. Besonders betroffen sind Frauen, weil die Taliban den Gynäkologinnen und Hebammen vielerorts ihre Tätigkeit verbieten.

Wenn Nasima und ihre Töchter abends Seite an Seite in ihrer Kammer liegen, dann jammert die Jüngste, dass ihr Leben vergeudet sei. Sie habe so hart gearbeitet, um eine gute Hebamme zu werden, doch all ihre Anstrengungen seien für nichts gewesen. Was, fragt sich Nasima nachts, soll sie dagegenhalten? Wie Zuversicht vermitteln, wo keine ist? Sie grämt sich selbst über das Schicksal ihrer Töchter, die keine Zukunft haben im Land der bärtigen Männer.

Nasimas Jüngste bricht ständig in Weinkrämpfe aus, und manchmal fällt sie in Ohnmacht. Auch nachts hat sie solche Anfälle. Oder sie schreit im Schlaf. Nasima liegt immer ganz nah bei ihr und nimmt die Tochter, wenn sie unruhig wird, in den Arm. Deshalb schläft sie wohl kaum noch. Die Aufmerksamkeit einer Mutter raubt Schlaf.

Der Sohn hat versucht, die jüngere Schwester zu beruhigen, sein Gehalt reiche für alle, sagt er immer. «Aber es geht nicht nur ums Überleben», denkt Nasima. «Die Töchter haben sich mehr erwartet vom Leben.»

Nicht nur in Kabul, auch hier in Kunduz konnten sich die Frauen in den vergangenen zwanzig Jahren verhältnismässig frei bewegen. Sie trugen Jeans und modische langärmelige Blusen. Nun huschen sie in blauen Burkas oder schwarzen Hijabs durch die Strassen. Die Taliban verlangen, dass Frauen nicht nur ihr Haar bedecken, sondern auch ihr Gesicht verhüllen. Am liebsten würden sie sie ganz aus dem öffentlichen Raum verbannen.

Das Frauenministerium haben die religiösen Fanatiker abgeschafft und durch ein Ministerium für die Förderung der Tugend und die Bekämpfung des Lasters ersetzt. Sie haben insgesamt über hundert Edikte erlassen. Frauen dürfen nicht mehr ohne verwandte männliche Begleiter reisen. Sie dürfen kein Auto mehr lenken. Sie dürfen nicht mehr in öffentliche Parks und Gärten.

Nasimas Töchter verlassen das Haus kaum mehr aus Angst vor den Sittenpolizisten. Diese patrouillieren zu dritt oder zu viert durch die Strassen von Kunduz und kontrollieren, ob Mädchen und Frauen angemessen gekleidet sind. Selbst auf dem Markt und in den Läden beäugen sie sie misstrauisch. Wenn eine Frau mit einem männlichen Verkäufer spricht oder etwas anderes «Unziemliches» tut, wird sie wüst beschimpft oder ausgepeitscht.

Ledige Frauen sind im Reich der Mullahs besonders verletzlich, sie müssen ständig auf der Hut sein, um keine Schande über ihre Familie zu bringen. Die zwei unverheirateten Töchter von Nasima sind schon um die 30, das beunruhigt die Mutter. Aus Sicht der Taliban sind Frauen einzig dazu da, ihrem Mann zu dienen und Kinder zu gebären, und zwar so früh wie möglich. Mit 30 gelten sie als viel zu alt für den Heiratsmarkt. «Was wird aus meinen Töchtern werden, jetzt, wo sie nicht mehr arbeiten können?», fragt sich Nasima, während sie dem Atmen der beiden lauscht. «Werden sie bis an ihr Lebensende abhängig sein von ihrem Bruder?»

Für Nasima selbst hat sich durch das Regime der Mullahs wenig geändert. Sie lebte immer zurückgezogen, wie es sich für eine Witwe in ihrer Generation gehörte. Sie war 25, als ihr Mann umgebracht wurde, und weil sie fremde Männer nicht sehen durften, verliess sie das Haus nur noch morgens in aller Frühe. Bis heute steht sie jeden Tag um 4 Uhr auf, verrichtet ihr Morgengebet und spaziert danach durch die leeren Strassen. Es ist ihre Routine, mit den Taliban hat das nichts zu tun.

Freiheit bedeutet für Nasima nicht, ihre Burka nicht mehr zu tragen oder am helllichten Tag durch die Strassen zu flanieren. Freiheit bedeutet für sie, ein eigenes Haus zu haben und finanziell abgesichert zu sein. Als die vaterlose Familie in Kabul lebte, sparten sie für ein Eigenheim. Das Leben vor ihnen war voller Möglichkeiten.

Wenn Nasima etwas Schönes denken will in ihren dürren Nächten, dann malt sie sich aus, wie ihr Häuschen aussehen könnte. Es hätte eine geräumige Küche mit einem Gasherd und einem Backofen. Sie könnte das Brot aufrecht stehend, nicht mehr am Boden kauernd in dem kleinen elektrischen Ofen backen. Und sie hätte einen Garten mit ein paar Obstbäumen und einem Gemüsebeet, gross genug, um die Familie zu ernähren. Und natürlich würde ihr Haus in Kabul stehen, in der Stadt, in der sie die glücklichsten Jahre ihres Lebens erlebte.

Das Träumen fällt Nasima am leichtesten, wenn sie vor ihren Töpfen steht und kocht. Dann ist sie manchmal fast fröhlich. Nachts hingegen fällt es ihr schwer, positiv zu denken. In dieser heissen Sommernacht, als sie nicht mehr ins schwarze Nichts starren mag und für einen Moment die Augen schliesst, sieht sie die traurigen Gesichter ihrer Enkelinnen und Nichten vor sich und muss wieder weinen. Nasima besucht sie regelmässig und merkt, wie ihre Verzweiflung wächst. Nasima weiss, dass die Mädchen Freiheit anders verstehen als eine alte Frau wie sie. Die Taliban zerstören gerade ihr Leben und behaupten, dies im Namen Gottes zu tun. Doch Nasima ist überzeugt, dass ihr Gott solchen Fanatismus nicht gutheissen würde.

Nasima kocht nur noch Reis, Bohnen und Erbsen, Lammfleisch können sie sich schon lange nicht mehr leisten. Selbst das Mehl, mit dem sie das Naan, ein flaches rundes Brot, zubereitet, das in Afghanistan zu jeder Mahlzeit gegessen wird, kostet heute doppelt so viel wie früher. Nasima will nicht undankbar sein. Sie weiss, dass es vielen noch schlechter geht als ihnen. Dennoch beschleichen sie in ihren Nächten ohne Schlaf immer häufiger finanzielle Ängste. «Was werden wir tun, wenn die Lebensmittelpreise weiter steigen?», fragt sie sich. «Und was, wenn mein Sohn auch diesen Monat nicht bezahlt wird?» Dann müssen sie sich schon wieder Geld leihen, das macht sie nervös.

Das Pro-Kopf-Einkommen der Afghanen ist in den letzten drei Jahren um die Hälfte geschrumpft, die Lebensmittelpreise sind gleichzeitig stark gestiegen. Die meisten Familien haben keine Reserven mehr. Sie haben ihr Erspartes aufgebraucht und ihr Haus, ihr Land oder ihre Tiere verkauft. Laut der Uno leben mittlerweile 85 Prozent der 40 Millionen Afghanen unter der Armutsgrenze, fast die Hälfte von ihnen hat schon im vergangenen Jahr Hunger gelitten.


Der Musiker

In Jalalabad, im Osten Afghanistans, liegt in diesen Stunden auch Ghairat Khan* wach und fragt sich, wie er genug zu essen für seine Frau und seine Kinder besorgen kann. Der 41-Jährige ist Musiker, besser gesagt, er war Musiker. Musik gibt es im Reich der Taliban keine mehr. Die «Schüler Gottes», wie sie sich nennen, betrachten Musik als haram, als Sünde. Nach ihrer Interpretation der religiösen Schriften darf nur die menschliche Stimme Töne erzeugen, und auch das ausschliesslich, um Gott zu preisen. Auch Poesie, Kunst und Schauspiel sind aus Sicht der Islamisten ungebührlich, der Mensch brauche nichts als Religion.

Ghairat ist deshalb arbeitslos und liegt die meisten Nächte wach vor Sorgen. Nach drei Jahren ohne Einkommen wäre er bereit, jeden Job anzunehmen, aber alle suchen derzeit verzweifelt Arbeit. Der Privatwirtschaft geht es schlecht, und die staatlichen Stellen verteilen die Mullahs unter ihren Anhängern. Leute, die wie er einer «unehrenhaften» Arbeit nachgegangen sind, werden diskriminiert, verfolgt oder gar ermordet.

Ghairat hat sieben Kinder, zwei Söhne und fünf Töchter. Die Jüngste ist 4 Jahre alt, der Älteste 19. Er hat die Mittelschule abgeschlossen und wollte Ingenieur werden, doch an ein Studium ist unter diesen Umständen nicht mehr zu denken. Sein Sohn arbeitet nun in einem Schreibwarenladen und verdient 100 Afghani am Tag, umgerechnet 1 Franken 20. Es ist das einzige Einkommen der Familie, und es reicht hinten und vorne nicht. Das runde Naan-Brot kostet beim Bäcker mittlerweile 10 Afghani, und es ist deutlich kleiner als früher.

Wie Ghairat wach liegt und daran denkt, bekommt er fast keine Luft mehr. Er ist bereits verschuldet, und niemand will ihm mehr Geld leihen. Nicht einmal im Lebensmittelladen lassen sie ihn noch anschreiben. Mit seiner Verschuldung hat Ghairat seine Glaubwürdigkeit verloren. Das schmerzt ihn am meisten, denn Ehre ist in einer Stammesgesellschaft wie der afghanischen das wichtigste Gut überhaupt.

Früher hatte Ghairat nie Geldsorgen. Er trat mit seiner Band an Hochzeiten, Konzerten und manchmal auch im Fernsehen auf. Sie machten klassische Musik, er sang und spielte Harmonium, das traditionelle südasiatische Tasteninstrument mit Blasebalg. Er wurde damit nicht reich, aber es ging der Familie gut. Er konnte seine Kinder sogar auf eine Privatschule schicken.

Die Musik war jedoch viel mehr als ein Broterwerb für ihn, sie war seine Leidenschaft. Ghairat stammt aus einer Musikerfamilie, sein Vater war als Sänger so bekannt, dass die Strasse, an der sie wohnen, nach ihm benannt wurde. Früher war Ghairat stolz darauf, heute macht es ihm Angst, dass jeder weiss, wo er, der Musiker, wohnt.

Er wagt es nicht einmal mehr, zu Hause auf seinem Harmonium zu spielen. Die Nachbarn könnten ihn hören und die Sittenwächter alarmieren. Er hat das alte Holzinstrument im Schrank hinter den Kleidern seiner Frau versteckt. Seit drei Jahren hat er es nicht mehr hervorgeholt. Früher hatte er jeden Tag mehrere Stunden gespielt und gesungen. Ohne Musik fühlt er sich leer.

Ghairat hatte ein eigenes Studio, in dem er komponierte und mit seinen sechs bis acht Bandkollegen übte und Stücke aufnahm. Dieses ist nun geschlossen, die Ausrüstung hat er im Keller versteckt. Er erinnert sich, wie einer seiner Brüder erfolglos versucht hat, seine Tabla zu verkaufen. «Wer», denkt Ghairat, «will schon Instrumente kaufen in einem Land ohne Musik?»

Kurz nach ihrer Machtübernahme zerrten die Taliban einen Volkssänger aus seinem Haus in einem Bergtal im Norden und erschossen ihn. Sie zerstörten Musiklokale im ganzen Land und verprügelten Musiker. Im vergangenen Sommer verbrannten sie in verschiedenen Provinzen beschlagnahmte Musikinstrumente. Damit machten sie klar, dass sie in dieser Frage zu keinerlei Kompromissen bereit sind.

Viele Künstler sind ins Ausland geflohen. Auch Ghairat Khan wollte weg, er versuchte über die Grenze nach Pakistan zu entkommen. Jalalabad liegt am Fusse des Hindukusch, der kargen Bergkette im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet. Bis zum Grenzübergang bei Torkham sind es nur siebzig Kilometer. Wie die meisten Afghanen hatte Ghairat aber keinen Pass und damit keine Chance, ein Visum für das Nachbarland zu erhalten.

Er musste nach Jalalabad zurückkehren, und es fiel ihm schwer, ruhig und furchtlos zu sein, wie es sich für einen Mann in seinem Land gehört. Tagsüber überkam ihn Panik, nachts plagte ihn der immergleiche Traum: Er wird von Taliban-Schergen auf der Strasse erkannt, verhaftet und in einen dunklen Keller geschleppt. Als sie ihm grinsend erklären, dass sie ihn zu Tode foltern würden, wacht er schweissgebadet auf.

Ghairat weiss, dass die Taliban ihre Feinde foltern und die Leichen dann vor die Häuser ihrer Familien werfen. Sie wollen, dass die Leute sehen, was mit ihnen passiert, wenn sie sich ihrer radikalen Ideologie nicht unterwerfen. Auch öffentliche Auspeitschungen, Steinigungen und Hinrichtungen führen sie wieder durch.

Im ersten Jahr versteckte sich der Musiker bei Verwandten in anderen Vierteln der Stadt, nun lebt er wieder mit der Familie in seinem Haus. Er fühlt sich weniger einsam hier, doch die Angst, verhaftet zu werden, ist allgegenwärtig. Er wagt sich nur auf die Strasse, wenn dies unvermeidbar ist. Die Islamisten sind unberechenbar.

Zwei Monate ist es her, da hat jemand seinem Sohn das Mobiltelefon gestohlen, und er ist mit ihm zur Polizei gegangen. Erst waren die zuständigen Taliban höflich und hilfsbereit. Sie fassten den Dieb und wollten ihnen das Telefon zurückgeben, doch dann merkten sie, wer er war. Wenn er an die Szene zurückdenkt, fühlt er sich noch heute zutiefst beschämt. Sie haben ihn als Zuhälter beschimpft, so nennen die Taliban Musiker verächtlich.

Schlimmer noch, sie verunglimpften ihn als Ungläubigen, weil er nur einen Schnauz und keinen Bart trug. Sie drohten, ihn und seinen Sohn wegen Verleumdung eines Unschuldigen zu verhaften, und jagten sie davon. Das Mobiltelefon bekamen sie nie zurück, der Dieb wurde kurz darauf freigelassen, weil er einen Mullah im Viertel kannte.

Ghairat hat sich seither, um weniger aufzufallen, einen Bart wachsen lassen. Besser schlafen kann er aber auch mit Bart nicht. Er schläft höchstens ein paar Stunden pro Nacht. Meistens liegt er wie in dieser Nacht unruhig neben seiner Frau und versucht, sich nicht zu häufig zu bewegen. Er will sie nicht wecken. Sie würde ihm sonst nur wieder Fragen stellen, die er nicht beantworten kann. Dann fühlt er sich noch machtloser.

Eine Beerdigung sieht schlecht aus ohne Tränen, eine Hochzeit noch schlechter ohne Musik. Nun gleichen alle Hochzeiten einer Trauergesellschaft.

Sein Haus ist ein traditionelles Lehmhaus, ein einstöckiger Bau, verborgen hinter einer hohen Mauer, wie die meisten Häuser in Afghanistan. Die Bewohner des kargen, bergigen Ostens sind noch ärmer als jene in anderen Regionen. Sie haben auch mehr unter dem Krieg zwischen den Taliban und den Nato-Truppen in den vergangenen zwei Jahrzehnten gelitten. Ghairat erinnert sich, wie er nachts in der Ferne Gefechte hörte und wie sich Selbstmordattentäter auf Märkten und in Moscheen in Jalalabad in die Luft sprengten. Er ist froh, dass er und seine Familie nun sicherer leben. Nachts hört er höchstens noch das Bellen streunender Hunde oder das Zwitschern der Vögel im Garten im Morgengrauen. Nach solcher Ruhe hatte er sich jahrelang gesehnt, und jetzt, wo der Krieg endlich vorbei ist, kann er nicht mehr schlafen. Es scheint ihm so absurd, dass er darüber lachen muss.

Ghairat Khan sagt von sich, er sei ein guter Muslim. Er betet mehrmals täglich und hält sich an alle religiösen Vorschriften. Dass der Koran Musik verbietet, wie die «Gottesschüler» behaupten, will er nicht glauben. Die muslimische Welt hat viele grosse Musiker, Poeten und Künstler hervorgebracht, und auch in der paschtunischen Kultur spielt Musik seit Jahrhunderten eine sehr wichtige Rolle. Sein Vater, der grosse Sänger, wäre ausser sich, wenn er das heutige Afghanistan sähe. Ein Land ohne Kultur!

Ein afghanisches Sprichwort besagt: Eine Beerdigung sieht schlecht aus ohne Tränen, eine Hochzeit noch schlechter ohne Musik. Nun gleichen alle Hochzeiten einer Trauergesellschaft. Die Gäste setzen sich, essen und gehen nach Hause. Die Menschen in Jalalabad sind nicht glücklich darüber, viele haben es Ghairat gesagt. Selbst jene, die die Taliban unterstützen, möchten Musik an den Hochzeiten ihrer Kinder.

Frivol waren Hochzeiten in Afghanistan nie. Ob zu Hause, im Restaurant oder in der Wedding Hall: Frauen und Männer feierten in getrennten Räumen, getanzt wurde nur bei den Männern. Auch bei Ghairats Konzerten sassen die Frauen separat in den vorderen Reihen.

Seine Band spielte meistens eigene Kompositionen, manchmal auch Lieder seines Vaters und anderer bekannter Musiker. In ihren Texten ging es ums Vaterland, um Liebe und um Frieden. Ghairat hatte das Gefühl, dass er als Musiker die Gesellschaft verändern könne. Er wollte die Menschen glücklich machen und Frieden zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen stiften. Nichts brauchte Afghanistan nach Jahrzehnten des Krieges dringender.

Ein Land ohne Musik ist ein totes Land, ein Land ohne Hoffnung. Die Taliban wollen ein «reines» Afghanistan, frei von jeder Verlockung. Auch alles andere, was die Afghanen in ihrer Freizeit gerne taten, haben die Islamisten verboten: Drachenfliegen, TV-Soaps und sogar Familienpicknicks, Männer dürfen nur noch unter sich im Park oder am Fluss sitzen. Ghairat scheint es, als wollten die Mullahs den letzten Tropfen Lebensfreude aus dem Volk wringen.

Wie die meisten Afghanen wäre der Musiker bereit, Zugeständnisse zu machen. Immer neue Machthaber und Besetzer haben die Menschen am Hindukusch gelehrt, sich anzupassen, um zu überleben. Ghairat wünschte sich bloss, die Taliban wären nicht so barbarisch und hätten nicht gleich jede Form von Kultur verboten. Hätten sie Reformen verlangt, hätte er damit leben können. Stattdessen haben sie ihm alles genommen. Wie soll er da noch Schlaf finden?

Wenn er, wie in dieser Nacht, gar nicht mehr einschlafen kann, schleicht er sich aus dem Zimmer in den Garten, um die düsteren Gedanken zu vertreiben. Sein Garten ist sein liebster Ort, eine grüne Oase im staubigen, braunen Jalalabad. Zwei Maulbeerbäume, ein Granatapfel- und ein Feigenbaum stehen neben einer riesigen blutroten Bougainvillea.

Im Garten atmet Ghairat tief durch. Die Hitze drückt hier nicht so, und ein sanftes Lüftchen weht. In dieser Nacht geniesst er die besondere Atmosphäre unter dem Vollmond und den klaren Sternen. Er betrachtet den Feigenbaum, umrundet ihn mehrmals und holt dann die zerbeulte Edelstahlkanne, um sein Gesicht, seine Hände und seine Füsse zu waschen. Dann breitet er seinen Teppich aus und betet.

Später setzt er sich unter den Feigenbaum und liest in einem Gedichtband von Rahman Baba, dem grossen paschtunischen Poeten und Sufi-Heiligen des 17. Jahrhunderts. Der Sufismus, eine mystische Strömung im Islam, sucht die innere Einheit mit Gott. Über Musik, Tanz und Poesie nähern sich die Gläubigen in Ekstase Gott. Diese alte Tradition ist in Südasien weit verbreitet, doch Fundamentalisten wie die Taliban betrachten sie als unislamisch und bekämpfen sie.

Rahman Babas Gedichte über Liebe und Spiritualität geben Ghairat Halt und lassen ihn den Alltag für ein paar Stunden vergessen. Während er im Garten sitzt und liest, ist er sorglos. Der Mond scheint so hell, dass er keine Lampe benötigt.


* Name aus Sicherheitsgründen geändert.

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