Dienstag, November 26

Männer hätten Angst, zum Arzt zu gehen? Der Schriftsteller Axel Hacke beweist das Gegenteil. Er hat ein Buch über seinen Körper geschrieben, das von Erektionsstörungen und kurzzeitigem Gedächtnisverlust erzählt: «Aua!»

Viele Männer kennen ihren Körper nicht gut, sie verdrängen lieber, wenn ihnen etwas weh tut, denn Kranksein bedeutet, Schwäche zu zeigen. Das gilt zumindest für die ältere Generation. Wie war das bei Ihnen, bevor Sie Ihr Buch geschrieben haben?

Ich treibe viel Sport und war meinem Körper gegenüber schon deshalb immer aufmerksam. Aber es ist bei dem Buch noch etwas anderes hinzugekommen: Der Körper ist eine Ansammlung von Geschichten. Über jede Narbe auf der Haut, jedes Leiden, jede Krankheit gibt es etwas zu erzählen, und ich wollte einfach mal so eine Art Memoiren aus rein physischer Sicht schreiben, weil damit etwas über unsere Beziehung zur Welt gesagt wird. Und weil ich da eben so eine Art Grundwachsamkeit meiner Physis gegenüber habe, lag das Material quasi auf dem Tisch.

Sie melden sich also selber für einen Arzttermin an, das macht nicht Ihre Frau?

Nein. Aber ich habe das auch von meinem Kardiologen gehört: Viele seiner Patienten seien noch am Leben dank ihren Frauen. Die Männer mussten fast geprügelt werden zum Arztbesuch, und dann war es fünf vor zwölf. Es kostet mich meist keine so grosse Überwindung, allerdings stimmte soeben etwas mit meiner Schilddrüse nicht. Ich dachte, das liege an einer kürzlich erlittenen Bronchitis-Erkrankung, sowieso sei dies doch ein Frauenleiden. Meine Frau liess nicht locker: Ich müsse zu einem Endokrinologen. Sie setzte sich durch, und ich bekam meine Diagnose.

Welche?

Thyreoiditis de Quervain, eine Entzündung, bei der die Schilddrüse nach und nach zerstört wird, bei mir aber gerade noch rechtzeitig entdeckt, dank meiner Frau.

Sie sind 68. Sie beschreiben in Ihrem Buch sehr innige Beziehungen zu Ihren Spezialisten, von denen Sie nicht wenige haben. Haben Sie nun einen «Arzt Ihres Vertrauens» mehr?

Ja, tatsächlich. Aber jetzt ist alles gut, und ich nehme Medikamente ein. Der einzige Vorteil an dieser Schilddrüsenerkrankung ist: Man kriegt sie nur einmal im Leben.

Wer ist Ihr Lieblingsarzt?

Mein Urologe ist mittlerweile schon achtzig Jahre alt. Ein netter Kerl mit einem guten Humor. Er nimmt seinen Patienten die Scheu, über bestimmte Themen zu sprechen. Er beruhigt auch mich, indem er sich mit einbezieht und «wir» sagt: «Wenn wir älter werden, haben wir Männer halt diese Probleme.»

Er hat seine Dissertation zu einem besonderen Thema geschrieben.

Er schrieb über Masturbation von Männern mit Staubsaugern und die furchtbaren Verletzungen, die es dadurch gibt. Ich habe den Fehler gemacht, die Arbeit zu lesen, welcher Bilder angefügt sind. Ich musste da weiterblättern, es war entsetzlich.

Sie gingen wegen Erektionsproblemen zum Urologen. Die meisten Männer empfänden Scham, dies offen zuzugeben. Fiel Ihnen das leicht?

Ich habe mir schon mehr Gedanken gemacht bei diesem Kapitel, das ich «Penis» nenne. Für Männer ist es in der Regel peinlich, zum Urologen zu gehen. Ich habe einmal einen Bekannten im Wartezimmer getroffen, der mehrmals beteuerte, er sei nur für eine Routineuntersuchung da. Er hatte wohl Angst, ich könnte denken, er lasse sich Viagra verschreiben.

Kam Ihr Leiden wieder gut?

Ja. Mein Urologe führte die Erektionsstörungen auf Stress zurück, und das war es auch.

Je besser man seinen Körper kennt, desto mehr horcht man in sich hinein. Sind Sie ein Hypochonder?

Wenn Sie einen Hypochonder fragen, ob er ein Hypochonder sei, wird er Ihnen sagen: Nein, er sei tatsächlich krank. Ich habe hypochondrische Züge und kann leicht in Panik verfallen. Dann gehe ich aber so schnell wie möglich zum Arzt, um nicht länger den Phantasien ausgeliefert zu sein. Wahrheit hilft immer. Es ist wichtig, dass die Ärzte einen beruhigen können. Mich beruhigt schon die Stimme meines Hausarztes, seine reine Anwesenheit.

Sie haben einige Körperteile und Organe ergründet. Welches lässt Sie staunen?

Ein unterschätztes Organ ist die Nase. Es ist ja so: Alle Reize aus unserer Umwelt müssen auf dem Weg zum Gehirn den Thalamus passieren, eine Art Vorzimmer, wo sie gefiltert werden. Die Riechreize aber nicht, sie gelangen direkt ins Hirn. Das zeigt, welche Bedeutung sie immer noch für uns haben. Riechen ist etwas Animalisches, aber auch für uns zivilisierte Wesen von grösster Bedeutung. Es spielt eine Rolle, wie jemand riecht, wenn wir uns verlieben oder uns sexuell angezogen fühlen.

Die Weltöffentlichkeit bekam dieses Triebhafte vor Augen geführt dank Jogi Löw, dem damaligen Trainer der deutschen Fussballnationalmannschaft.

Jogi Löw wurde vor einem besonders kritischen Spiel dabei gefilmt, wie er sich am Spielfeldrand die Hand in die Hose steckte, seine Geschlechtsteile berührte und danach an seinen Fingern roch. Es war eine Szene von animalischer Selbstvergewisserung. Einerseits Bundestrainer, andererseits Tier. Die Medien machten eine Riesengeschichte daraus. Dabei ist es nur menschlich.

Sie riechen beim Schreiben hin und wieder an den Fingern.

Ich scheine nicht der Einzige zu sein. Ich habe das oft bei Menschen beobachtet, die nervös wurden, in Konferenzen zum Beispiel. Wir wollen das nicht wahrhaben, weil wir uns für so unglaublich kultiviert halten.

Ein anderes Organ, das die schambesetzte Dunkelheit verlassen hat, ist der Darm. Gefühle sollen ihre Ursachen im Darm haben, auch eine depressive Verstimmung kann mit der Verdauung zusammenhängen. Erzählt Ihnen Ihr Darm, wie es Ihnen geht?

Natürlich. Das Seelenleben spielt sich nicht nur im Kopf ab, sondern ist auch im Darm wirksam. Angst regt die Verdauung an. Wissenschaftliche Experimente mit Mäusen zeigen, dass sich zum Beispiel eine soziale Phobie im Darm verorten lässt.

Wie hat man das herausgefunden?

Man hat Mäusen die Darmflora von Menschen mit sozialen Phobien transplantiert. Plötzlich waren die Mäuse ängstlich. Nicht nur unser Darm ist besiedelt von Milliarden von Bakterien, auch auf unserer Haut leben irgendwelche Spinnentiere, die sich vom Sekret unserer Talgdrüsen ernähren.

Will man das so genau wissen? Manchmal verdrängt man doch lieber, was auf oder im Körper vorgeht. Man hat Angst vor dem MRI oder der Blutentnahme, denn es könnte ja etwas Schlimmes zum Vorschein kommen. Sie hingegen wollen wissen. Warum?

Weil ich es verrückt fände, Risiken zu ignorieren. Tatsächlich haben Leute in meinem Bekanntenkreis Angst vor einer Darmspiegelung. Dabei ist es doch das Beste, was man machen kann. Dann weiss man, was los ist, und kann notfalls etwas dagegen tun. Es geht hier um Darmkrebs und andere schwerwiegende Erkrankungen.

Wovor fürchten Sie sich mehr, vor Demenz oder Krebs?

Krebs hat den Vorteil, dass er je nachdem heilbar ist und man ihm vorbeugen kann. Einer Demenz ist man ausgeliefert. Man wird nie mehr Herr des Geschehens werden.

Sie schreiben, Sie hätten in den Abgrund geblickt, als Sie eine transiente globale Amnesie erlitten, einen temporären Verlust des Kurzzeitgedächtnisses. Können Sie seither erahnen, wie es sein muss, wenn man langsam vergisst?

Ja. Es war ein schreckliches Erlebnis. Ich war mit meiner Frau in Bozen, wo ich am Vorabend einen Vortrag gehalten und mit den Leuten noch ein Glas Wein getrunken hatte. Ich befand mich in einer seelischen Ausnahmesituation, weil ich zur selben Zeit um das Leben eines meiner Kinder und eines Enkels fürchten musste. Am nächsten Morgen wachte ich im Hotel auf, dabei war mir seltsam zumute. Ich sah die Welt wie durch eine Glasscheibe, sie war nicht mehr erreichbar. Meine Frau begann mir Fragen zu stellen: Wie heisst du? Wo bist du geboren? Das konnte ich beantworten. In welcher Stadt wir waren und was ich gestern Abend gemacht hatte – das wusste ich nicht. Sie rief einen Notarzt, der einen Schlaganfall ausschloss. Das beruhigte mich sehr, und nach zwei Stunden kam die Erinnerung zurück.

Was war die Ursache für den Gedächtnisverlust?

Stress. Der Körper ist ausgestiegen.

Man beschäftigt sich heute obsessiv mit dem eigenen Körper. Keine Zeitung kommt mehr ohne Gesundheitsrubrik aus. Bücher darüber, mit welchem Lifestyle man hundert Jahre alt wird, boomen. Der Körper als Fetisch: Tragen nicht auch Sie dazu bei?

Das glaube ich nicht. Ich kritisiere gerade, wie der Körper zum Objekt degradiert wird. Der Körper wurde zum Statussymbol. Man macht Bodybuilding und Diäten. Man gestaltet ihn mit Schönheitsoperationen und Tätowierungen. Er wird wie etwas Fremdes behandelt. Es kommt mir vor, als versuchte man mit dem eigenen Körper die Kontrolle über die Welt zu erlangen.

Ist es nicht gut, wenn die Leute gesünder essen und weniger Alkohol trinken?

Nur vergisst man dabei, dass man ja auch noch Freude am Leben haben soll.

Sie wuchsen in der Nachkriegszeit auf, viele Männer kehrten versehrt von der Front zurück. Wie hat das Ihr Körperbild geprägt?

Mein Vater hatte nur ein Auge, und er litt an einer Beinverletzung. Ich wohnte in einer Strasse mit vielen Kriegsversehrten. Es war für mich völlig normal, dass Männer blind waren, dass sie eine riesige Wunde am Kopf hatten oder nur einen Arm oder ein Bein. Als Kind habe ich nicht drüber nachgedacht. Es ist verwunderlich, wie diese körperliche Unvollständigkeit etwas Selbstverständliches sein kann.

Der Hunger während der Kriegsjahre wurde an Sie vererbt, ohne dass Sie hungern mussten. Man könnte es Körpergedächtnis nennen.

Meine Familie hat die Hungerwinter nach dem Krieg erlebt. Deshalb hatte meine Grossmutter Angst, dass ich nicht genug esse. An Familienfesten mussten Unmengen gegessen werden. Das wirkte sich auf den Körper aus. Ich war ein dickliches Kind, und die Fettzellen sind mir bis heute geblieben. Ein Mädchen in meiner Klasse gab mit den Spitznamen Pummelchen, und das in einer Phase, in der ich gerne mit meiner erwachenden Männlichkeit zur Kenntnis genommen worden wäre.

Ich zögere, Sie zum Schluss auf Ihren Tinnitus anzusprechen. Ist das Pfeifen, sobald Sie daran erinnert werden, sofort da?

Inzwischen gelingt es mir, den Tinnitus ins Unbewusste zu versenken wie in einen tiefen Teich. Dann höre ich ihn nicht mehr. Manchen Leuten gelingt das nicht, sie leiden entsetzlich. Ich kann den Tinnitus sogar für Wochen vergessen. Er ist da, wenn jemand darüber redet, oder in stressigen, fordernden Situationen. Er ist wie eine kleine Sirene, die die freiwillige Feuerwehr ruft. Er sagt mir, dass ich gerade etwas auf mich aufpassen muss. Insofern habe ich mich mit meinem Tinnitus befreundet.

Axel Hacke (68) ist Schriftsteller und Kolumnist des «Süddeutsche-Zeitung-Magazins». Zu seinen Büchern gehören «Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten», «Ein Haus für viele Sommer» oder «Der kleine Erziehungsberater». Er lebt in München.

Axel Hacke: Aua! Die Geschichte meines Körpers. DuMont-Verlag, Köln 2024. 224 S., Fr. 29.90.

Exit mobile version