Mittwoch, April 30

Carmen steht stellvertretend für jene Tausende von Frauen, die von ihren Männern getötet worden sind – oder als Phantasie einer starken Frau, die es zu töten gilt.

Der Tod ist allgegenwärtig. Von Anfang an. Das Collegium Novum Zürich spielt in der Schiffbau-Halle das Prélude zur Oper «Carmen» – und da steht sie, liegt sie, steht sie und raucht.

Über sie ist eigentlich alles gesagt. Carmen – Freigeist, Fabrikarbeiterin und Femme fatale, Männerfresserin und Männeropfer, Rebellin und Rastlose, Exotin oder weisses Blatt, Ausnahme-Vamp oder bloss eine Nummer auf einer langen Liste von Femiziden. Carmen polarisiert und verbindet Pole. Und sie wandelt sich mit den Zeiten. Als Carlos Saura 1983 seinen Flamenco-Film «Carmen» in die Kinos brachte, wollten plötzlich alle Carmen sein. Flamenco-Schulen schossen wie Pilze aus dem Boden. Und gar Feministinnen besannen sich auf die Verführerin in ihnen und stopften ihre Füsse in Highheels.

Über den handfesten Mord vermochten selbstredend auch sie nicht hinwegzutreten. Er ist ein Leitthema in Georges Bizets Oper wie auch in den zahlreichen Ballettaufführungen des Stoffes. Carmen steht je nach Lesart stellvertretend für jene Tausende von Frauen, die von ihren Männern getötet worden sind, oder als Phantasie einer starken Frau, die es zu töten gilt. Und weil das eine ziemlich unangenehme Phantasie ist, hat es auch schon Operninszenierungen gegeben, in denen Carmen nicht stirbt und dafür Don José tötet.

Eine der meistgespielten Opern

Wer heute Georges Bizets Oper als zeitgenössisches Musik-Tanz-Theater auf die Bühne bringen will, braucht Phantasie. Phantasie, die über die Männerphantasie hinausgeht, und die deckt bei Carmen schon ziemlich viel ab. Inszeniert wird sie da und dort, «Carmen» ist eine der meistgespielten Opern überhaupt und läuft in der Schweiz derzeit auf drei verschiedenen Bühnen. Am Opernhaus Zürich setzt Andreas Homoki auf Theater im Theater und am Theater Basel die Choreografin Constanza Macras auf Zirkus und Pop-Kultur.

Am Schauspielhaus Zürich haben Wu Tsang und ihre Gruppe Moved by the Motion nun die Männerphantasie als solche ins Zentrum ihrer Inszenierung gestellt und versucht, Schicht um Schicht abzutragen. Das ist ein Versuch, der inhaltlich scheitern muss, bleibt Carmen doch Phantasie, was immer eine Regisseurin in dem Frauenbild sucht. Was diese indes nicht hindern wird, grosses Theater zu machen. Und «Carmen» von Moved by the Motion mit dem formidablen Collegium Novum unter der Leitung von Jonathan Palmer Lakeland ist grosses Theater.

Zusammen mit der Autorin Sophia Al-Maria greift die Filmemacherin und Performance-Künstlerin Wu Tsang zurück auf die Struktur von Prosper Mérimées Novelle von 1845, die Georges Bizets dreissig Jahre später in die Oper überführte. Prosper Merimée hat der Handlung von Carmen, die von ihrem eifersüchtigen Liebhaber Don José getötet wird, eine Rahmenhandlung gegeben. Auf einer archäologischen Studienreise nach Spanien habe ihm der zum Tode verurteilte Täter die Geschichte erzählt.

Suche nach dem Massengrab

Die Carmen von Wu Tsang wird ebenfalls von einer archäologischen Suche getrieben, mit neuer Musik von Andrew Yee. Schnelle Rhythmen peitschen die Auseinandersetzungen um diese Suche an, als würde hier eine Uhr durch die Jahrhunderte ticken. Bläser scheinen wieder und wieder abzustürzen, als drohte alles im Nichts zu verschwinden. Die Geschichte beginnt an der Universität von Sevilla. Die Musikerinnen und Musiker lassen die Bühnendesignerinnen Nina Mader und Nicole Hoesli hinter einem Schleier draussen spielen. Später wird sich die Bühne öffnen für den finalen Akt.

Die Tänzerin Perle Palombe sucht als Doktorandin Meriem nach einem Massengrab aus der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs. Eine Sängerin, genannt «La paloma roja», soll im November 1937 von den Franquisten hinter die Frontlinie gebracht worden sein, um für Franco zu singen. Ihre Spuren will die Doktorandin suchen, wird aber von ihrer Professorin gehindert. Und die geht, das macht Alicia Aumüller klar, dafür auch über Leichen.

Meriem sucht trotzdem und kreuzt auf ihrer Suche die Wege von Carmen, die bei Bizet eine Zigeunerin ist und hier politisch korrekter «Flamenca» genannt wird. Schliesslich verweben sich die beiden Handlungen mehr und mehr, während sich auch die Musik von Andrew Yee jener Bizets nähert. Meriem findet das Grab und möchte Carmen warnen. Aber sie kommt aus einer anderen Zeit. Und dringt nicht durch, weil Carmen ihren Tod als Bestimmung sieht, es stand in den Karten – und steht im Libretto.

Schmerzhafter Tanz

Carmen ist drei: die Sängerin-Carmen Katia Ledoux, die Schauspiel-Carmen Benjamin Radjaipour und die Tänzerin Tosh Basco. Sie treten gemeinsam auf und verkörpern verschiedene Seiten des Frauenbilds. Verführerin ist nur Katia Ledoux. Sie verführt mit nichts als ihrer Stimme. Bewegungen und grosse Gesten überlässt sie den beiden andern. Aber wie sie verführt. Diese Reichhaltigkeit, die schillernden Farben der Figur, die Themen der Geschichte – sie sind alle da von Anfang an, im «Habanera» der Carmen.

Die Schauspiel-Carmen übernimmt das Reden, adrett sitzt sie da, schlägt die Beine übereinander und raucht: Benjamin Radjaipour ist der kühle Kopf dieser Dreifaltigkeit, das Kalkül Carmen. Und Tosh Basco tanzt den Tod. Das Gesicht rot beschmiert, die Augen weit offen, die Schultern nach vorn gekrümmt, tanzt sie ihren schmerzhaften Tanz, als müsste sie hier und jetzt vor uns vergehen.

Die drei tun ihr Ding, jede in ihrem Medium, nur im Tode sind sie gleich. Da sticht Don José zu. Die Carmen-Sängerin krümmt sich, die Hand auf dem Bauch. Synchron dazu krümmen sich die Schauspiel-Carmen und die Tanz-Carmen, und alle gehen sie gleichzeitig zu Boden. Meriem steht einsam im Wind und sucht dieses Leben zu greifen: «To be dead, to be born, to grow hungry, to feel cold and lonely . . .» Und ewig weiter so.

Und Don José? Ein Muttersöhnchen mit lockerer Faust und Impuls. Ihn gibt es nur in einfacher Ausführung, er ist auch von einfacherem Gemüt – das macht diese Inszenierung deutlich. Ryan Capozzo sticht als José schnell zu, ohne Wenn und Aber. Doch wenn er zu singen anhebt, leidet er wie ein ausgesetzter Hund. Der Escamillo von Steven Sowah bleibt dagegen blass, eine Phantasie auch er. Stierkampf ist Schatten. Die Toten bleiben.

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