Donnerstag, September 19

Zehn Stunden lang stand das Wasser der Rhone im Walzwerk von Novelis in Siders. Mittlerweile wurden die meisten Maschinen repariert. Doch die Krise in der Autobranche könnte den Mitarbeitenden den nächsten Schlag versetzen.

Einzelne der beige lackierten mannshohen Generatoren stehen noch immer auf dem Fabrikareal. Doch sie sind still. Vollkommen ohne Strom aus dem Netz musste der Aluminiumproduzent Novelis in Siders nur in der ersten Woche nach der Überflutung seines riesigen Betriebsgeländes auskommen. Damals ratterten Dutzende Generatoren bei der Firma und erzeugten Elektrizität.

Unmengen von Schlamm

Beim Zulieferer der Automobilindustrie kämpft man indes bis heute mit den Folgen der Überschwemmungen. Als die Rhone in der Nacht auf den 30. Juni über die Ufer trat, geriet das gesamte Areal der Giesserei und des Walzwerks von Novelis unter Wasser. Normalerweise produziert der Betrieb Aluminiumbleche vor allem für Hersteller hochpreisiger Autos wie Jaguar Land Rover, Porsche, Ferrari oder Audi sowie deren Zulieferer. Doch seit dem Hochwasser steht die Fabrik still.

Zurück blieben Unmengen von Schlamm beziehungsweise «limon», wie es die französischsprachigen Bewohner des Unterwallis nennen: Eine Masse, die ähnlich klebrig sei wie die Klebstoffe, die man fürs Verlegen von Bodenbelägen verwende, sagt Bertrand Carrupt, der Sprecher von Novelis in Siders.

Bei einem Augenschein im Werk ist kaum mehr etwas von all dem Schlamm zu sehen. Nur einzelne verschmutzte Stellen an den Wänden erinnern noch daran. Auch fahren kaum noch Bagger im Areal herum. In den vergangenen Wochen kippten Dutzende von ihnen Schlamm in eine Grube mit einer Fläche von zwei Fussballfeldern. Einst war sie sieben Meter tief, nun ist sie bis oben gefüllt.

Mit Schaufeln ans Werk

Anfangs machten sich viele der 520 Mitarbeitenden von Novelis in Siders eigenhändig mit Schaufeln ans Werk, um den Boden in den Produktionshallen sowie in den Kellerräumlichkeiten zu säubern. Die Tätigkeit war körperlich so anstrengend, dass die Beschäftigten jeweils zwei Tage arbeiteten und danach zwei Tage frei bekamen.

«Beim Aufräumen selbst anpacken zu können, war für die Moral äusserst wichtig», sagt Serge Gaudin, der Werksleiter. Das Schlimmste für die Mitarbeitenden sei gewesen, dass man ihnen während der ersten drei Tage nach der Überflutung aus Sicherheitsgründen den Zutritt zum Werk habe verwehren müssen.

«Die Überflutung war», fügt der Manager hinzu, «für alle ein Schock.» Aber mit jedem Tag, an dem das Werk ein Stück sauberer geworden sei, hätten die Leute mehr Zuversicht verspürt. Vorsorglich beantragte die Geschäftsleitung bei den kantonalen Arbeitsbehörden Kurzarbeit. Es bestand die Gefahr, dass die Produktion über Monate nicht mehr aufgenommen werden kann.

Doch die Kurzarbeit, die trotz Versicherungsleistungen für jeden Betroffenen mit finanziellen Einschränkungen verbunden ist, blieb den Mitarbeitenden bis heute erspart. «Wir entschlossen uns stattdessen, Vollgas bei den Aufräumarbeiten zu geben», sagt Gaudin.

Putzen, putzen, putzen

Nach dem Schaufeln folgten für viele Beschäftigte das Demontieren von Anlagen sowie das Schrubben. Der feine Schlamm drang in kleinste Ritzen der Produktionsmaschinen ebenso wie in Schaltschränke und in die unterste Etage des Hochregallagers ein. Dabei entstanden vielerorts Korrosionsschäden. Im Hochregallager werden normalerweise die tonnenschweren Rollen aufbewahrt, auf denen die frisch produzierten Aluminiumbänder aufgewickelt sind.

«Wir bestellten alles, was wir an Material zum Putzen kriegen konnten», sagt Carrupt, der Mitarbeiter von Novelis. Mittlerweile sind die meisten Maschinen gereinigt, revidiert und frisch zusammengesetzt worden. Das Unternehmen konnte dabei auch auf die Unterstützung von bis zu 150 externen Spezialisten, unter ihnen viele Franzosen, Italiener und Spanier, zählen. Manche von ihnen sind noch heute vor Ort im Einsatz.

Als Erstes schaffte es Novelis, die Produktion in der Giesserei wiederaufzunehmen. Vorletzte Woche gelang es, die Warmwalze, wo die auf 500 Grad erhitzten Aluminiumbarren aus der Giesserei zu Bändern von 7 bis 9 Millimeter Dicke flachgewalzt werden, in Betrieb zu setzen. Noch läuft die Anlage aber erst im Probebetrieb. Die Kaltwalze, die sich direkt daneben befindet und bei der die abgekühlten Aluminiumbänder in drei Durchgängen eine Dicke von nur noch maximal 2 Millimeter erhalten, soll diese Woche probeweise zu produzieren beginnen.

Konkurrent Constellium braucht länger

«Es geht vorwärts», ruft Gaudin beim Vorbeigehen den rund ein Dutzend Mitarbeitern zu, die der revidierten Anlage den letzten Schliff geben. Danach schüttelt er jedem einzelnen die Hand. Die Arbeiter strahlen. Gaudin, der selber aus dem Unterwallis stammt und das Werk in Siders seit zweieinhalb Jahren leitet, hat laut eigenen Angaben seit der Überflutung durchgearbeitet. Er hole, sagt er, die Freizeit im Winter nach, wenn er Skitouren absolviere.

Bei Novelis kann man sich nicht den Hinweis verkneifen, dass man gegenüber dem auf demselben Areal tätigen Konkurrenten Constellium im Vorsprung sei. Dessen Mitarbeiter seien, heisst es, noch weit vom Hochfahren der Produktion entfernt.

Die Aktivitäten von Constellium und Novelis im Wallis gehen beide auf den ehemaligen Traditionskonzern Alusuisse zurück. Zur Jahrtausendwende hatte die Nachfolgefirma von Alusuisse, Algroup, mit dem kanadischen Konkurrenten Alcan fusioniert. 2005 wurden die Aktivitäten im Bereich gewalzte Halbfabrikate in die neu gegründete Firma Novelis ausgegliedert, die nur ein Jahr später vom indischen Mischkonzern Aditya Birla übernommen wurde. Auch Constellium entstand aus einer Abspaltung heraus – 2011, nachdem sich Alcan mit dem britisch-australischen Bergbaukonzern Rio Tinto zusammengetan hatte. Das Unternehmen wird von Paris aus geführt.

Während des Besuchs bei Novelis waren in angrenzenden Räumlichkeiten von Constellium Mitarbeiter tatsächlich noch mit Bodenputzarbeiten beschäftigt. Darauf angesprochen, teilte das Unternehmen mit, man verfolge rigoros den Plan, den man gemeinsam mit Versicherern für die Wiederherstellung der beiden Walliser Standorte in Siders und in Chippis ausgearbeitet habe. Nach heutigem Kenntnisstand dürften die ersten Produktionslinien nicht vor Ende Oktober wieder in Betrieb gehen. Das gesamte Hochfahren der Fertigung werde nicht vor Anfang nächsten Jahres abgeschlossen sein.

Nervöse Kunden

Die Geschäftsführung von Novelis verfolgt das Ziel, bereits Ende September in den Normalbetrieb überzugehen. Dazu muss neben der Kaltwalze aber auch die Endfertigung wieder laufen. In diesem Bereich werden für die Kunden aus der Automobilbranche Aluminiumbleche auf die gewünschten Grössen zugeschnitten.

Die Kundschaft beäugt das Unternehmen scharf bei der Wiederherstellung seiner Produktion. In den vergangenen Wochen sind immer wieder Vertreter von Automobilfirmen nach Siders gereist, um sich persönlich ein Bild von den Fortschritten zu machen. Ein deutscher Konzern schickte auch eigens schachtelweise Energydrinks ins Wallis, um die Arbeiter bei ihren Aufräumarbeiten anzuspornen.

Die Anspannung unter den Kunden ist gross, weil das Schweizer Werk von Novelis über Kompetenzen verfügt, die es anderswo so nicht gibt. So wurden bis anhin gewisse Masse an Blechen nur hier produziert. Bekannt ist, dass Porsche Probleme in der eigenen Fertigung bekam, weil plötzlich Aluminiumteile aus Siders fehlten.

Novelis begann nach der Überflutung des Werks in Sierre umgehend, Produktionstätigkeiten an andere Standorte in Deutschland umzuleiten. Mittlerweile scheinen die Anpassungen im Netzwerk des Unternehmens zu greifen und die Versorgung der Kunden sichergestellt zu sein. Dennoch geht man im Werk in Siders davon aus, den Grossteil der verlagerten Tätigkeiten zurückzuerhalten.

Schäden in dreistelliger Millionenhöhe

Siders soll auch künftig ein Kompetenzzentrum der Firma für Geschäfte mit der Automobilindustrie sein. Zugleich verfolgt man wie überall in der Branche bange, wie sich die Krise bei den Autobauern entwickelt. Für die Beschäftigten von Novelis wäre es ein bitterer Ausgang, wenn sie mangels Bestellungen in den kommenden Monaten zu wenig Arbeit hätten. Bei Constellium leistet ein Teil der Belegschaft bereits Kurzarbeit.

Die Schäden wegen der Überflutung sowie der Produktionsunterbruch dürften die beiden Unternehmen insgesamt einen dreistelligen Millionenbetrag kosten. Bei Novelis geht man von Nettokosten in Höhe von 70 Millionen Franken aus. Dabei sind erwartete Versicherungsleistungen eingerechnet. Constellium beziffert den Schaden auf umgerechnet 135 Millionen Euro. Der Konzern hofft, dabei noch Versicherungsansprüche von bis zu 50 Millionen Euro geltend machen zu können sowie von gewissen staatlichen Hilfsgeldern zu profitieren.

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