Donnerstag, Mai 1

14 000 Personen demonstrierten in Zürich für höhere Löhne und ein bisschen Revolution. Szenen eines Protesttages.

Mario Mattioli trägt eine Kette mit Hammer und Sichel um den Hals. Auch ein rotes Sternchen baumelt da. Er sei Anarchist, sagt er, aber irgendwie auch ein bisschen libertär, und kommunistisch, und sozialistisch. Nur den sowjetischen Diktator Josef Stalin möge er nicht.

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Es ist der 1. Mai 2025, der internationale Tag der Arbeit. Der Helvetiaplatz in Zürich, 10 Uhr morgens. Tausende Demonstrierende besammeln sich. Mattioli, pensionierter Maurer, fällt unter ihnen nicht weiter auf.

Er trägt einen Wollpullover und eine grosse rote Fahne. Für die Rechte von Migranten will er heute protestieren. «Die Schweiz muss ihre Politik ändern und offener werden», sagt er auf Italienisch. Wer Migrant sei, werde hier verfolgt, seit Jahrzehnten. Er habe das selbst erlebt.

Ein paar Meter weiter steht eine Frau mittleren Alters, die für ein ganz anderes Anliegen kämpft. Yuksel arbeitet als Sterilisationsassistentin in einem Spital und will ihren Nachnamen nicht nennen. Dafür hält sie stolz das Konterfei von Abdullah Öcalan hoch.

Der Anführer der Kurdenmiliz PKK sitzt in der Türkei im Gefängnis. Hier, an der 1. Mai-Demonstration, fordern seine Unterstützer seine Freilassung, ebenso wie ein unabhängiges Kurdistan. So, wie sie das jedes Jahr tun.

Die Organisatoren des 1. Mai-Komitees haben Öcalan gar als Redner nach Zürich eingeladen. An seiner Stelle trat die Aussenbeauftragte eines Kurdengebiets in Nord- und Ostsyrien als Rednerin in Zürich auf.

Der 1. Mai ist auch ein Tag der Widersprüche. Wer hier protestiert, will gesellschaftlichen Wandel, will Veränderung, vielleicht gar Revolution. Und doch sieht der Protestzug Jahr um Jahr gleich aus, werden die immer gleichen Slogans skandiert, wird den gleichen Riten gefrönt.

Und so sehr hier stets die Einheit der Linken beschworen wird, so gross sind an diesem Tag die Unterschiede zwischen den Protestgruppen – und den Anliegen, die sie vertreten.

Mehr Stress in der Tramkabine

Um 10 Uhr 30 setzt sich der Umzug in Bewegung. Ein Traktor fährt los, ein junger Mann brüllt Parolen zu internationaler Solidarität in ein Megafon. Aus einem Lautsprecher ertönt Mundart-Rap: «Sinder ä grad uf de Suechi nach ere Einzimmer-Wohnig / Chostet nur siebe Mill im Monet!» Der Sänger ruft zu Hausbesetzungen auf. Denn die Alternative sei: der Wegzug in die Agglomeration.

Ganz vorne am Zug steht Reto Vonarburg, ein Mann mit Bärtchen, grünem Hemd und blauer Dächlikappe. Seit 11 Jahren ist er Trampilot bei den VBZ. Seine Forderung: eine 35-Stunden-Woche.

«Wir haben bei der Arbeit immer mehr Stress», sagt Vonarburg. «Es gibt mehr Verkehr, die Menschen sind unkonzentrierter, überall fahren E-Trottinette.» Es sei deshalb an der Zeit, dass auch die Arbeitsbedingungen für seinen Berufsstand verbessert würden.

Mit dieser Idee ist er nicht alleine: Vorne im Protestzug, wo die Gewerkschaften marschieren, verlangt Berufsgruppe um Berufsgruppe dasselbe. Logistik-Angestellte etwa oder auch das Kabinenpersonal von Fluggesellschaften.

«Wollen die einfach alle mehr Geld?», fragt ein Mädchen am Strassenrand seinen Vater. Der nickt und zieht weiter an seinem Joint.

Wasserballons auf Journalisten

Weiter hinten im Zug sind die Forderungen komplett anders. Die Schilder sind handgemalt, die Palästinensertücher werden mehr, ebenso Fahnen mit Hammer und Sichel. Die «roten Falken», eine Art linke Pfadi, mögen Bundesrat Albert Rösti nicht. «Wir kochen Rösti», schreiben sie. Und auf einem anderen Plakat, das sich um schmelzende Polkappen dreht: «Dieser Eisbär heult – wegen dir!»

Hinter ihnen marschieren die Linksautonomen des selbsternannten «revolutionären Blocks». Es sind zwar nur einige Hundert, gemessen an den Tausenden im Umzug eine kleine Minderheit, doch die Aufmerksamkeit – die scheinen sie ganz für sich zu wollen.

Das zeigt sich erstmals um 11 Uhr 15, als sie den Löwenplatz erreichen. Plötzlich riecht es chemisch, nach frischer Farbe aus der Spraydose. Beim Einbiegen in die Bahnhofstrasse ist dann kein Halten mehr. Pyros werden gezündet, roter Rauch steigt auf. Schwarz gekleidete und vermummte Gestalten rennen aus dem Zug und besprayen Schaufenster mit Graffiti: «Smash the patriarchy», «Krieg dem Krieg» oder – auf der H&M-Fassade – «Solidarität mit den Textilarbeiter*innen».

Eine Frau im Palästinensertuch hält einen Hammer und eine Sichel hoch, schwarz gekleidete Aufpasser verscheuchen Passanten. Mehrmals macht der Tross halt; der Fotograf der Linksextremen will schöne Bilder machen. Unabhängige Medienschaffende mag der «schwarze Block» dagegen weniger. Mit Namen und Beschreibung werden sie via Megafon zum Ziel erklärt und dann mit Wasserballons beworfen.

Während die Autonomen in der Bahnhofstrasse mit Sprayen beschäftigt sind, versucht es Tabea Cincers weiter vorne im Zug mit Argumenten. Cincers ist Assistenzärztin und sagt: «Derzeit arbeiten wir im Schnitt 56 Stunden pro Woche. Das ist mehr, als das Arbeitsgesetz erlaubt.» Sie und ihre Kolleginnen verlangen deshalb eine 42-Stunden-Woche.

Feurige Rede gegen «Apartheid-System»

Kurz nach 12 Uhr marschieren die ersten Demonstrierenden auf den Sechseläutenplatz. Es sind allerdings weder Gewerkschafter noch Autonome, weder kurdische Freiheitskämpfer noch pensionierte Anarchisten. Sondern eine brasilianische Musikgruppe. Sie hat, ganz Folklore, den diesjährigen Protestzug trommelnd angeführt.

14 000 Personen haben laut den Gewerkschaften daran teilgenommen, die Polizei spricht von mehreren tausend.

Halb eins, der Sechseläutenplatz ist brütend heiss. Vania Alleva, die Präsidentin der Gewerkschaft Unia, tritt auf die Bühne. Und versucht zu beschreiben, was die verschiedenen Elemente dieses Protestzuges vereint.

«Was wir wollen ist mehr Gleichberechtigung, mehr soziale Gerechtigkeit und eine bessere Welt», verkündet die Gewerkschafterin. Dies im Gegensatz zur Lieblingsgegnerin der Linken: der SVP. Diese betreibe «Klassenkampf von oben», indem sie Politik für Reiche betreibe, etwa bei der anstehenden Senkung der Unternehmenssteuern im Kanton Zürich.

Ins Zentrum ihrer Rede stellt Alleva das Saisonnierstatut. Ein rechtliches Konstrukt, mit den im der Nachkriegszeit Tausende in die Schweiz kamen, ohne Recht auf Verbleib und Familiennachzug. Die tiefen Löhne, die schlechten Unterkünfte und die Ausgrenzung von damals: Das wünsche sich die SVP zurück. Sie wolle «eine Baracken-Schweiz, ein Apartheid-System», ruft Alleva. Und beteuert: «Das ist nicht unsere Schweiz, das werden wir immer bekämpfen.»

Keine Erwähnung finden jene Themen, die die Linke gerade spalten: der Krieg in Gaza etwa, der in Teilen des Protestzugs das dominante Thema war. Oder die alljährlichen Sachbeschädigungen durch die Linksradikalen.

Das Nebeneinander verschiedenster Positionen, von moderaten und extremistischen Splittergruppen, von gesittetem Protest und inszeniertem Krawall: Es prägt auch diesen 1. Mai. Durcheinander, widersprüchlich nennen das die Kritiker des Anlasses. Die Teilnehmer selbst haben für das Phänomen einen anderen Namen: Vielfalt.

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