Donnerstag, Juli 4

In der Schweiz bleiben zu viele Patienten zu lange im Spital. Es ist eine Folge von absurden Fehlanreizen.

Wer schon einmal für eine Operation ein paar Tage im Spital lag und danach die Rechnung studiert hat, weiss: Stationäre Eingriffe sind exorbitant teuer. Es machen sich hier die hohen Kosten für die Infrastruktur und das Personal bemerkbar. Und das ist einer der Gründe, warum das Schweizer Gesundheitssystem so viel Geld verschlingt. Im stationären Bereich sind es rund 16 Milliarden Franken im Jahr.

Der medizinische Fortschritt würde es erlauben, eine viel grössere Zahl von Behandlungen ambulant durchzuführen, also ohne Übernachtung im Spital. Doch das passiert nicht. Gut vier von fünf Operationen werden hierzulande stationär gemacht – in den USA oder in Kanada ist es nur noch eine von fünf, in Frankreich weniger als die Hälfte.

Daran haben bisher auch die Operationslisten wenig geändert: Sie schreiben vor, welche planbaren Eingriffe grundsätzlich ambulant erfolgen müssen. Seit dem 1. Januar 2023 umfasst die Liste eine ganze Reihe von Operationen und gilt für die ganze Schweiz. Sie ist einige Seiten lang, beginnt mit Operationen des Grauen Stars und endet mit der chirurgischen Entfernung der Gaumenmandel.

Ausnahmen sind laut dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) nur erlaubt, wenn «besondere Umstände» vorliegen – insbesondere Begleiterkrankungen, die das Risiko für Komplikationen auch bei sogenannten einfachen Operationen erhöhen. Das können schwere Erkrankungen der Lunge oder des Herzens sein. Ein anderer Grund für eine Ausnahme liegt vor, wenn keine kompetente Betreuungsperson vorhanden ist, die sich nach der Operation daheim um den Patienten kümmern kann.

Spitäler in der Zwickmühle

Die Operationslisten sind sinnvoll, doch sie bringen die Spitäler in die Bredouille. Denn die Tarife für ambulante Eingriffe sind bei weitem nicht kostendeckend. Laut dem Spitalverband H+ liegt die Unterdeckung durchschnittlich bei 30 Prozent, bei stationären Behandlungen sind es «nur» 10 Prozent. Was das in konkreten Fällen bedeutet, zeigen Zahlen zu drei Operationen, die die NZZ von einem mittelgrossen Regionalspital zur Verfügung gestellt bekommen hat – unter der Bedingung, den Namen des Spitals nicht zu nennen.

Auffallend ist, wie viel günstiger der gleiche Eingriff ohne Übernachtung im Spital ist. Die Operation eines Leistenbruchs kostet stationär mehr als 5500 Franken, ambulant bloss rund die Hälfte (siehe Grafik). Bei der Hämorrhoidenbehandlung sieht das Verhältnis ähnlich aus. Besonders frappant ist der Unterschied bei der operativen Behebung des Karpaltunnelsyndroms, einer Nervenschädigung am Handgelenk: Stationär bekommt das Spital dafür 4138 Franken, ambulant viermal weniger.

Die deutlich tieferen Tarife für die ambulanten Operationen haben zur Folge, dass die Vergütungen den Aufwand des Spitals nicht annähernd decken. Beim Leistenbruch beträgt das durchschnittliche Defizit ambulant 2300 Franken, bei den Hämorrhoiden 1418 Franken, beim Karpaltunnel 1276 Franken. Für das letzte Beispiel liegt die Unterdeckung somit bei happigen 56 Prozent.

Lieber stationär, sagt der rechnende Patient

Macht das Spital die drei Eingriffe stationär, legt es laut den eigenen Angaben zwar ebenfalls drauf – aber das Defizit ist viel geringer. Nach den heutigen Regeln haben auch der Patient und dessen Krankenkasse kaum ein Interesse an einer ambulanten Operation.

Denn derzeit zahlt der Wohnkanton mehr als die Hälfte der Rechnung, aber nur im stationären Bereich. Falls der Patient eine hohe Franchise hat, fährt er also zumindest finanziell besser, wenn er im Spital übernachtet – selbst wenn der Eingriff auf diese Weise insgesamt deutlich teurer zu stehen kommt.

Wie das BAG auf Anfrage erklärt, lässt sich noch nicht abschätzen, ob die Anfang 2023 eingeführten Operationslisten einen grossen Effekt haben. Und auch bei der Frage, wie hoch der Anteil der ungerechtfertigterweise stationär durchgeführten Operationen ist, tappen die Behörden derzeit im Dunkeln.

Doch angesichts der starken finanziellen Anreize liegt der Verdacht nahe, dass die Spitäler alles tun, um die Patienten länger in der Bettenstation zu halten und so höhere Erträge zu generieren – auch bei den drei beschriebenen Eingriffen, die eigentlich alle auf der verpflichtenden Liste für ambulante Operationen stehen.

«Das geht finanziell nicht auf»

Viele Kliniken schreiben derzeit rote Zahlen, manche kämpfen gar ums Überleben. «Es geht heute für die Spitäler finanziell nicht auf, vermehrt Behandlungen ambulant durchzuführen», sagt die FDP-Nationalrätin Regine Sauter, die den Spitalverband H+ präsidiert.

Einen Teil der Fehlanreize soll die Grossreform ausräumen, über die die Stimmbevölkerung im November abstimmt: Mit der einheitlichen Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen (Efas) vergüten Kantone und Krankenkassen neu Leistungen in beiden Bereichen nach dem gleichen Verteilschlüssel. Für die Versicherer würde es damit plötzlich attraktiv, ambulante Behandlungen zu fördern.

Eine naheliegende Lösung wäre es in der Folge, die ambulanten Vergütungen signifikant zu erhöhen, allenfalls auch auf Kosten der stationären Behandlungen. «Wären die Tarife attraktiv, würden die Spitäler die Operationen von sich aus verlegen – und nicht aufgrund politischer Vorgaben», betonte Daniel Liedtke, CEO der Hirslanden-Gruppe, im letzten Sommer in einem Interview mit der NZZ.

Operationen wie am Fliessband

Mit den richtigen ökonomischen Anreizen könnten so schon relativ bald ambulante «Operationsfabriken» entstehen, die von den stationären Strukturen eines Spitals unabhängig sind. Und auf Effizienz getrimmt: «Der Patient kommt auf die Minute genau, läuft zwei Meter bis zum Operationstisch, wird operiert – und geht wieder heim», beschreibt dies Dominique Kuhlen, Chief Clinical Officer bei Hirslanden.

Ein solches Modell setze eine neue Denkweise bei den Chirurgen und den Pflegefachleuten voraus. «Der ambulante Bereich ist stark standardisiert, es geht viel schneller, alle Rädchen müssen ineinandergreifen», sagt Kuhlen. Wenn das alles gut funktioniere, sei der Eingriff nicht nur deutlich günstiger, sondern auch für die Patienten angenehmer, weil sie weniger Zeit investieren müssten und das Risiko einer Spitalinfektion viel kleiner sei. Hinzu kommt, dass es weniger medizinisches Personal braucht als in einem klassischen Akutspital – ein grosses Plus in Zeiten des Fachkräftemangels.

Die ambulanten Tarife handeln die Spitäler mit den Krankenkassen aus. Sind diese bereit, sich grosszügiger zu zeigen? Beim Branchenverband Santésuisse reagiert man eher zurückhaltend. Und weist darauf hin, dass die Einführung von ambulanten Pauschalen die Möglichkeit bieten würde, mögliche derzeit existierende Unter- und Übertarifierungen zu korrigieren. Dies vor allem auch, weil die Pauschalen auf realen Kosten- und Leistungsdaten der Spitäler basieren würden.

Der Gesundheitsökonom Thomas Straubhaar hat einen anderen Vorschlag, um die Anreize für einen ambulanten Eingriff zu erhöhen: Die Spitäler sollen ab der zweiten Übernachtung nur noch einen Zuschlag erhalten, der dem Preis eines Hotelzimmers entspricht. Und die Patienten sollten einen Teil dieser Übernachtungen selbst bezahlen müssen.

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