Dienstag, Oktober 8

Auch frankofone Medien sehen einige Gründe für den am Donnerstag verkündeten Abgang von Mark Schneider. Dem Nahrungsmittelkonzern macht eine Häufung von Negativschlagzeilen zu schaffen.

Nestlé sei zugleich der globalste und der lokalste Konzern der Welt, hat der neue CEO Laurent Freixe am Freitag in einer Telefonkonferenz gesagt. Der Franzose übernimmt die Führung des Konzerns am 1. September vom Deutsch-Amerikaner Mark Schneider, wie Nestlé am Donnerstagabend überraschend mitteilte. Was Freixe mit dieser «Glokalität» meint, kann man am Firmensitz in Vevey leicht erahnen.

Avenue Nestlé, am Rand des Städtchens am Genfersee: Hier erstreckt sich, zwischen einer Tankstelle, einem Autohaus und der ehemaligen Marina eines Anwesens von Gustave Eiffel, der wuchtige, rundum verglaste Büroriegel des weltgrössten Nahrungsmittelkonzerns. Ein Stadtbus fährt vorbei, komplett überklebt mit gelb-pinker Werbefolie, darauf steht der riesige Schriftzug «Wir tragen die Region im Herzen – Nestlé Community». Plakate am Strassenrand lassen erahnen, was der Konzern alles sponsert: Klassikkonzerte, die Biennale Images Vevey, Essenstafeln für Bedürftige.

Nestlé-Mitarbeiterin: «Es war Zeit für einen Wechsel»

Ähnlich global-lokal erscheinen die Mitarbeiter, die sich auf Nachfrage alle erstaunt über den abrupten Wechsel ihres obersten Chefs zeigen. Ein Lernender auf dem Weg zur Arbeit weiss noch nichts davon und dankt für die Information. Eine Frau sagt auf Französisch mit deutlichem Akzent: «Wir müssen das erst mal verdauen.» Dann wechselt sie auf Englisch: «Wir dachten alle, dass es Zeit war für einen Wechsel. Aber dass es so schnell geht, haben wir nicht erwartet.»

Ein anderer Mitarbeiter antwortet gleich auf Englisch, äussert sich ähnlich – und sagt dann schulterzuckend: «So ist es halt in der Unternehmenswelt. Wenn die Resultate nicht da sind . . .» Er verweist auf Nestlés Aktienkurs, der seit seinem Allzeithoch von fast 125 Franken im Dezember 2021 – als die Börsen weltweit nach dem Corona-Tief in Champagnerlaune waren – auf rund 90 Franken gefallen ist.

Dazu erklärte der Analyst Jean-Philippe Bertschy von der Bank Vontobel gegenüber der Nachrichtenagentur AWP am Donnerstag, in den vergangenen Quartalen habe der Druck auf den abtretenden CEO Schneider stetig zugenommen. «Die Ziele mussten ständig nach unten korrigiert werden, was tendenziell das Vertrauen der Anleger untergräbt.»

Am Freitag, dem ersten Handelstag nach Nestlés CEO-Ankündigung, fiel die Aktie zunächst um mehr als 4 Prozent auf ein Fünfjahrestief von knapp 86 Franken, bevor sie sich wieder stabilisierte. Offenbar goutieren die Investoren den abrupten CEO-Wechsel trotz vorgängiger Unzufriedenheit (noch) nicht.

Nestlés Communiqué vom Donnerstag begründete den Entscheid nicht explizit. Der Verwaltungsratspräsident Paul Bulcke sprach von «turbulenten Zeiten» und sagte, Nestlé werde seine Position als «verlässliche Firma» stärken. Sprich: Es liegt einiges im Argen.

Versüsste Babynahrung, falsches Mineralwasser

So verwiesen frankofone Medien als Grund für den Chefwechsel auf eine Häufung von Negativschlagzeilen. Das Westschweizer Fernsehen RTS fasste am Donnerstag in seinen Abendnachrichten zusammen: Nestlé wirbt in der Schweiz für seine Babynahrung mit dem Hinweis «ohne Zuckerzusatz», versüsst aber einige Produkte in ärmeren südlichen Ländern, wie eine Recherche der Zürcher NGO Public Eye im April ergab. Das führte zum Vorwurf, Nestlé mache arme Kinder zuckersüchtig. Der Konzern betonte, er halte sich an alle Vorschriften.

Zudem filterte Nestlé angeblich natürliches – und ursprünglich verseuchtes – Mineralwasser in Frankreich, das auch in der Schweiz verkauft wird, weshalb die Staatsanwaltschaft im französischen Épinal ermittelt. Und im Skandal um mit E.-coli-Bakterien verseuchte Tiefkühlpizzen, an denen 2022 zwei Kinder starben und weitere vergiftet wurden, hat die Staatsanwaltschaft gegen Nestlé Frankreich kürzlich Anklage erhoben. «Das Marken-Image ist angeschlagen», sagte der RTS-Journalist.

Das französische Wirtschaftsmagazin «Challenges» schrieb gar, die breite Öffentlichkeit höre von dem «einst respektierten und beneideten Konzern nur noch in der Rubrik der Skandale und Betrügereien». Am Firmensitz in Vevey sei seit Monaten ein Unwohlsein zu spüren gewesen, das den Verwaltungsrat letztlich zum Handeln gezwungen habe.

Auch die Waadtländer Wirtschaftszeitung «Agefi» sieht in einer Analyse die vergangenen Monate von Schneiders Amtszeit kritisch, aber aus einem anderen Grund: Nach durchaus erfolgreichen Verkäufen von einzelnen Geschäftsbereichen habe Schneider mit Zukäufen ab 2022 weniger Erfolg gehabt. Symbolisch dafür stehe der Kauf des amerikanischen Biopharmaunternehmens Aimmune 2020, dessen einst vielversprechendes Medikament gegen Erdnussallergie bei Kindern Nestlé vor einem Jahr wieder verkaufte.

Mark Schneider war – für Nestlé eine Premiere – 2016 als Externer auf den CEO-Posten gerückt. Der designierte neue CEO Freixe hingegen ist bereits seit 1986 im Konzern. Der erwähnte Mitarbeiter in Vevey lobt das. «Er arbeitet seit langem für Nestlé, war in verschiedenen Rollen, kennt das Geschäft. Er ist ein guter Typ.» Seine ebenfalls erwähnte Kollegin, die den Abschied Schneiders gut findet, sagt: «Jetzt ist es Zeit für eine neue Ära.»

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