Mittwoch, Oktober 2

Der Rheinfall ist für viele unantastbar und eine der Top-10-Tourismusattraktionen der Schweiz. Nun soll der grösste Wasserfall Europas zum Stromproduzenten werden.

Deniz Tanrikut steuert das ausgebuchte Boot Richtung Felsen. Seit 16 Jahren bringt er Besuchergruppen möglichst dicht an den Rheinfall heran. An diesem Tag ist es schwieriger: Das Wasser tost, braust und spritzt wie selten zuvor. Fast eine Million Liter Wasser pro Sekunde strömen derzeit die Kalkfelsen herunter. Ein Schauspiel, wie man es seit 25 Jahren nicht mehr gesehen hat. Der Bootsführer Tanrikut lenkt ein, so dass die Touristen den Wasserfall in seiner ganzen Pracht sehen können. Wäre es nicht um jeden Tropfen Wasser schade, der nicht über dieses Kalkgestein fliessen würde?

Diese Frage stellen sich derzeit die Kantone Zürich und Schaffhausen. Und zwar im Rahmen eines Projekts, das den Rheinfall für die Stromgewinnung nutzen will. Angedacht ist ein unterirdisches Laufkraftwerk auf der Zürcher Seite des Rheins. Das Wasser würde vor dem Rheinfall abgezweigt, unter dem Festland durch einen 330 Meter langen Druckstollen geleitet und nach dem Rheinfall bei Dachsen wieder ins Wasser gelassen.

Maximal dürften 125 000 Liter Wasser pro Sekunde entnommen werden. Damit könnte das Kraftwerk jährlich 70 Gigawattstunden Strom produzieren, was der Leistung von fünf grossen Windturbinen entspricht. Der Kanton Zürich sieht den Rheinfall als einzige Möglichkeit, die Wasserkraft im Kanton auszubauen. Zum gleichen Schluss kommt der Kanton Schaffhausen.

Beim Wasserkraftprojekt am Rheinfall prallen die Interessen des Tourismus, des Naturschutzes und der Stromproduktion aufeinander. Es stellt sich die Frage: Wird das Wasserkraftprojekt zum Reinfall?

SP-Nationalrätin Martina Munz: «Heimatschutz ist nicht Schwingen und Jodeln»

Zumindest Martina Munz, Schaffhauser SP-Nationalrätin und Präsidentin der Gewässerschutzorganisation Aqua Viva, sieht das Projekt bereits zum Scheitern verurteilt. Einem Kraftwerk am Rheinfall steht sie aus mehreren Gründen kritisch gegenüber.

Zum einen aus touristischer Sicht. Rund eine Million Menschen besuchen jedes Jahr den Rheinfall. Neben Schifffahrten laden Restaurants, Cafés, Pärke, Kanuverleih, eine Miniaturwelt und ein Tschu-Tschu-Bähnli zum Verweilen ein. Munz befürchtet, dass die Wasserentnahme das Naturschauspiel schwer beeinträchtigen könnte. Bis zu ein Fünftel des Wassers würde dem Rheinfall entzogen. «Jede andere Region würde das Naturschauspiel in Szene setzen, anstatt es zu schmälern,» sagt Munz. «Das ist, als würde man Solarpanels am Matterhorn installieren.»

Zum anderen hat die SP-Nationalrätin ökologische Bedenken. Sie verweist darauf, dass der Rheinfall im Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler gelistet ist. Beim geplanten Einlauf des Kraftwerks befindet sich darüber hinaus eine Äschenpopulation von nationaler Bedeutung. Die Fischart ist in der Schweiz gefährdet. Zudem gibt es rund um den Rheinfall verschiedene Naturschutzobjekte. Munz sagt: «Heimatschutz ist nicht bloss Schwingen und Jodeln, es bedeutet auch der Schutz unserer Landschaften.»

Zudem trage der Rheinfall bereits genug zur Energiewende bei, sagt Munz. Im Kraftwerk Rheinau, das wenige Kilometer flussabwärts vom Wasserfall liegt, wird Wasser gestaut. Dadurch vermindert sich die Fallhöhe des Rheinfalls. Rechtsufrig sei ausserdem seit 1950 ein kleines Laufkraftwerk in Betrieb, wovon nur die wenigsten Kenntnis hätten. Munz würde Hand bieten, dieses Kraftwerk zu erneuern oder gar auszuweiten. Maximal fliessen dort 30 000 Liter pro Sekunde ab, was einem Zwölftel des durchschnittlichen Rheinabflusses entspricht.

Die Präsidentin von Aqua Viva versteht nicht, warum gerade der geschützte Rheinfall der Stromproduktion dienen soll. Zumal das geplante Kraftwerk vor allem im Sommer viel Strom produzieren würde. Munz sieht andernorts mehr Potenzial: zum Beispiel beim Ausbau der Wind- und Solarenergie im Kanton. «Ich kenne in Schaffhausen keinen Parkplatz, der mit Solarpanels überdacht ist», sagt sie.

FDP-Regierungsrat Martin Kessler: «Jede Kilowattstunde zählt»

Diametral anders schätzt das Projekt der Schaffhauser FDP-Regierungsrat Martin Kessler ein. Er ist im Kanton für die Energie-, Verkehrs-, Bau- und Umweltpolitik zuständig. Schon 2011 forderte er als Kantonsrat den Ausbau der Wasserkraft am Rhein bei Schaffhausen. Kessler begrüsst den Schritt des Kantons Zürich, der das Kraftwerk am Rheinfall in den Richtplan aufnehmen will. Die Grenze der beiden Kantone verläuft mitten durch das Gewässer.

Im Oktober 2022 trat in Schaffhausen das revidierte Wasserwirtschaftsgesetz in Kraft, was ein zweites Laufwasserkraftwerk am Rheinfall ermöglicht. Das Gesetz regelt darüber hinaus, wie viel Wasser dem Rhein entnommen werden darf. Bei wenig Wasser darf gar kein Wasser für die Stromproduktion genutzt werden. Bei viel Wasser maximal 125 Kubikmeter pro Sekunde. Derzeit fliessen jede Sekunde 900 Kubikmeter den Rhein hinunter.

Vor zehn Jahren lehnte die Schaffhauser Stimmbevölkerung noch eine Revision des Wasserwirtschaftsgesetzes ab, die ein zusätzliches Rheinfallkraftwerk ermöglichen hätte. Das Parlament hatte das Gesetz einer Volksabstimmung unterstellt, bei der Revision vor zwei Jahren nicht. Die Bevölkerung hatte damals Angst, dass der Rheinfall durch ein zusätzliches Kraftwerk zu einem Rinnsal verkommen könnte.

Der Blick zurück entmutigt den Befürworter Kessler aber nicht. Den Schweizerinnen und Schweizern sei heute stärker bewusst, dass im Rahmen der Energiestrategie 2050 die erneuerbaren Energien massiv ausgebaut werden müssten. Zudem gebe es im heutigen Wasserwirtschaftsgesetz klare gesetzliche Schranken bezüglich der Wasserentnahme. Er sagt: «Wir müssen an allen Ecken und Enden prüfen, wo wir noch Strom produzieren können. Jede Kilowattstunde zählt.»

Kessler zeigt anhand einer Animation des kantonalen Tiefbauamts, welchen Unterschied die zusätzliche Wasserentnahme macht. Bei mittleren Abflussmengen sieht man ihn am stärksten: Es treten Felsen hervor, wo zuvor das Wasser geflossen ist. Der Rheinfall wirkt weniger imposant. Wenn wenig oder besonders viel Wasser den Rheinfall hinunterfliesst, erkennt man hingegen kaum einen Unterschied.

Sofern ein Projekt vorläge, wäre auch eine Solaranlage am Matterhorn im Rahmen einer Interessenabwägung zu prüfen, sagt Kessler. Jedoch lässt sich eine solche nicht mit dem Projekt am Rheinfall vergleichen. Denn das auf Zürcher Seite geführte Wasserkraftwerk könnten die Besucherinnen und Besucher gemäss der Potenzialstudie von Axpo nicht sehen. «Das Kraftwerk wird dem Naturschauspiel Rheinfall nicht schaden.»

NZZ von 1947: Leserbriefschreiber fordert Kraftwerk am Rheinfall

«Obschon in den letzten Jahren sehr viel Druckerschwärze in Sachen ‹Energiebeschaffung› verbraucht worden ist, sitzen wir heute mit unserer Energiewirtschaft in der Klemme.» Diese Zeilen hat nicht etwa der Schaffhauser Regierungsrat Kessler verfasst, sondern ein NZZ-Leserbriefschreiber im Jahr 1947.

Er forderte schon vor bald 80 Jahren den Bau eines Wasserkraftwerks am linken Ufer des Rheinfalls. Zu dieser Zeit gab es einen Strommangel in der Industrie. Der Leserbriefschreiber erzählt, wie ihn «der Zufall» über die Neujahrstage an den Rheinfall gebracht habe. Und schreibt weiter: «Nachdem ich denselben von allen Seiten betrachtet hatte, kam ich zur Einsicht, dass es unter den heutigen Verhältnissen paradox erscheint, dieses Wasser ungenützt über die Felsen hinunterdonnern zu lassen.»

Diese Einsicht könnte einem Besucher auch heute durch den Kopf gehen, angesichts der gewaltigen Wassermassen. Die Idee, den Rheinfall für die Energieproduktion zu nutzen, war aber selbst 1947 keine neue. Schon im 11. Jahrhundert betrieb das Kloster Allerheiligen auf Zürcher Seite mit Wasserkraft eine Mühle. Anfang des 19. Jahrhunderts errichtete man oberhalb des Rheinfalls zwei Dämme, um möglichst viel Wasser in die Wasserräder zu leiten. Die Energie wurde für die Industrie genutzt.

Schaffhauser Volk hat letztes Wort

Auch heute lockt die Kraft des Rheinfalls die verschiedenen Interessenten an. Doch beim jüngsten Wasserkraftprojekt werden weder die Nationalrätin Munz noch der Regierungsrat Kessler oder die Zürcher Regierung das letzte Wort haben. Die Schaffhauser Stimmbevölkerung würde letztlich über das Wasserkraftwerk abstimmen.

Kessler will keinen Zeithorizont nennen. Aufgrund seiner Erfahrungen mit Windkraftprojekten sagt er aber: «Solche Projekte macht man nicht für sich, sondern für seine Enkel.» Auch Munz will das konkrete Projekt abwarten, bevor sie es abschliessend beurteilen wird.

Zurück am Rheinfall. Der Bootsführer Tanrikut tuckert in den Hafen. Er lässt die Gäste vom Schiff, eine Schulklasse steigt ein. Die Strecke zum mittleren Felsen bleibt in diesen Tagen wegen zu hoher Wasserstände geschlossen: Mit einem zusätzlichen Kraftwerk wäre sie heute wohl offen. Auf ein zweites Kraftwerk angesprochen, sagt Bootsführer Tanrikut deshalb: «Ich wäre dafür.»

Am Rheinfallbecken-Ufer wehen die Flaggen der Schweizer Kantone im Wind. Die Besucher vor Ort scheint es nicht zu stören, dass die Felsenfahrt ausbleibt. Schulklassen grillieren, asiatische Gäste posieren mit Selfie-Stick vor dem Rheinfall, eine Velogruppe fährt ein. Dass mehr Wasser mehr Menschen anzieht, zeigt der jüngste Besucherrekord am Rheinfall.

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