Mittwoch, November 27

Lukas Podolski war das Gesicht einer ganzen deutschen Fussball-Generation. Mit 37 spielte er in seiner Heimat bei Gornik Zabrze und verlebte einen milden Karriereherbst. In Polen ist er doch noch vom Prinzen zum König aufgestiegen.

Sein ganzes Erwachsenenleben lang war Lukas Podolski ein Prinz. Als er 2003 erstmals in der Bundesliga für Furore sorgte, im 1. FC Köln, war der Spitzname schnell gefunden – wegen des Kölner Karnevals. «Prinz Poldi», so apostrophierten die Medien den damals 18-Jährigen liebevoll; irgendwann warb er für die «Prinzenrolle».

Er war ein mitreissender junger Angreifer, voller Unbekümmertheit in seiner Spiel- und Ausdrucksweise, was ankam bei den Menschen. Ein Instinktfussballer, der diesen Sport auf der Strasse gelernt hatte. Und auch die Sprache, den Slang. In Köln wurde er Publikumsliebling, weil die Menschen in ihm einen der ihren sahen. Im modernen Fussball ist vieles Projektion, aber bei Podolski war das keine falsche Einschätzung.

Ein Prinz ist zwangsläufig ein Thronfolger, aber es kann bekanntlich dauern, bis es so weit ist – Prince Charles musste 74 werden, bis er zum König aufstieg.

Podolski ist die Krönung in Deutschland verwehrt geblieben. Seine Darbietungen als Jüngling hatten eine enorme Erwartungshaltung ausgelöst, die Podolski nicht befriedigen konnte. Er spielt für Bayern, Inter Mailand und Arsenal, Schwergewichte des Weltfussballs, aber das Narrativ lautete: Er macht nicht genug aus seinem immensen Talent und ist zu gnädig mit sich. Mosern nennen die Deutschen das, es ist eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen. Bei den Bayern sagte Karl-Heinz Rummenigge, man habe mehr erwartet. Der Torhütertrainer Uli Stein nannte ihn faul.

Podolski zieht durch die Welt und löst dann ein altes Versprechen ein

Allzu stark scheint Podolski die Kritik nie gekümmert zu haben, er zog einfach weiter, irgendwann nach Japan und in die Türkei, Länder, wo die Hochachtung vor einem Weltmeister praktisch für immer währt. Auch dort wurde er hofiert, aber seit er im Sommer 2021 ein altes Versprechen eingelöst hat und in die Heimat gewechselt ist, zu Gornik Zabrze, hat sich sein Status verändert.

Emil Bergström, ein Schwede, der früher in Basel und bei GC verteidigt hat und nun in Zabrze gelandet ist, sagt: «Seine Popularität ist gewaltig. Das hier ist sein Reich.»

Krol Lukas, König von Schlesien.

Über Schlesien, diese 40 000 Quadratkilometer, die heute vor allem auf polnischem Territorium liegen, hat Goethe einmal geschrieben, es handle sich um ein «zehnfach interessantes Land, das ein sonderbar schönes, sinnliches und begreifliches Ganzes macht».

In Zabrze florierte der Bergbau, doch als die Minen schlossen, bezahlte die Stadt einen hohen Preis

Es ist Anfang Mai 2023, und in Zabrze ist die Glorie von einst nicht zwingend auf den ersten Blick erkennbar. Und möglicherweise auch auf den zweiten nicht. Aber wer hierherkommt, in die Bergbaustadt, taucht ein in eine andere Welt, in der die Zeit einfach irgendwann angehalten hat. Was sich in einer gewissen Eigenständigkeit äussert. Die Innenstadt ist nicht austauschbar wie an so vielen Orten in Westeuropa, wo es überall die gleichen internationalen Ladenketten gibt, Zara, New Yorker und Subway.

In Zabrze gibt es Plattenbauten, Kunsthallen und Modegeschäfte in Familienbesitz für die knapp 140 000 Einwohner. Ein paar Stunden vor dem Anpfiff besprechen sich Spieler des Gegners Warta Poznan auf der Terrasse des vornehmsten Hotels in der Stadt – ein Ibis, das Doppelzimmer gibt es für 49 Euro.

Einst war Zabrze die Hochburg des polnischen Bergbaus, doch inzwischen sind alle sechs Minen geschlossen. In den letzten zwei Jahrzehnten musste sich die Stadt neu erfinden. «Wir haben für den Wandel einen hohen Preis bezahlt, die Arbeitslosigkeit lag bei 24 Prozent», sagt die Bürgermeisterin Malgorzata Manka-Szulik. Heute sind es 4 Prozent, es gibt drei Universitäten – und für die jungen Menschen wieder eine Perspektive.

Der Durchschnittslohn liegt bei 1300 Euro pro Monat, für Polen ist das ansprechend. Manka-Szulik sagt, das wunderbare polnische Bier schmecke unterirdisch noch besser, im Schaubergwerk der Stadt, man solle vorbeikommen. Sie würde Zabrze gerne auch als Tourismusort stärker verankern.

«Es ist schön, wieder zu Hause zu sein»

Im Frühsommer 2023 war Podolski Zabrzes spannendste Attraktion, dank ihm entdeckten Fussballtouristen und Groundhopper die Destination für sich. Nach einem souveränen 2:0-Sieg über Warta stand Podolski in der Mixed Zone des Ernst-Pohl-Stadions und sagte: «Meine ganze Familie hat früher unter Tage gearbeitet. Es ist schön, wieder zu Hause zu sein.»

Zu Hause. Das ist für Podolski auch Köln. Es ist ihm manchmal übelgenommen worden, dass er zwei Städte, Länder und Klubs liebt; im Sport hat sich das Konzept der Polygamie noch nicht durchgesetzt. Aber heute ist alles verziehen, er ist in Köln ein Volksheld und in Polen so populär wie noch nie.

Es war ein kleines Rührstück, das Podolski im Herbst seiner Karriere aufführte. Er zeigte, dass man im Spätherbst einer ruhmreichen Laufbahn nicht zwingend für ein paar Millionen seine Restwürde verkaufen und ins schurkige Saudiarabien wechseln muss, schöne Grüsse an Cristiano Ronaldo. Auch Podolski lagen deutlich lukrativere Offerten vor, aus Nordamerika und dem Nahen Osten. Aber er wollte zurück nach Schlesien, dorthin, wo er einst zur Welt gekommen war. Im Stadtteil Sosnica in Gliwice, wo die Menschen zu Gornik halten und nicht zum Lokalmatador Piast Gliwice.

Lange war Gornik – der Name ist der polnische Ausdruck für Bergmann – Rekordmeister. 1970 erreichte der Klub den Final im Cup der Cup-Sieger gegen Manchester City. Aber mit dem Zerfall der Kohlenindustrie begann auch der Abstieg von Gornik, der Klub versank zeitweise in der Zweitklassigkeit. Bis heute befindet er sich in einer Art Transformationsphase. Dort, wo eigentlich die Gegentribüne stehen sollte, liegen nur Schutt und Asche; der Bau hat sich aufgrund finanzieller Schwierigkeiten verzögert.

Das letzte Länderspiel datiert von 1996, ein 0:2 gegen Deutschland, von dem in Erinnerung geblieben ist, dass deutsche Hooligans den Hitlergruss zeigten. In einem Stadion, das bis 1946 Adolf-Hitler-Kampfbahn hiess. Und das bis heute Ewiggestrige anzieht, Rechtsextremismus ist unter Polens Hooligans verbreitet; so unbegreiflich das ist, zumal bei 13 Kilometern Luftlinie zum Vernichtungslager Auschwitz.

Der Schweizer Robin Kamber sagt, Podolski sei wie ein grosser Bruder für seine Teamkollegen

Mit unangenehmen Themen hat Podolski sich nie allzu lange aufgehalten. Er ist einer, der alles weglachen kann, zwei Daumen hoch, auch wenn der Scherz auf die eigenen Kosten geht. 37 ist er inzwischen, der Haaransatz schimmert grau bei diesem ewig nicht zu altern scheinenden Peter Pan des deutschen Fussballs.

Der Schweizer Mittelfeldspieler Robin Kamber, bis Ende März 2023 bei Gornik unter Vertrag, sagte, er habe bei Podolski keinerlei Allüren ausmachen können, er habe ihn als so etwas wie einen grossen Bruder für die gesamte Mannschaft wahrgenommen: «Immer für einen Spruch gut, stets um lockere Stimmung bedacht. Aber er kann in der Kabine auch einmal Klartext reden, wenn das nötig ist», sagte Kamber.

Podolski müsste das alles längst nicht mehr tun, er verfügt über eine abgeschlossene Vermögensbildung. Seine Einnahmequellen hat er früh diversifiziert – und seine Anziehungskraft geschickt genutzt. In Köln gehören ihm Dönergeschäfte. Im Herbst 2023 organisierte er auf dem Hockenheimring ein Musikfestival, zu dem 100 000 Besucher erwartet wurden. Er hat in Deutschland noch immer diesen Prominentenstatus, bei dem jede Regung in klebrig-atemloser Effekthascherei ausgewalzt wird. Im Frühsommer 2023 titelte Prosieben.de: «Podolski begeistert mit privatem Einblick: SO süss ist seine Tochter Ella».

Ist er gesperrt, reist er mit den Ultras

Es scheinen für ihn nicht mehr als Nebengeräusche zu sein. Es ist ihm gelungen, eine gewisse Unbeschwertheit zu bewahren, das Privileg, nur das zu tun, worauf er gerade Lust hat. Als er in der Rückrunde 2023 gesperrt fehlte, stellte er sich einfach zu den Ultras in den Gästesektor. Die konnten ihr Glück fast nicht fassen.

Podolski ist bisher nicht unbedingt als grosser Philosoph in Erscheinung getreten. Als er nach einem 1:1 mit Deutschland gegen Finnland einmal gefragt wurde, ob er sich mehr über sein Tor freue oder über das Resultat ärgere, sagte er: «Es überwiegt eigentlich beides.» Seine Weisheiten haben sich quer durch das Internet in aufmerksam kuratierten Sammlungen verselbständigt.

Aber jetzt, am Ende seiner Karriere, sagt er mit ernstem Blick: «Die zwei Jahre bei Gornik kann mir keiner mehr nehmen, ich würde das jederzeit wieder machen. Es geht im Fussball nicht immer nur um Titel, um Verträge und um Geld. Die Leute hier haben nicht viel, ich will ihnen etwas zurückgeben. Und ab und zu sollte man im Leben auch Spass haben, verstehen Sie?»

Ihm gelingt das anscheinend spielend. Mit zehn Assists war er in der Saison 2022/23 der beste Vorlagengeber der Ekstraklasa, das sechstplatzierte Gornik reihte im Frühling 2023 Sieg an Sieg. Podolski war immer mehr Vollstrecker denn Vorbereiter, mit seinem linken Fuss kann er Tornetze zerfetzen. Vielleicht habe ihm «der liebe Gott» diesen Fuss geschenkt, mutmasste er einmal. Aber aufs Alter hin hat er sein Spiel noch einmal neu modelliert, er agierte zuletzt mannschaftsdienlicher.

Die Lektion von Hanspeter Latour: Allein geht es nicht

Es ist eine Lektion, die ihm Hanspeter Latour schon vor langer Zeit beizubringen versuchte. Im Geissbockheim, dem Trainingsgelände des 1. FC Köln, beorderte Latour den 20 Jahre alten Podolski im Frühjahr 2006, einen bei einem Unwetter umgestürzten Baumstamm von der Strasse zu schieben.

Podolski scheiterte, und Latour verkündete wissend, dass einer allein eben nicht viel bewegen könne. Aber alle zusammen schon. «Latour», sagt Podolski in Zabrze lächelnd, «schon Wahnsinn, wie lange das her ist und wen ich im Fussball alles getroffen habe. Er war ein guter Trainer. Und es stimmt immer noch: Allein kannst du im Fussball nichts ausrichten.»

Anruf bei Latour, 75, inzwischen ein rüstiger Naturbeobachter. Er bereite gerade ein Referat vor, lässt Latour wissen, aber wenn es um Podolski gehe, habe er schon ein paar Minuten. «Ja, der Poldi, so hiess er ja», sagt Latour erklärend, «war damals noch sehr jung. Man hat diese Erwartungshaltung gespürt, den Druck, ich hatte das Gefühl, dass die Freude ein bisschen fehlt, weil so viel auf ihn eingeprasselt ist.»

Er habe ihn zum Captain gemacht und ermuntert, nicht zu viel nachzudenken. Latour sagt: «Er war ein aussergewöhnlicher Fussballer, es war schön, so einen Spieler zu coachen.» Zum Abschied habe ihm Podolski ein Fotoalbum geschenkt mit gemeinsamen Erinnerungen, die Geste hat den Coach gerührt.

Latour hat sich aus dem Fussball längst zurückgezogen, vor vielen Jahren schon. Die Frage ist, wie lange Podolski der Branche noch erhalten bleibt. Sein Vertrag läuft im Sommer 2025 aus, niemand weiss, ob es das gewesen ist, ob er weiterzieht und sich in ein neues, letztes Abenteuer stürzt. Am Donnerstag hat er sich bei seinem Abschiedsspiel in Köln bereits von seinen deutschen Fans verabschiedet. Zuvor sagte er einem deutschen Online-Magazin, dass er vor dem Karriereende, dem Tag X, Angst habe.

Es klingt nicht danach, als ob der König bereit sei, abzudanken.

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