Zu Besuch bei einem persischen Neujahrsfest in Zürich.
Es ist der Abend des 20. März. In der Wohnung von Elika Djalili und ihrem Partner Urs Gösken in Zürich läuft iranische Musik, es duftet nach orientalischen Gewürzen. Djalili serviert Fisch, Kräuterreis und persisches Spinat-Omelette. Typische Speisen für das Neujahrsfest Nouruz.
Djalili lebt seit über vierzig Jahren in der Schweiz, die Tradition des Nouruz führt sie noch immer fort. Dass sie an diesem Abend die einzige gebürtige Iranerin ist, stört sie nicht. Sie freut sich darüber, dass sie die Tradition mit anderen teilen kann.
Nouruz wird seit über dreitausend Jahren gefeiert, inzwischen von 300 Millionen Menschen weltweit. In Iran ist es der wichtigste Tag im Jahr, auch für Iranerinnen und Iraner in der Diaspora.
Es kommt auf die Minute an
Nouruz heisst wörtlich übersetzt «neuer Tag» und symbolisiert den astronomischen Frühlingsbeginn mit der Tag-und-Nacht-Gleiche. In Iran und vielen weiteren Ländern beginnt damit zugleich das neue Jahr. Gefeiert wird das Fest weltweit zum exakten selben Zeitpunkt, ungeachtet der Zeitverschiebung.
Dieses Jahr fällt Nouruz auf den 20. März, exakt 10 Uhr 01. In Iran haben die Menschen an diesem Tag frei. Egal ob Nouruz mitten am Tag oder mitten in der Nacht stattfindet: Alle können feiern und verbringen den Jahreswechsel im Kreise der Familie.
Bei der Familie Djalili beginnen die Festlichkeiten erst am Abend. Der erwachsene Sohn Kassra erscheint aber morgens schon kurz vor 10 Uhr und damit pünktlich zum Jahreswechsel in der Wohnung.
Eines der zentralen Elemente des Nouruz, die «Haft Sin», hat Djalili bereits am Tag zuvor vorbereitet: sieben Dinge, die in Zusammenhang mit der Wiedergeburt der Natur stehen, arrangiert auf einem Tisch. Sie müssen in persischer Sprache alle mit dem Buchstaben S beginnen.
Dazu gehören üblicherweise Knoblauch, Essig, Apfel, Linsensprossen, Malz aus Weizen, Mehlbeere und Gewürzsumach. Bei Elika Djalili zu Hause sind die Objekte in blauen Schälchen angerichtet, eines davon steht auf einem Spiegel. «Der Spiegel ist Bestandteil des Brauches und steht für Transparenz und Ehrlichkeit», sagt sie.
Tradition bedeutet Heimat
Elika Djalili kam 1984 in die Schweiz. Sie war damals 18 Jahre alt, eine junge Iranerin aus einem gebildeten Elternhaus in der Hauptstadt Teheran. Sie wollte in Iran ein Studium beginnen, die Universitäten blieben aber als Folge der islamischen Revolution geschlossen, gleichzeitig herrschte der iranisch-irakische Krieg. Deshalb entschloss sie sich, in die Schweiz zu ziehen, wo ihr Onkel bereits seit den 1950er Jahren lebte.
Hier liess sie sich zuerst zur Dentalhygienikerin ausbilden, bevor sie an der Universität Zürich Islamwissenschaft und Kunstgeschichte studierte und dissertierte. 1993 kam ihr Sohn Kassra Palenzona zur Welt.
Djalili ist mittlerweile viel länger in der Schweiz, als sie je in Iran gelebt hat. «Der Ort, an dem ich aufgewachsen bin, bedeutet mir viel», sagt sie. «Doch ich habe gelernt, dass Heimat dort ist, wo man die eigene Kultur leben darf.» Das tut sie, indem sie die persische Sprache und Kultur als Dozentin an der Universität Bern weitergibt, indem sie mit ihrem Sohn und ihrem Partner Farsi spricht und mit ihnen Nouruz feiert. Dieses Jahr sind auch Kassras Freundin und deren Eltern dabei.
Kassra ist in der Schweiz geboren und kennt das Geburtsland seiner Mutter aus seinen regelmässigen Ferien dort. Nouruz, das Neujahrsfest, hat er bisher aber nur in der Schweiz gefeiert. Dennoch habe es ihn geprägt, sagt er. «Ich habe erst viel später realisiert, dass das neue Jahr hier nach Silvester beginnt», sagt er. Es erscheint ihm auch heute noch logischer, dass das neue Jahr zeitgleich mit dem Frühling anfängt.
Der Frühlingsputz ist fester Bestandteil der Tradition. Bereits einen Monat vor Nouruz wird damit begonnen. Das ganze Haus wird gründlich gereinigt und auf die Ankunft des neuen Jahres vorbereitet.
Mit Feuer und Gedichten ins neue Jahr
Der Winter wird beim sogenannten Mittwochsfeuer vertrieben. Der Brauch findet in der Nacht zum letzten Mittwoch vor Nouruz statt und bezeichnet den Auftakt der Festlichkeiten. In der Schweiz beginnen diese meist erst am Tag von Nouruz. Dann versammeln sich die Familien im kleinen Kreis, idealerweise noch vor dem exakten Zeitpunkt des Jahreswechsels. «Nouruz ist ein andächtiger Feiertag. Man denkt an all das zurück, was im vergangenen Jahr passiert ist», sagt Djalili.
Direkt nach dem Jahreswechsel ruft Djalili immer ihre Verwandten an, die in Iran leben. Als Erstes ihre Mutter. Per Videoanruf wünschen sie sich alles Gute, zeigen sich die «Haft Sin» im jeweiligen Zuhause.
Was das neue Jahr bringt, erfahren die Feiernden an Nouruz traditionsgemäss aus einem heiligen oder wichtigen Buch. Mit dieser Tradition beginnt jener Donnerstagabend im Wohnzimmer der Djalilis. «Man überlegt sich eine Frage, auf die man sich eine Antwort wünscht, und schlägt das Buch an zufälliger Stelle auf», sagt Elika Djalili, während sie einen Gedichtband des persischen Dichters Hafis in der Hand hält. Die aufgeschlagene Stelle im Buch dient als eine Art Wegweiser für das neue Jahr.
Djalili und ihr Partner Urs Gösken, Schweizer und ebenfalls Islamwissenschafter, lesen die persischen Gedichte vor. Gemeinsam versuchen sie, die blumige Poesie der persischen Sprache auf Deutsch zu übersetzen.
Muslime verwenden für diese Tradition den Koran, Christen die Bibel. Nouruz ist ein vorislamischer Brauch und daher nicht an eine bestimmte Religion gebunden. So ist es auch kein Problem, dass einige der aufgeschlagenen Stellen von Weingenuss handeln. In Iran ist jeglicher Alkohol verboten, in der Schweiz stossen Elika Djalili und ihre Familie mit Rosé und Prosecco an.
Der Fokus auf den schönen Dingen
Nach dem Rätseln um die Interpretationen der Gedichte serviert Elika Djalili die klassischen Nouruz-Speisen. Beim Essen betonen Elika Djalili und ihr Sohn mehrmals, wie schön es sei, dass auch einmal Positives über Iran berichtet werde. Man lese immer nur über die Probleme. Tatsächlich steht die Bevölkerung in Iran vor einer Vielzahl von Herausforderungen.
Das Land leidet seit Jahren unter wirtschaftlichen Sanktionen, die iranische Währung ist kaum etwas wert. Immer wieder kommt es zu sozialen Unruhen. Nach dem gewaltsamen Tod von Mahsa Amini im September 2022 riefen Protestierende die Bewegung «Frauen, Leben, Freiheit» ins Leben. Das Regime schlug die Proteste brutal nieder, Aktivisten und politische Dissidenten duldet es keine. Die staatliche Repression hält bis heute an.
Elika Djalili hat deshalb einen grossen Wunsch für das neue Jahr: «Ich wünsche mir, dass die leidtragende iranische Bevölkerung ihre verlorene Würde und Ehre zurückerlangt.»
Über Politik will die Familie an diesem Abend aber lieber nicht reden. Stattdessen erzählen sie am Tisch Anekdoten aus ihren Iran-Ferien und erklären beim Teetrinken, wieso sich der Kaffee im frühneuzeitlichen Iran nicht durchsetzen konnte.
Es ist schon bald Mitternacht, als das gemütliche Beisammensein langsam zu einem Abschluss kommt – zumindest in der Schweiz. In Iran folgen auf Nouruz zwölf weitere Festtage. Während dieser fast zwei Wochen dürfe man unangekündigt bei Verwandten und Freunden auftauchen, sagt Elika Djalili.
Der offizielle Abschluss erfolgt am dreizehnten Tag. Gemäss Tradition müssen alle aus dem Haus, hinaus in die Natur, wenn möglich an ein Gewässer. Dort trifft man sich ein weiteres Mal mit der Familie. Man bringt zudem die an Nouruz angerichteten Linsen- oder Weizensprossen mit. Diese wirft man ins Wasser und gibt sie der Natur zurück.
Der dreizehnte Tag fällt dieses Jahr auf den 2. April. Elika Djalili sagt: «Das Wetter spielt keine Rolle, wir gehen immer nach draussen, oft an die Sihl.» So lebt die Tradition auch in der Schweiz weiter.