Dienstag, Oktober 8

Zum Abschluss des demokratischen Parteitags hält Kamala Harris ihre mit Spannung erwartete Rede. Die Präsidentschaftskandidatin schlägt einen Bogen zwischen Weltoffenheit und Patriotismus – und erntet tosenden Beifall.

Am letzten Abend der Democratic National Convention hat Kamala Harris formell die Nomination als Präsidentschaftskandidatin akzeptiert und die wichtigste Rede ihres bisherigen Lebens gehalten. Sie begann mit einer Schilderung ihrer Kindheit als Tochter einer alleinerziehenden, arbeitenden Mutter, «in einem schönen Arbeiterklasse-Viertel, mit Feuerwehrleuten, Krankenschwestern und Bauarbeitern». Den Plan, Staatsanwältin zu werden, habe sie gefasst wegen einer Mitschülerin, die ihr anvertraute, dass sie von ihrem Stiefvater missbraucht wurde.

Plädoyer sowohl für Israel wie auch für die Palästinenser

Den politischen Teil ihrer Rede begann Harris mit dem Aufruf, vorwärtszugehen – nicht als Partei, sondern als Amerikaner. «Ich liebe unser Land mit meinem ganzen Herzen», sagte sie. Als Antwort skandierte das Publikum den neuen demokratischen Schlachtruf: «Wir gehen nicht zurück!»

«Amerika, lass uns einander und der Welt zeigen, wer wir sind und wofür wir stehen: Freiheit, Chancen, Mitgefühl, Würde, Fairness und unendliche Möglichkeiten», sagte Harris.

Sie ging auch auf ihren republikanischen Konkurrenten ein. Donald Trump sei kein ernsthafter Mann, sagte Harris, doch die Konsequenzen, falls er gewählt würde, wären extrem ernst. Das Land habe nun die Chance, die Bitterkeit, den Zynismus und die Zwietracht der Vergangenheit zu überwinden. Sie warf Trump vor, seine Politik diene nur einer reichen Elite, obwohl er sich fälschlicherweise dauernd als Mann des Volkes ausgebe. In Bezug auf das brisante Thema Migration versprach Harris, sich für die geplante Verschärfung der Einwanderungsbestimmungen einzusetzen, die wegen Trumps Sabotage gescheitert sei.

Klarer noch als Biden bekannte sie sich zur Wiedereinsetzung des nationalen Rechts auf Abtreibung.

Sie versprach, der durch Russland bedrohten Ukraine weiterhin beizustehen. Sie nahm auch Stellung zur Nahostpolitik, einem innerhalb der Partei besonders umstrittenen Thema. Sie setzte sich einerseits, angesichts des Hamas-Massakers, für Israels Recht auf Selbstverteidigung ein, betonte aber auch das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung und ein Leben in Sicherheit und Würde. Bei diesem Balanceakt schlug ihr vermutlich der grösste Applaus entgegen.

Full speech: VP Kamala Harris accepts presidential nomination at 2024 DNC | USA TODAY

Altes Programm, neu verpackt

Schon während ihrer Rede wogte in der riesigen Arena ein Meer von amerikanischen Flaggen. Zum Abschluss schwebten von der Decke Hunderte von Ballons in den Nationalfarben Weiss, Rot und Blau.

Es war, als ob all die rund hundert Reden der vergangenen vier Tage in Harris’ Rede mündeten. In einer halben Stunde bot sie eine Quintessenz des gegenwärtigen demokratischen Programms. Was dabei auffällt: Es ist der Partei in den wenigen Wochen seit Bidens Rückzug aus dem Rennen gelungen, die Wahlkampfstrategie neu auszurichten. Oder besser gesagt: neu zu verpacken.

Denn an den politischen Inhalten hat sich zwar nicht viel geändert, aber die Tonalität ist anders. Der Schwerpunkt liegt nun auf dem Blick nach vorne, dem jugendlichen Elan, dem Optimismus, mit dem man sich wohl auch von Trumps geradezu apokalyptischem Pessimismus abheben will. Man nützt die Tatsache, dass Trump mit seinen 78 Jahren im Vergleich zur 59-jährigen Harris plötzlich alt wirkt. Entsprechend wird seine Politik als rückwärtsgewandt und gestrig gebrandmarkt.

Trump verkleinern statt vergrössern

Überhaupt hat sich die Art, wie Trump gezeichnet wird, geändert. Während Biden davor warnte, dass Trump die Demokratie gefährde, und ihn dadurch zum Super-Bösewicht emporstilisierte, ist die derzeitige Strategie eher, ihn klein zu machen. Dazu passt das Schlagwort «weird», aber auch, ihn als geldgierigen Egomanen darzustellen, der vor allem Interessenpolitik für seine Clique von Milliardären mache. Er ist gewissermassen von Darth Vader zu Dagobert Duck geworden.

Die Demokraten beanspruchen nun intensiver als vorher, den Mittelstand zu vertreten. Nicht nur Harris, sondern auch viele andere berichteten in ihren Reden von ihrer einfachen Herkunft, ihren hart arbeitenden Eltern oder alleinerziehenden Müttern sowie ihren Studentenjobs bei McDonald’s oder in der Fabrik. Dabei gibt es eine Tendenz, die Herkunft nicht nach oben, sondern nach unten zu frisieren.

Die Demokraten reklamieren «Freiheit» für sich

Aber das wichtigste Stichwort ist «Freiheit». Offensichtlich versuchen die Demokraten nun, diesen uramerikanischen Wert, den sich bisher eher die Republikaner auf die Fahne schrieben, für sich zu beanspruchen. Dabei wollen sie den Gegnern nachweisen, dass diese, entgegen ihren Lippenbekenntnissen, die Freiheit beschneiden – mit dem Verbot des Rechts auf Abtreibung, mit Bücherverboten, mit der Diskriminierung von sexuellen und ethnischen Minderheiten. Was vom konservativen Freiheitsbegriff übrig bleibe, sei gewissermassen nur noch das Recht, eine Waffe zu tragen, wird suggeriert. Die Demokraten hingegen würden sich für eine moderne Freiheit einsetzen, für Diversität und Inklusion.

Allerdings vermeiden sie solche «progressiven», «woken» Ausdrücke und appellieren, wie der Running Mate Tim Walz das oft tut, an die gute alte Tugend, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Dazu gehört durchaus auch, den Staat in seine Schranken zu weisen und ihn aus den Schlafzimmern und Bibliotheken zu verjagen. Auch hier artikulieren die Demokraten eine Skepsis gegenüber der Regierungsgewalt, die vorher eher die Domäne der Konservativen war. Das ist möglich, weil sich Republikaner wie der Gouverneur von Florida, Ron DeSantis, in den letzten Jahren mehr und mehr zu einer kulturkämpferischen, antiwoken, normativen Politik hinreissen liessen, die auch viele Konservative als übergriffig empfinden.

Von der Zeigefinger- zur Daumen-hoch-Partei

Der neue Stil der Demokraten zeigt, wie wichtig Schein, Image und Emotionalität sind. Das hat Trump mit seinen oft irrationalen Reden, die allerdings hohen Unterhaltungswert besassen, vorgemacht, und nun setzen Harris und ihre Mitstreiter ebenfalls auf diese Karte, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen: mit Lachen, ostentativer Fröhlichkeit und einer unverbrüchlichen Zuversicht. Als «freudige Kriegerin» wird Harris bezeichnet. In einem kalkulierten Kontrast soll Trump daneben als zynischer Griesgram erscheinen.

Das heisst, die Demokraten versuchen Trump nicht mehr mit Faktenchecks und moralischen Argumenten beizukommen, sondern indem sie ihn überstrahlen. Wenn Trump mit dem Stinkefinger operierte, setzten ihm die Gegner früher den erhobenen Zeigefinger entgegen. Dadurch wurden die Demokraten für viele zur gouvernantenhaften, dauerempörten Über-Ich-Partei, während Trump seinen Emotionen und Phantasien freien Lauf liess und dabei denjenigen aus dem Herzen sprach, die genug von politischer Korrektheit hatten. Aber nun sind es auf einmal die Demokraten, die mit Daumen-hoch-Botschaften für Partystimmung sorgen, während die Republikaner als Miesepeter dastehen.

Die Republikaner haben die Orientierung verloren

Es ist erstaunlich, wie rasch sich die Demokraten umorientiert haben und wie sehr die Neuausrichtung von allen mitgetragen wird, von der Parteispitze bis zum Lokalpolitiker und zu den Delegierten aus der Provinz. Aber offenbar handelt es sich nicht nur einem Top-down-Approach; die Strategie wird auch von der Basis mitgetragen. Die Unité de Doctrine funktioniert.

Das verleiht der Partei Geschlossenheit und Schlagkraft, während die Anti-Biden-Strategie der Republikaner plötzlich in sich zusammengefallen ist. Vorerst reagieren sie ratlos gegenüber dem Überraschungsangriff aus unerwarteter Richtung. Damit wird die kurze Zeit, die den Demokraten für die Lancierung Harris’ nur noch bleibt, vom Nachteil zum Vorteil. Auf einmal sind es die Republikaner, die sich mit dem Gegenschlag beeilen müssen, wenn sie vermeiden wollen, dass das Hoch der Demokraten noch bis zur Wahl am 5. November anhält.

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