Donnerstag, Oktober 10

Er zählt zu den Ausnahmebegabungen in der jüngeren Generation. Der russische Angriff auf die Ukraine trieb ihn ins Exil. Jetzt gastiert Alexander Malofeev am Lucerne Festival und spielt dort ein Werk seines grossen Vorbildes.

Er ist kein Mann grosser Worte. Im persönlichen Austausch kann Alexander Malofeev verschlossen wirken. Es braucht seine Zeit, bis der 22 Jahre alte Pianist aus Moskau auftaut. Wenn es aber so weit ist, verblüffen seine Direktheit und seine Offenheit. «In Senar zu sein, ist eine der inspirierendsten Erfahrungen in meinem Leben! Vielen Dank für den warmen, einzigartigen Empfang!» So hat er in das Gästebuch der Villa Senar nahe Luzern geschrieben – und das ist bei ihm mehr als eine Höflichkeit. Malofeev meint es exakt so.

Denn hier in Hertenstein bei Weggis, wo Sergei Rachmaninow während der 1930er Jahre lebte, war Malofeev Mitte Juni zu Gast, um unter anderem die 1. Klaviersonate des seinerzeit weltberühmten Pianisten zu interpretieren: auf dem historischen Steinway-Flügel des Meisters. Am 20. August kehrt er nun an den Vierwaldstättersee zurück und spielt am Lucerne Festival mit dem Festivalorchester unter seinem Chefdirigenten Riccardo Chailly das 1. Klavierkonzert Rachmaninows.

Malofeev liebt Rachmaninow. Sein Werdegang ist eng mit dessen Musik verbunden. Mit dem 3. Klavierkonzert gastierte er schon vor rund acht Jahren an der Mailänder Scala. Damals hörte ihn Chailly, der auch Musikdirektor der Scala ist, und war beeindruckt: «Er war erst 14 und überraschte mich mit seinem Talent. Denn das war nicht nur ein Wunderkind: Er verfügte bereits über Tiefgang und technische Fähigkeiten.» Das mache ihn zu einem exzellenten Interpreten des 3. Klavierkonzerts, das so viele Pianisten vor Probleme stelle. Chailly ist seitdem ein grosser Förderer von Malofeev im Westen.

Ins Exil nach Berlin

Als Russland Ende Februar 2022 die Ukraine überfiel, tourte Malofeev gerade durch Nordamerika. «Die Situation war schrecklich», erinnert er sich. «Ein Teil meiner Familie stammt aus der Ukraine, der andere aus dem Süden Russlands, nahe der Grenze zur Ukraine. Ich war am Boden zerstört.»

Wegen des russischen Angriffs werden im Frühjahr 2022 vielerorts Konzerte russischer Künstler abgesagt. Bei Malofeev sind es insgesamt vierzig Veranstaltungen – trotz seiner Verwurzelung in beiden Nationen. «Ich war selber so geschockt, dass es in gewisser Weise für mich verständlich war. Das heisst nicht, dass damals alles korrekt abgelaufen ist in den Reaktionen. Es war für mich jedoch klar, dass diese Absagenwelle auch wieder vorübergehen würde.»

Dennoch verlässt er Russland mithilfe von Daniel Barenboim, damals Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper, und dessen Akademie. Er lebt seither in Berlin. Seine Familie kann er vorerst nicht besuchen. «Mir droht eine Einberufung in die Armee, sollte ich nach Russland reisen. Dass ich meine Liebsten nicht sehen kann, ist für mich das Härteste. Ich möchte aber nicht so wirken, als ob ich der Leidende wäre. Das bin ich nicht, verglichen mit anderen, die gerade wirklich Schlimmes durchmachen.»

Als er 2022 in Frankfurt für Jewgeni Kissin einspringt und wenig später in Wien auch Khatia Buniatishvili vertritt, ist Malofeev vollends im Westen angekommen. In Russland hatten ihm zuvor auch der Dirigent Valery Gergiev und der Pianist Denis Matsuev viele Türen geöffnet: zwei Künstler, die im Westen wegen ihrer Verbindungen zum Putin-Regime mittlerweile als Persona non grata gelten. Malofeev verschweigt nicht, dass er von beiden einst gefördert wurde. Die Tatsache aber, dass er als junger, aufstrebender Pianist russisch-ukrainischer Herkunft 2022 in den Westen ging und damit sein berufliches und soziales Netzwerk in Russland aufgegeben hat, markiert eine klare Distanz.

Im eigenen Raum

Gilt das auch künstlerisch? Immerhin wurde 2015 in einem frühen Porträt die These aufgestellt, das Spiel Malofeevs sei mit seiner Vorliebe für flotte Tempi und vollgriffige Virtuosität demjenigen von Matsuev ähnlich. «Das ist schon lange her», erwidert Malofeev. «Es wäre traurig, wenn sich mein Spiel seither nicht geändert hätte. Allerdings würde ich auch nicht behaupten, dass ich damals versucht hätte, ihn zu imitieren.» Matsuev habe in erster Linie als Förderer grossen Einfluss auf ihn gehabt.

«Künstlerisch bin ich vor allem von Meistern beeinflusst, die tot sind», sagt Malofeev, ganz ohne Ironie, und nennt an vorderster Stelle wiederum Rachmaninow: «Wenn man seinem Spiel zuhört, ist da eine faszinierend schlanke, unprätentiöse Melodie», sagt er. «Für mich ist die russische Musik immer verbunden mit schönen Melodien, also auch mit Gesang und der russischen Sprache. Als ein Musiker aus Russland liebe ich die Melodie.»

In seinem Musizieren möchte er einen «eigenen Raum» kreieren. «Ob Zimmer oder Bühne: Es ist stets mein eigener Raum, auch wenn Hunderte zuhören. Ich lasse sie zu mir herein», erklärt er. Und wenn er jetzt in Luzern mit dem Lucerne Festival Orchestra (LFO) unter Chailly auftritt: Ist das auch sein eigener Raum? Oder ein Miteinander aus dem Geist der Kammermusik, wie es einst Claudio Abbado in Luzern vorgelebt hat? «Das LFO ist noch immer ein Orchester mit vielen unterschiedlichen Individuen. Das Beste, was uns passieren kann, ist, eine schöne gemeinsame Zeit zu haben.»

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