Sonntag, September 29

Adolf Hitlers Aufstieg bleibt für alle Zeiten ein warnendes Beispiel, weil es zeigt, wie schnell eine Demokratie in eine Diktatur kippen kann

«Wie war es nur möglich? Diese Frage werden kommende Generationen stellen. Was befähigte diesen neurotischen Clown dazu, die Kontrolle zu erlangen über das Leben von Millionen? Was war das Geheimnis dieser phantastischen und unheilvollen Karriere?» Das fragte Klaus Mann, Thomas Mann ältester Sohn, in einer Betrachtung zu Hitlers Tod Anfang Mai 1945. Die Frage hat bis heute nichts von ihrer beunruhigenden Brisanz verloren. Wie war es möglich, dass ein Politiker vom Schlage Hitlers die Macht in Deutschland ergreifen, seine uneingeschränkte Diktatur errichten und die Welt in eine beispiellose zivilisatorische Katastrophe stürzen konnte?

Die Antwort wird immer wieder bei der Person Adolf Hitlers ansetzen müssen. Denn das, was damals geschah, ist ohne ihn nicht zu denken. Seine Biografie ist ein besonders aufschlussreiches Beispiel dafür, welchen Einfluss ein einzelnes Individuum auf den Lauf der Geschichte ausüben kann. Deshalb ist es unerlässlich, die Persönlichkeit dieses Mannes mit ihren eigentümlichen Anlagen und Verhaltensweisen genau in den Blick zu nehmen, ohne freilich die gesellschaftlichen Bedingungen, die seinen Aufstieg überhaupt erst möglich gemacht haben, zu vernachlässigen.

Dabei deutete in seinen ersten dreissig Lebensjahren absolut nichts auf eine aussergewöhnliche Karriere hin. Im Gegenteil, der Mann, der im November 1918 als einfacher Gefreiter aus dem Weltkrieg nach München zurückkehrte, war ein in mancher Hinsicht Gescheiterter – ein menschenscheuer Sonderling, ohne abgeschlossene Schulbildung, ohne einen gelernten Beruf, ohne gesellschaftliche Kontakte, kurzum: ein Niemand, dem alles andere als eine verheissungsvolle Zukunft offenzustehen schien.

Dennoch gelang es ihm innerhalb von nur vier Jahren, sich zum unumstrittenen «Führer» im Lager der extrem völkischen Rechten in Bayern zu mausern, um dann im November 1923, Seite an Seite mit Ex-General Erich Ludendorff, dem heimlichen Diktator Deutschlands in den beiden letzten Jahren des Weltkriegs, einen ersten Griff nach der Macht zu wagen.

Rauschhafte Begeisterung

Diesen bemerkenswerten Aufstieg hätte er nicht vollbringen können, wenn er nicht einige Talente mitgebracht hätte. Dazu zählte als Erstes seine rhetorische Begabung. Die Entdeckung seiner Redegewalt im Herbst 1919 war das eigentliche Durchbruchserlebnis Hitlers als Politiker. Wie kein Zweiter verstand er es, die Emotionen seiner Zuhörer in Schwingungen zu versetzen, so erfolgreich wie kein anderer spielte er auf der Klaviatur ihrer Ängste und Ressentiments.

Das hochgradig antisemitische Klima in München nach dem gescheiterten Experiment der Räterepublik im Frühjahr 1919 bot dem instinktsicheren Populisten einen idealen Resonanzboden für seine hemmungslose Demagogie. Je rauschhafter die Begeisterung war, die er in den grössten Versammlungssälen der bayrischen Hauptstadt zu entfesseln vermochte, desto mehr wuchsen seine Selbstsicherheit und die Gewissheit, für eine besondere historische Mission auserwählt worden zu sein.

Hitler war jedoch nicht nur ein zugkräftiger Massenredner, sondern auch ein wandlungsfähiger Schauspieler. Früh übte er sich in der Fähigkeit, in wechselnde Rollen zu schlüpfen und sich geschmeidig verschiedenen Milieus anzupassen. Insofern entsprach er bereits besser als die politischen Konkurrenten dem Anforderungsprofil der Mediengesellschaft, repräsentierte er einen modernen Politikertypus, der über ein breites Rollenrepertoire verfügte und es kühl berechnend für die eigenen Zwecke einzusetzen wusste.

Dass er es dabei mit den Fakten nicht genau nahm, darüber sah das Publikum grosszügig hinweg. Nicht auf die Wahrheit seiner Aussagen, sondern auf die maximale Steigerung der Affekte kam es dem Demagogen an. Die Kunst der Lüge und Verstellung beherrschte er von allem Anfang an.

Die Macht der Lüge

Was der ehemalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ernst von Weizsäcker, in seinen Erinnerungen mit Blick auf den späteren Reichskanzler feststellte, das traf auch schon auf den frühen Hitler zu: «Mit der Wahrheit über das Gewesene hatte er gar kein Verhältnis. Es schien, als könne er Tatsachen vergessen und Tatsachen sich einreden, je nach Bedarf.» Das galt auch für die autobiografischen Teile in seinem Bekenntnisbuch «Mein Kampf» von 1925/26 – eine Mischung aus Legenden und Halbwahrheiten, die mit seiner wirklichen Lebensgeschichte vor 1914 nur wenig zu tun hatte.

Ohne Hitler wäre die NSDAP nur eine unter vielen Sekten im völkischen Milieu der Nachkriegszeit geblieben. Die Partei war ganz seine Schöpfung und auf ihn als sakrosankten «Führer» ausgerichtet. Er allein besass die Autorität, um die heterogenen ideologischen Elemente innerhalb des Nationalsozialismus zu bündeln und die NSDAP und ihre Nebenorganisationen zu einer schlagkräftigen Bewegung zu formen.

Wie unentbehrlich er als entscheidende Integrationsfigur war, zeigte sich bereits während seiner Haft in Landsberg nach dem gescheiterten Novemberputsch 1923, als die Partei rasch in verschiedene rivalisierende Fraktionen auseinanderfiel. Nach seiner Entlassung aus der Haft Ende 1924 gelang es Hitler innerhalb kurzer Zeit, alle potenziellen Konkurrenten um die Führung, unter ihnen auch Ludendorff, zu überspielen und die NSDAP ganz seinem Willen zu unterwerfen.

Eine Grundvoraussetzung für den Aufstieg eines charismatischen Politikers ist, laut Max Weber, eine existenzielle, herkömmliche Vorstellungen sprengende Krise. Eine solche Situation trat mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929/30 ein. Sie traf Deutschland besonders hart, und sie wirkte sich umso dramatischer aus, als sie mit einer Krise der Weimarer Republik und einem Versagen ihrer demokratischen Institutionen zusammenfiel.

«In die Ecke gedrückt, dass er quietscht»

Hitler war der Hauptnutzniesser der wirtschaftlich-politischen Doppelkrise. Er verstand es, sich als nationalen Messias zu inszenieren und die vagabundierenden Heilserwartungen des Publikums auf sich zu lenken. Dabei konnte er anknüpfen an weitverbreitete mentale und psychosoziale Dispositionen und Bedürfnisse: den Ruf nach einem «starken Mann», einem «zweiten Bismarck», die Sehnsucht nach einer konfliktfreien «Volksgemeinschaft» jenseits allen Parteienstreits und den Wunsch nach einer Revision des Versailler Vertrages und der Wiederaufrichtung einer deutschen Grossmachtstellung.

Allerdings war Hitlers Weg zur Macht kein stürmischer, unaufhaltsamer Siegeszug, zu dem ihn die nationalsozialistische Propaganda nach 1933 verklärte, sondern eine Hängepartie, die auch anders hätte ausgehen können. Zwar hatte Hitler seinen kometenhaften Aufstieg mit der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 gekrönt. Mit 37,3 Prozent war die NSDAP die mit Abstand stärkste Partei geworden.

Doch mit seiner Alles-oder-nichts-Strategie, dem kompromisslosen Anspruch auf die Kanzlerschaft, manövrierte Hitler die Partei in eine Sackgasse. In der Wahl vom 6. November 1932 verlor die NSDAP erstmals massiv an Stimmen. Dass ihr Chef am 30. Januar 1933 doch noch zum Ziel gelangte, verdankte sich nicht seiner angeblich unfehlbaren Intuition, sondern einem finsteren Intrigenspiel hinter den Kulissen, bei dem die Kamarilla um den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, allen voran der frühere Reichskanzler Franz von Papen, die Strippen zog.

Die konservativen Bündnispartner der Nationalsozialisten im «Kabinett der nationalen Konzentration» glaubten, Hitler für ihre sozialreaktionären Absichten einspannen und die Dynamik seiner Bewegung unter Kontrolle halten zu können. «Was wollen Sie denn?», hielt Papen einem Kritiker entgegen. «In zwei Wochen haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, dass er quietscht.»

Kult um den «Führer»

Selten ist ein politisches Projekt so rasch von der Wirklichkeit als Chimäre enthüllt worden wie das der Konservativen zur «Zähmung» der Nationalsozialisten. Was machttaktische Gerissenheit, gepaart mit notorischer Unaufrichtigkeit, anging, war Hitler seinen Mit- und Gegenspielern im Kabinett weit überlegen. Er brauchte nur wenige Monate, um sie an die Wand zu spielen und seine Führerdiktatur zu errichten.

Freilich hätte der stürmische Prozess der Gleichschaltung nicht so reibungslos vonstattengehen können, wenn er nicht von einer weitgehenden Bereitschaft zur Selbstgleichschaltung in fast allen Institutionen und gesellschaftlichen Gruppen flankiert worden wäre. Keiner hat diesen Vorgang so eindrucksvoll beschrieben wie Sebastian Haffner in seiner 1939 im englischen Exil verfassten «Geschichte eines Deutschen».

Auch der Kult um den «Führer», der bereits 1933 exzessive Formen annahm, war keineswegs nur das Werk des Meisterpropagandisten Joseph Goebbels. Vielmehr wirkten Hitlers Anhänger an der pseudoreligiösen Überhöhung des Diktators mit, indem sie ihn zur Projektionsfläche aller ihrer Hoffnungen und Sehnsüchte machten. Der Führermythos erfüllte eine wichtige integrierende Funktion innerhalb des NS-Systems, und er sollte sich bis weit in die Kriegszeit hinein als stärkstes Bindemittel erweisen.

Wie in der Innenpolitik profitierte Hitler auch in der Aussenpolitik von einer fahrlässigen Unterschätzung seiner Person, die seine Laufbahn von Anfang an begleitete. Sie sollte auch die ausländischen Staatsmänner nach 1933 zur Illusion verleiten, den Diktator in seinem Aggressionsdrang zügeln und ihn in internationale Verträge einbinden zu können. «Hitler ist am Anfang von den Deutschen und danach von der Welt gröblich unterschätzt worden. Das war ein schlimmer Fehler», stellte der amerikanische Korrespondent in Berlin, William L. Shirer, im Dezember 1940 fest, kurz bevor er Nazideutschland verlassen musste.

Der manische Hass auf die Juden

Das Herrschaftssystem, das Hitler errichtete, war ganz auf seine Person zugeschnitten. Neben einer starken monokratischen Spitze in Gestalt des «Führers» gab es eine Polykratie von Ämtern und Ressorts, die um Macht und Einfluss rangen. Indem der Diktator nach dem klassischen Rezept des «Divide et impera» Rivalitäten schürte und Kompetenzen verwischte, konnte er potenzielle Kontrahenten immer wieder gegeneinander ausspielen.

So sicherte er seine uneingeschränkte Herrschaft. Die Effizienz des Systems wurde dadurch, allen Reibungsverlusten zum Trotz, nicht beeinträchtigt, sondern eher gesteigert, weil so eine ständige Wettbewerbsdynamik erzeugt und für die Funktionsträger ein starker Anreiz geschaffen wurde, den mutmasslichen «Führerwillen» antizipierend, mit eigenen Initiativen vorzupreschen und sich dabei an Radikalität gegenseitig zu übertreffen.

Allerdings war es Hitler, der in letzter Instanz Tempo und Richtung der antisemitischen Politik des Regimes bestimmte – von den ersten antijüdischen Massnahmen im Frühjahr 1933 bis zur letzten mörderischen Steigerung, der systematischen Vernichtung der europäischen Juden ab 1941.

Ohne ihn, so viel lässt sich mit Sicherheit sagen, hätte es den Holocaust nicht gegeben. Sein fanatischer Antisemitismus war die entscheidende Antriebskraft. Wenn es auch nicht einfach ist festzustellen, wann Hitler einmal nicht schauspielerte, keine Maske aufsetzte – in einem Punkt war er immer authentisch: wenn er seinem manischen Judenhass freien Lauf lassen konnte.

Das «letzte Ziel»

Zwar konnte er bei seinen öffentlichen Auftritten seine antisemitische Besessenheit aus taktischen Gründen zügeln, aber das «letzte Ziel», die «Entfernung der Juden überhaupt», das der Münchner Agitator bereits in einem Brief vom September 1919 als «unverrückbar» bezeichnet hatte, sollte er zu keinem Zeitpunkt seines Lebens aus dem Auge verlieren.

«Entfernung» hiess bis 1939 gesellschaftliche Ausgrenzung und Vertreibung, noch nicht physische Vernichtung. Der Genozid rückte erst mit der Besetzung Polens im Herbst 1939, vollends nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 ins Stadium der Realisierung. Die Suche nach einem schriftlichen Befehl Hitlers für die «Endlösung der Judenfrage» hat sich als müssiges Unterfangen erwiesen.

Es gehörte zu Hitlers Führungsstil, Entscheidungen von grundsätzlicher Tragweite in Form von allgemein gehaltenen Wünschen zu äussern, die dann von den Exekutoren seiner Politik in konkrete Handlungsanweisungen übersetzt wurden. Freilich hätte das monströse Menschheitsverbrechen nicht ausgeführt werden können ohne die bereitwillige Mitwirkung von Hunderttausenden von Deutschen.

Zu Recht hat man gesagt, dass Hitler und der Nationalsozialismus mit dem Krieg gleichsam zu sich selbst gefunden hätten. In ihm verdichtete sich, wie in einem Brennglas, die kriminelle Dynamik des NS-Regimes und des Mannes an seiner Spitze. Diesen Krieg hatte Hitler von Anfang an gewollt, auch wenn er sich in den ersten Jahren seiner Regierung noch den täuschenden Anschein eines «Friedenspolitikers» gab.

Keine Zeit verlieren

Ab 1937, nachdem er sich der Fesseln des Versailler Vertrages entledigt hatte, vollzog er den Übergang von der Revisions- zur Expansionspolitik, und dies nicht zuletzt auch aus einem persönlichen Grund: Er fürchtete, wie seine Eltern, nicht sehr alt zu werden, und wollte den geplanten Krieg um «Lebensraum im Osten» unbedingt noch selbst führen. Die obsessive Vorstellung, keine Zeit mehr verlieren zu dürfen, beschleunigte den Prozess des gewaltsamen Ausgreifens.

Mit dem Krieg gegen Polen war der Auftakt gesetzt zu einer Radikalisierung und Brutalisierung der Kriegführung. Und das galt noch mehr für das «Unternehmen Barbarossa», den Feldzug gegen die Sowjetunion, der nach dem Willen des Diktators von Anfang an als präzedenzloser rassenideologischer Vernichtungskrieg angelegt war. Dabei stiess Hitler bei den führenden Militärs auf keinen Widerstand.

Seit dem Sieg über Frankreich 1940, an dem Hitlers Feldzugsplan einen gewissen Anteil hatte, galt er in ihren Augen nicht nur als genialer Politiker, sondern auch als gewiefter militärischer Stratege, dem man sich willig unterordnete. Überdies war das Feindbild des «jüdischen Bolschewismus» im Offizierskorps verbreitet, und die Vorstellung, dass man einer «Gefahr aus dem Osten» begegnen müsse, zählte zu den traditionellen russlandfeindlichen Klischees der preussisch-deutschen Generalität. Beflissen setzte sie Hitlers Direktiven in mörderische Befehle um.

Für einen kurzen Augenblick wähnte sich der Diktator seinem Ziel nahe, als nach den ersten grossen Umfassungsschlachten Ende Juni / Anfang August 1941 der Zusammenbruch der Sowjetunion nur noch eine Frage der Zeit zu sein schien. Doch wie er lange von seinen Gegnern unterschätzt worden war, so hatte er nun selbst – und mit ihm seine Generäle – die russische Widerstandskraft unterschätzt.

Um den höchsten Einsatz gewürfelt

Mit dem Scheitern des «Unternehmens Barbarossa» und der gleichzeitigen Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten im Dezember 1941 war dem gesamten strategischen Konzept Hitlers die Grundlage entzogen. Und als im Sommer und Herbst 1942 der Versuch misslang, im zweiten Anlauf doch noch eine Entscheidung im Osten zu erzwingen, bevor das volle Gewicht des amerikanischen Kriegspotenzials wirksam werden konnte, war die deutsche Niederlage besiegelt.

Alle Faktoren, die Hitler so lange begünstigt und ihm zu unerwarteten Triumphen verholfen hatten, verkehrten sich nun ins Gegenteil. Seine scharfe Witterung für die Schwächen seiner Gegner verlor ihre Wirksamkeit in dem Moment, als er sein Blatt überreizt hatte und die Partie verloren war. Hatte er früher trotz seinen ideologischen Fixierungen eine bemerkenswerte taktische Flexibilität an den Tag gelegt, so beschränkte er sich nun in seiner Kriegführung auf ein stures Halten der Fronten um jeden Preis.

Seine verzweifelten Versuche, mit der Panzerschlacht von Kursk im Juli 1943 und der Offensive in den Ardennen Ende 1944 das Geschick noch einmal zu wenden, entsprachen der Mentalität des Vabanquespielers, der immer um den höchsten Einsatz gewürfelt hatte und für den ein Aufgeben nicht infrage kam. Zur Selbstkorrektur prinzipiell unfähig, suchte er die Fehler für alle militärischen Rückschläge stets bei anderen. Die Folge war, dass sich das Karussell des Personalwechsels an der Spitze der Wehrmacht immer schneller drehte.

Der Mann, der vor 1939 kaum eine Gelegenheit ausgelassen hatte, um sich in Szene zu setzen und sich von den Massen umjubeln zu lassen, scheute, je länger der Krieg dauerte und sich die Niederlage abzeichnete, den öffentlichen Auftritt. Er wurde zu einer entrückten Gestalt. Seine Popularität war einem schleichenden Zerfall ausgesetzt, wenngleich der Führermythos seine Integrationskraft nie ganz verlor und nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 sogar noch einmal kurzzeitig auflebte.

Das Ende im letzten Moment

«Ich weiss, der Krieg ist verloren (. . .)», bekannte Hitler in einem vertraulichen Gespräch nach dem Scheitern der Ardennenoffensive Anfang Januar 1945, um dann fortzufahren: «Wir kapitulieren nicht, niemals. Wir können untergehen, aber wir werden eine Welt mitnehmen.» Seine Vernichtungswut richtete sich nun auch gegen das eigene Volk, das, wie er sagte, sich als das schwächere erwiesen habe und dessen Lebensgrundlagen daher ruhig zerstört werden könnten. Mehr denn je kreisten seine Gedanken um die Frage, wie er seinen Abtritt von der Bühne der Geschichte möglichst wirkungsvoll, im Stil von Wagners «Götterdämmerung», gestalten könne.

Der Inszenierung des «heroischen Untergangs» galt sein Augenmerk bis in seine letzten Tage. Gleichzeitig hielt er nach aussen bis zuletzt die Fassade unerschütterlicher Siegeszuversicht aufrecht. Noch in den letzten Lagebesprechungen des Frühjahrs 1945 steigerte er sich immer wieder in eine autosuggestive Euphorie hinein und beschwor das Beispiel des Preussenkönigs Friedrich des Grossen, dem er sich in seiner körperlichen Hinfälligkeit mehr und mehr anverwandelte.

Und selbst am Ende, als er nur noch ein durch die Bunkeranlagen unter der Reichskanzlei schlurfendes Wrack war, vermochte der Diktator noch Macht auf seine Umgebung auszuüben und sie dazu zu bringen, seine Befehle auszuführen. «Eine greisenhaft gewordene Erscheinung, gebeugt und mit matter Stimme sprechend; aber doch noch das Zentrum all dessen, was geschah», rief sich sein langjähriger Vertrauter, sein Architekt und Rüstungsminister Albert Speer, die Szenerie in Erinnerung.

Bereits in der Phase seines Aufstiegs hatte Hitler in kritischen Situationen wiederholt damit gedroht, sich umzubringen, und während des Krieges hatte er nie einen Zweifel daran gelassen, dass er sich im Falle einer Niederlage das Leben nehmen würde. Doch so leicht, wie er es sich und anderen vorgemacht hatte, fiel ihm der Entschluss nicht. Er sollte buchstäblich bis zum allerletzten Moment warten, bevor er am 30. April seinem Leben ein Ende setzte.

«Unsere Auseinandersetzung mit Adolf Hitler ist noch nicht zu Ende und kann nicht zu Ende sein; in gewisser Weise sind wir vor der Ewigkeit mit ihm verbunden.» Diese Feststellung des katholischen Schriftstellers Reinhold Schneider aus dem Jahr 1946 gilt im Grunde noch heute. Die Beschäftigung mit der rätselhaften, zutiefst verstörenden Gestalt dieses Jahrhundertverbrechers wird nie abgeschlossen sein.

Der «Fall Hitler» bleibt für alle Zeiten ein warnendes Exempel. Wenn er eines lehrt, dann dies: wie schnell eine Demokratie in eine Diktatur kippen kann, wenn die politischen Institutionen versagen und die zivilgesellschaftlichen Gegenkräfte zu schwach sind, um die Verächter der Demokratie in die Schranken zu weisen. Und: wie dünn die Decke ist, welche die Zivilisation von der Barbarei trennt.

Volker Ullrich, ehemaliger Redaktor der Wochenzeitung «Die Zeit», ist Autor einer zweibändigen Hitler-Biografie. Im Juli erscheint bei C. H. Beck sein Buch «Schicksalsstunden einer Demokratie. Das aufhaltsame Scheitern der Weimarer Republik».

Die schlimmsten Tyrannen der Geschichte

rib. Wladimir Putin, Kim Jong Un, Xi Jinping: Weltweit sind skrupellose Autokraten verantwortlich für Krieg, Gewalt und Angst. Um sie zu verstehen, werden Vergleiche bemüht: mit Hitler, Stalin, Mao. Aber wie sinnvoll sind solche Vergleiche? Was verbindet die Verbrecher der Gegenwart mit den Despoten der Geschichte? In den kommenden Wochen publizieren wir an dieser Stelle Texte von international renommierten Historikern, die sich mit der Frage befassen, wie Gewaltherrscher an die Macht kamen. Am 22. Juni schreibt der britische Historiker Victor Sebestyen über Wladimir Uljanow Lenin.

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