Mittwoch, Oktober 9

Der Traum einer Gesellschaft ohne Regeln und Sanktionen ist eine Utopie, schreibt Moritz Leuenberger. Unser Zusammenleben beruhe auf geteilten Wertvorstellungen. Dennoch habe die Moral einen schweren Stand, schreibt Moritz Leuenberger.

«Moralinsäure» und «Moraltanten» sind Ausdrücke des Spottes, wenn nicht der Häme. Besonders unbeliebt sind «Moralprediger». Entweder teilen wir ihre Lehren nicht, oder wir halten sie für unglaubwürdig, weil sie ihrer eigenen Botschaft zuwiderleben, etwa wenn Klimaschützer nach der Selbstanklebung in die Ferien fliegen. Liegt es an solchen Beispielen, dass Moral zu einem eigentlichen Unwort geworden ist? Es scheint so, zumindest im politischen Kontext.

In Sport und Krieg bedeutet sie dagegen Kampfgeist, wird also positiv gewertet: «Der FCZ zeigte in der zweiten Halbzeit mehr Moral.» «Der Einmarsch Richtung Kursk stärkt die Moral in der Ukraine.» Auf dem Stimmungsbarometer schwankt sie je nach Gemütszustand. Einmal sind wir «moralisch aufgestellt», das andere Mal haben wir «den Moralischen».

Moral ist wertneutral

Im politischen Diskurs ist die Moral zu einem Schimpfwort verkommen. Kürzlich titelte die NZZ einen Leitartikel zur gegenwärtigen Gender-Polemik mit: «Achtung, Moral!» Der Titel nahm den Inhalt vorweg: Moral als solche ist etwas Verwerfliches. Es gibt auch die gegenteilige Bewertung, Moral sei a priori etwas Gutes. Ein Buchtitel von André Comte-Sponville heisst: «Kann Kapitalismus moralisch sein?» Da wird Moral mit einer sittlichen Tugend gleichgestellt, welcher der Kapitalismus nicht zu genügen vermöge.

Beide Titel sind eine Verkürzung. Die Moral als solche ist weder verwerflich, wie der NZZ-Titel suggeriert, noch ist sie etwas Erhabenes, wie Comte-Sponville nahelegt. Immer kommt es auf die Bewertung der jeweiligen Überzeugung an. Was richtiges Verhalten ist, was eine soziale Regel sein soll, bleibt stets umstritten. Jede Wertvorstellung birgt eine Moral, auch wenn ihre jeweiligen Verfechter sich dies nicht immer vergegenwärtigen.

Nach den letzten eidgenössischen Wahlen kanzelte die «NZZ am Sonntag» die Grünen ab: «Es gibt viel zu viel Moral. Sie ist billig zu haben, sie verstellt den Blick auf das Wesentliche, auf die pragmatische Politik. Mit Moral ist heute kein anständiger Staat zu machen!»

Wirklich? Unsere Verfassung umschreibt Moral ausdrücklich als eine der Grundlagen des Bundesstaates, der ein anständiger Staat sein soll.

Als wir letztes Jahr das 175-Jahr-Jubiläum der Schweizerischen Bundesverfassung feierten, riefen wir uns in Erinnerung: Das Zusammenleben in unserem Staat basiert auf den Säulen der Zwischenmenschlichkeit, der Moral und des Gesetzes.

Nächstenliebe und Achtsamkeit

Wir können uns, als visionären Traum, auch eine Gemeinschaft ganz ohne Regeln und ohne Sanktionen vorstellen. Selbst der Strassenverkehr könnte einzig mit Rücksichtnahme und Vernunft funktionieren. Achtsamkeit gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern und Anwohnern und die Verinnerlichung des Bremsweges würden genügen, um angemessen zu fahren. Alle Diskussionen zwischen Gemeinden und Kantonen um Tempo 30 wären überflüssig.

Der Traum einer Gesellschaft ohne Regeln und Sanktionen ist eine Utopie, die religiös oder aufklärerisch motiviert sein kann. Paulus predigt im Römerbrief: «Wir halten dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werk, allein durch den Glauben.» Das war auch eine tiefe Überzeugung von Jeremias Gotthelf. Die etwas pastoral anmutende Nächstenliebe wird in der Aufklärung auch mit Solidarität und gegenwärtig mit Achtsamkeit umschrieben.

Ob Nächstenliebe oder Achtsamkeit, es geht um ein Grundverhalten der Menschen, das durch Erziehung und Kultur geformt, übernommen und weitergegeben wird. Ein Kind lernt: Einer Blume reissen wir nicht einfach den Kopf ab, wir zertreten nicht einen krabbelnden Käfer, sondern wir versuchen, ihm auf die Beine zu helfen. Für das Zusammenleben der Menschen in einem Staat sind wir auf die Hilfsbereitschaft, auf den freiwilligen Einsatz von barmherzigen Samaritern angewiesen. Ohne diesen freiwilligen Einsatz kann eine Gemeinschaft nicht harmonieren.

Dieses religiöse oder kulturelle Grundwasser des Zusammenlebens in einer Gesellschaft fliesst in die Diskussionen darüber ein, was gut, was zweifelhaft, was verwerflich, was böse sei.

Moralische Normen

So entstehen sittliche Regeln über Anstand, Rücksichtnahme, Treu und Glauben, über Vertrauen. Sie sind in der Bundesverfassung, im Zivilgesetzbuch oder im Strassenverkehrsrecht ausdrücklich als Grundsätze verankert. Es sind moralische Tugenden ohne rechtliche Sanktionen.

In Art. 5 BV heisst es: «Staatliche Organe und Private handeln nach Treu und Glauben.» Aus der Präambel: «Frei ist nur, wer seine Freiheit gebraucht.» Art. 6 BV: «Jede Person nimmt Verantwortung wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei.»

Diese Proklamationen nehmen konkrete Gestalt an, wenn ohne gesetzliche Verpflichtungen Abfall getrennt wird, Blut gespendet, in der Dorffeuerwehr freiwillig Einsatz geleistet oder an Hilfswerke gespendet wird. Die Eigenverantwortung anstelle verbindlicher Normen, worauf vor allem Liberale pochen, wenn es um Geldwäscherei oder die Verantwortung von Konzernen in anderen Ländern geht, ist ebenfalls eine solche sittliche Tugend.

Solches Verhalten kann nicht mit Gesetzen oder staatlicher Gewalt und nicht mit Sanktionen erzwungen werden. Der tschechische Schriftsteller Karel Capek (Begründer des Begriffes «Roboter») bekannte: «Ich kann kein Kommunist sein, weil die Moral des Kommunismus keine Moral der Hilfe ist, sondern eine Idee der politisch organisierten Gleichheit.»

Moral und Gesetz beeinflussen sich gegenseitig

Moral und Gesetz beeinflussen sich gegenseitig. Neue Moralvorstellungen von der Fristenlösung, der Homosexualität oder der Hierarchie in der Ehe beeinflussten und veränderten mit der Zeit die Gesetze. Durch die Annahme der «Abzocker»-Initiative verdichtete sich eine moralische Haltung zu einem Verfassungstext. CO2-Reduktion wurde zuerst von einigen Unternehmen der Automobil- und der Zementbranche freiwillig praktiziert und wurde Grundlage für spätere, allgemein bindende Vorschriften.

Umgekehrt bewirkten die konsequente Verfolgung und Bestrafung von Fahren in angetrunkenem Zustand, dass die moralische Verharmlosung dieses früheren Kavaliersdeliktes verschwand.

Nicht jede Moral, auch wenn sie mehrheitsfähig ist, darf zum Gesetz erhoben werden. Denn es gibt immer Minderheiten mit anderen moralischen Vorstellungen. Sie müssen respektiert werden. Obwohl eine breite Mehrheit die Impfung gegen Covid befürwortete, wurde stets gleichzeitig betont: Wir wollen keinen Impfzwang. Auch die Minderheit muss in ihren Überzeugungen geachtet werden. Ganz abgesehen davon, dass nicht jedes Verhalten, und sei es noch so wünschenswert, reglementiert und bürokratisiert werden muss.

Gesetze allein schaffen keine Demokratie

Machiavelli geht in «Der Fürst» davon aus, dass das Zusammenleben der Menschen wesentlich durch die Angst vor Sanktionen organisiert werde. Nicht Vertrauen oder Liebe halte die Menschen zusammen, sondern die Furcht vor dem Gesetz. Viele Staaten sind nach dieser Idee organisiert, doch die Vorstellung einer Demokratie ist das nicht.

Selbst mit uneingeschränkten polizeilichen Mitteln, selbst mit einem totalen Polizeistaat kann echtes Vertrauen zwischen den Menschen nicht erzwungen und also nicht garantiert werden.

Der Ansatz ist daher genau umgekehrt: zuerst die Freiwilligkeit, die mit Anreizen gefördert wird, dann subsidiär Verbindlichkeit durch das Gesetz, gepaart mit Sanktionen als Ultima Ratio. Daher sind Freiwilligkeit, Eigenverantwortung und Vertrauen ausdrückliche Prinzipien der Bundesverfassung. Dazu gehört die Freiheit, ja die Pflicht, eine moralische Überzeugung zu vertreten und sich für sie einzusetzen, ohne gleich verhöhnt zu werden.

Die Diskussion über sittliche Gesinnung und Praxis ist eine tragende Säule unseres Bundesstaates. Gesetze und Verordnungen allein leisten keine Demokratie. Diese kann sich erst durch den Atem von Nächstenliebe und Moral zu Leben entfalten.

Moritz Leuenberger ist Altbundesrat. Er gehörte von 1995 bis 2010 der Schweizer Regierung an.

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