Im Zürcher Schiffbau wird Nietzsches Klassiker als multimediales Happening inszeniert. Mit Tanz und Kunst will der Philosoph die Menschen aus der existenziellen Leere hinausführen. Deshalb gibt es auch einen Rave für Darsteller und Publikum.

Das Leben ist eine Herausforderung! Der Mensch muss einem leidtun bei all den Mühsalen, denen er ausgesetzt ist. Unter Krämpfen wird er geboren von einer leidenden Mutter. Und kaum erblickt er das Licht der Welt, da brennen ihm schon die Augen, der Hunger meldet sich und die Schwerkraft, die Müdigkeit, die Hitze, die Kälte, die Angst, der Lärm der andern und die nagenden Selbstzweifel. Was also soll das ganze Theater, mag man sich denken, was ist der Sinn?

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Solche Fragen stellen sich auch am Samstagabend im Zürcher Schiffbau, wo Friedrich Nietzsches Klassiker «Also sprach Zarathustra» in der Inszenierung des deutschen Regisseurs Sebastian Hartmann Premiere feiert. Hartmann hat eine Affinität zu ungewöhnlichen Dimensionen. Im Schiffbau setzt er die Bühne nicht etwa quer in den Raum. Vielmehr teilt er diesen in der Längsachse in die Zuschauertribüne einerseits und andrerseits in eine lange Bahn für die Auftritte der Schauspieler. Nach hinten aber wird diese von neuen Wänden abgeschlossen, die zusammen einen gigantischen Screen bilden. Am Boden finden sich beidseits Kanonaden von Videoprojektoren, die anfangs für ein schummriges Licht sorgen.

Zuerst weinen, gelacht wird später

In diese Dämmerung tritt als erstes Menschenkind eine nackte Frau (Tabita Johannes). Und wenn sie sich sogleich dreht und windet im Schmerz und sich zuckend wehrt gegen die Existenz, in die sie ungefragt geworfen wurde, denkt man an ein Baby, das heult, kaum ist es auf der Welt; das Lachen wird es erst lernen müssen. Eine ähnliche Dynamik, um es vorwegzunehmen, bestimmt auch diesen viereinhalbstündigen Theaterabend.

Hartmanns Mut zur Grösse hat durchaus etwas Faszinierendes. Allein, der Physik ist das egal. Sie rächt sich an der Regie, die die Gegebenheiten der Halle zu wenig berücksichtigt, durch einen ständigen Hall, der das Textverständnis bald erschwert, bald verhindert. Die Zuschauer blicken deshalb in die Breite und machen lange Gesichter.

Vor ihnen laufen Darstellerinnen und Darsteller hin und her wie auf der Strasse des Lebens. In ihren schwarzen und weissen Textilien erinnern sie an den grauen Alltag und die schwarzen oder weissen Karossen im Autoverkehr. Dass die Strasse gerade verläuft, ist offenbar ihr Fehler. Denn, wie Nietzsches Zarathustra mehrmals sagt: Alle Wahrheit ist krumm.

Deshalb vielleicht treten die neun Schauspielerinnen und Schauspieler nun in einem monologischen Reigen zumeist einzeln vors Publikum und bringen klagend, heulend und inständig schreiend ihr Unglücklichsein zum Ausdruck. Man versteht sie schlecht. Offenbar leiden auch sie unter den Mühsalen des menschlichen Lebens – also unter Hunger, unter der Schwerkraft oder an Müdigkeit, an der Hitze und an der Kälte, an der Angst vor Einsamkeit, am Lärm der Mitmenschen, vor allem aber an Selbstzweifeln. Was also soll das alles, fragen sie sich. Was ist der Sinn des ganzen Theaters?

Manchmal werden die Monologe nur als Videos gezeigt. Das gilt zum Beispiel für das Ich (Ingolf Müller-Beck), das einen Telefonanruf erhält. Von wem? Vom Ich! Einmal scheint ein Schauspieler (Matthias Neukirch) die Kolleginnen in der Garderobe um Hilfe zu bitten, weil er nicht mehr weiss, wann er drankommt mit seinem Text. Das könnte witzig sein, aber es bleibt abermals ein Winden und Wehen. «Sei endlich ruhig», herrscht ihn eine Kollegin an. Und im Publikum möchte man ihr beipflichten: Seid endlich mal ruhiger, hört auf zu schreien!

Sklaven des Texts

Gewiss sind Pathos und Verzweiflung Nietzsches Text geschuldet. Es wird in der Inszenierung zwar nicht erwähnt: Bei Nietzsche aber war Zarathustra zur inneren Einkehr zehn Jahre in den Bergen. Durch seine Meditationen glaubt er einen Weg gefunden zu haben, wie man aus dem Grau eines bürgerlich-biederen Lebens in die Freiheit und in ein orgiastisches Glück ausbrechen könnte. In den Bergen hat er auch die ewige Wiederkehr des Gleichen entdeckt. Weil ihm die Zeitgenossen nicht zuhören wollen, ist er selber auf sein klägliches, einsames Menschsein zurückgeworfen.

Einige Passagen aus den Zarathustra-Monologen werden zu Loops montiert und dann von verschiedenen Stimmen rezitiert. Die Darsteller wirken dann oft wie Textsklaven, gedopt mit Schrei- und Klagepillen. Für eine erste Ausnahme sorgt Artemis Chalkidou in einer gewitzten Szene, in der Zarathustra den Alltag der Grossstadt kritisiert. Den langsamen Selbstmord nenne man hier Leben; und jede grosse Idee werde hier kleingeredet. Während der Philosoph weise spricht, wird ihm ein Mikrofon vor den Mund gehalten, das seine eigenen Gedanken medial verstärkt und in Micky-Mouse-Speech verwandelt.

Nach zwei Stunden eine Art Pause. Zarathustra hat endlich verkündet, wie der Mensch aus seiner Misere finden könnte: durch Tanz und Kunst. Und sogleich wird Techno (Musik: Samuel Wiese) in die Halle gepumpt, so dass sich Ensemble und Zuschauer bei einem kurzen Rave lockern können. Zur Auffrischung steht aber auch die Bar im Foyer bereit.

Wenn man eine gute Viertelstunde später in die Halle zurückkehrt, sieht man leere Reihen. Rund ein Viertel des Publikums bleibt weg und verpasst nun ein Kunsthappening, in dem die Inszenierung ihre gemächliche Fortsetzung findet. Eine riesige Leinwand steht im Raum, davor zwei Leitern, auf denen nun die einen Schauspieler-Maler und -Malerinnen in schwarzen Overalls herumkrabbeln, während die andern die Farbe anrühren.

Die Farbe wird auf beiden Seiten in Rinnsalen über die Fläche gegossen. Es wird fast eine Stunde dauern, bis das ganze Bild mit roten, blauen, schwarzen und gelben Spuren markiert ist. In dieser Zeit herrscht eine aufgeräumte Stimmung unter den Zuschauern. Man schaut den Künstlern zu, die etwas an die Arbeiter erinnern, die einst in dieser Werkhalle schufteten. Andere plaudern leise miteinander.

Wer aber einsam ist, wird sich wohl langweilen und abermals nach dem Sinn fragen. Das Bild wird zuletzt durch Action-Painting vollendet: Die Künstler giessen je einen Kessel Farbe über die Leinwand; es spritzt auch auf den Boden und in die Zuschauerränge. Was also mag der Sinn sein? Schwer zu sagen. Immerhin wurde ein buntes Werk geschaffen – nicht von einem genialen Künstler, sondern von einem engagierten Team.

Versöhnliches Ende

Den Höhepunkt aber findet die Nietzsche-Inszenierung dann doch in Einzelleistungen im letzten Teil. Zunächst eine faszinierende Wiedergeburt: Abermals erscheint Tabita Johannes als nacktes Menschenkind. Sich windend und drehend in der Erde (bzw. der braunen Farbe) wächst sie allmählich aus dem Boden heraus. Von schrillen Kieksern begleitet, wirken ihre Zuckungen wie der Ausdruck von gleichzeitig Schmerz und Lust.

Für den Höhepunkt aber sorgt Elias Arens, der Nietzsches Text plötzlich in ein von Wahn und Enthusiasmus befeuertes, aber durchaus verständliches Reden übersetzen kann. In seinem gut zehnminütigen Furioso wird er selbst ganz zu Nietzsche, der, von Gott und Vernunft erlöst, die Freiheit nun im Irrsinn jagt. Und wenn zuletzt, kurz vor zwölf, auch Linda Pöppel als Zarathustra überzeugt, der in ihrer Darstellung allmählich aus Melancholie und Einsamkeit herausfindet, um das Publikum mit Hoffnung auf Liebe und Zärtlichkeit zu trösten, fühlt man sich wie versöhnt. Es gibt ein paar schöne Momente in dieser Nietzsche-Aufführung, insgesamt erlebt man ein ungewöhnliches Spektakel. Weshalb nur müssen alle so schreien am Anfang? Unangenehm.

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