Donald Trump droht, den Europäern den militärischen Schutz zu entziehen. Deutsche Politiker sorgen sich auch um den nuklearen Schirm. Wie realistisch ist eine deutsche oder europäische Bombe?

Deutsche Politiker sind in Sorge, dass sich die USA militärisch von Europa abwenden. Äusserungen von Präsident Donald Trump und seinem engsten Umfeld in den vergangenen Wochen nähren bei einigen Zweifel am Fortbestand des jahrzehntelang von den Amerikanern gewährten militärischen Schutzschirmes.

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In den zurückliegenden Tagen nahm in Deutschland daher eine Debatte Fahrt auf, die lange Zeit undenkbar schien: Es geht darum, ob Europa, vielleicht sogar Deutschland, eigene Nuklearwaffen brauche.

Am Freitag sagte der designierte Bundeskanzler Friedrich Merz in einem Interview mit der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», er wolle in den Koalitionsverhandlungen «und auch mit unseren Partnern in Europa, der EU und der Nato diskutieren», ob es eine nukleare Teilhabe mit Frankreich und Grossbritannien geben könne. Sein Parteikollege Jens Spahn forderte schon am Donnerstag: «Wir müssen über einen europäischen Nuklearschirm reden.»

Welche Möglichkeit hätte Deutschland, sich unabhängig von Amerika nuklear zu bewaffnen?

Die naheliegende Lösung existiert in Europa selbst. Zwei europäische Staaten verfügen bereits über Nuklearwaffen. Einer von ihnen ist Frankreich, das seine Atombomben entweder über U-Boot-gestützte Raketen oder über Jagdbomber ins Ziel bringen kann. Anders als die USA haben die Franzosen aber keine Interkontinentalraketen in ihrem Besitz, die nuklear bewaffnet werden könnten. Das begrenzt ihre Abschreckungsfähigkeit auf grössere Distanzen.

Frankreich hat in den vergangenen Jahren mehrfach angeboten, Deutschland stärker in seine nukleare Strategie einzubinden. Einen entsprechenden Vorschlag unterbreitete etwa der damalige Präsident Nicolas Sarkozy im Jahr 2007 der Bundesregierung unter Angela Merkel . Die Kanzlerin und ihr damaliger Aussenminister Frank-Walter Steinmeier von der SPD lehnten ab.

Deutschland wollte bisher lieber US-Atomwaffen

Auch der heutige französische Präsident Emmanuel Macron hat wiederholt die Bereitschaft seines Landes hervorgehoben, mit Deutschland über eine Europäisierung der Nuklearstreitkräfte zu sprechen. Doch immer wieder waren deutsche Regierungsvertreter zurückhaltend. Sie wollten lieber an der Zusammenarbeit mit den USA festhalten und stellten in jüngerer Zeit die Weichen für neue Beschaffungen im Rahmen der nuklearen Teilhabe mit den USA .

Das bezieht sich besonders auf die Bestellung von 35 Kampfflugzeugen des Typs F-35 in den USA im Jahr 2022. Sie sollen den Tornado ersetzen, der jahrzehntelang massgeblicher deutscher Beitrag zur nuklearen Teilhabe in der Nato war. Mit dem Tornado und schon bald mit dem F-35 sollen im Kriegsfall die in Büchel in Rheinland-Pfalz lagernden US-Atombomben ins Ziel gebracht werden. Die Entscheidungshoheit für den Einsatz dieser Bomben liegt bei den USA, jene über die Tornados und künftig die F-35 aber bei Deutschland. Die Nato nennt das «Zwei-Schlüssel-System».

Die zögerliche deutsche Haltung gegenüber den französischen Angeboten hat noch andere Ursachen. Die französische Nukleardoktrin sieht vor, Atomwaffen nur für die nationale Abschreckung einzusetzen. Eine bindende Garantie für andere Staaten ist bis anhin nicht vorgesehen. Zwar bot Macron Gespräche über eine Einbindung europäischer Partner in die französische Abschreckung an. Doch Sicherheiten, wie sie die USA in der Nato gegeben haben, waren damit nicht verbunden.

Alle Entscheidungen über einen französischen Nuklearschlag trifft bis jetzt ausschliesslich der Präsident. In Deutschland gibt es daher Zweifel, ob man beim Einsatz der Waffen mitbestimmen könnte, wie das in der Nato über das «Zwei-Schlüssel-System» möglich ist.

Das zweite europäische Land mit Nuklearwaffen ist Grossbritannien. Anders als die Franzosen hielten sich die Briten mit Offerten für eine Beteiligung an ihrem Nuklearwaffenprogramm bisher eher zurück. Merz sagte jedoch am Freitag, dass er auch mit den Briten über eine atomare Teilhabe diskutieren wolle.

Bis anhin weisen französische oder britische Atomwaffen gegenüber der amerikanischen Abschreckung erhebliche Nachteile auf. Die USA verfügen über ein dreigliedriges System (Triade) aus Interkontinentalraketen, U-Boot-gestützten Raketen und Langstreckenbombern. Sie sind global einsetzbar, ihre Reichweite ist nicht regional begrenzt.

Zudem bietet der amerikanische Schutzschirm die Möglichkeit, abgestuft zu reagieren. Wie etwa Russland, aber anders als Frankreich und Grossbritannien haben die Amerikaner nicht nur strategische, sondern auch taktische Atomwaffen. Ihre Sprengkraft und ihr Einsatzradius sind deutlich kleiner als die strategischer Systeme, die bei den westlichen Staaten als Zweitschlagskapazität vorgehalten werden. Strategische Atomwaffen dienen also in den westlichen Staaten ausschliesslich der Abschreckung: Ein Angreifer soll immer mit einem Vergeltungsschlag rechnen müssen.

Helmut Schmidt zweifelte am Beistand der USA

In der Geschichte der deutsch-amerikanischen Beziehungen hat es jedoch immer wieder Zweifel am nuklearen Beistandsversprechen der USA gegeben. So war es etwa in den siebziger Jahren, als die Sowjetunion Mittelstreckenraketen vom Typ SS-20 stationierte, die Westeuropa, aber nicht die USA treffen konnten. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt von der SPD äusserte daraufhin die Befürchtung, Westeuropa könnte vom amerikanischen Nuklearschirm abgekoppelt werden.

Aus seiner Sicht bestand die Gefahr, dass die USA mit einem nuklearen Gegenschlag zögern könnten, da nicht ihr eigenes Territorium gefährdet war, eine Vergeltung aber das Risiko eines Atomangriffs auf ihr eigenes Staatsgebiet hätte erhöhen können. Schmidts Überlegungen trugen massgeblich zum Nato-Doppelbeschluss bei. In dessen Folge stationierten die USA nuklear bestückte Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing in Europa. So konnte nun auch vom europäischen Kontinent aus ein nuklearer Vergeltungsschlag geführt werden. Das verringerte das politische Risiko für einen Einsatz und erhöhte die abschreckende Wirkung gegenüber der damaligen Sowjetunion.

Deutschland hat den Besitz von Nuklearwaffen in der Vergangenheit stets ausgeschlossen. Das verbietet der Atomwaffensperrvertrag, den die Bundesrepublik 1969 unterzeichnet hat. Auch der 2+4-Vertrag, der 1990 die Wiedervereinigung regelte, untersagt Deutschland eigene Atomwaffen. Das Abkommen wurde zwischen der damaligen Bundesrepublik Deutschland und der DDR auf der einen und den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs auf der anderen Seite geschlossen.

Deutsche Regierungen haben sich ausserdem immer für nukleare Abrüstung eingesetzt, um das Risiko eines Atomkriegs zu verringern. Die Hoffnung auf eine solche Abrüstung hat sich allerdings nicht erfüllt. Immer mehr Länder haben sich weltweit nuklear bewaffnet. Das hat einen Vorteil: Wer Atomwaffen besitzt, wird so schnell konventionell nicht angegriffen.

Putin droht mit Atomwaffen

Die Ukraine ist dafür ein besonders abschreckendes Beispiel. Russland konnte das Land auch deshalb angreifen, weil es nicht mehr über eigene Atomwaffen verfügt. Es hat sie nach der Unterzeichnung des Budapester Memorandums im Jahr 1994 an Russland abgegeben.

Mittlerweile schreckt Russland nicht einmal mehr davor zurück, mit seinen Atomwaffen zu drohen. Wiederholt versuchte Putin so in den vergangenen drei Jahren, seine Eroberungen in der Ukraine abzusichern. Der Krieg in der Ukraine führte vielen im Westen vor Augen, wie erpressbar ein Land ist, das nicht über einen wirksamen nuklearen Schutzschirm verfügt.

Doch um ein strategisches Gegengewicht zu Russland zu bilden, dürften Europa die französischen und britischen Nuklearwaffen kaum reichen. Nach Angaben des Stockholmer Instituts für Friedensforschung verfügt Russland über mehr als 5500 Atomsprengköpfe. Frankreich und Grossbritannien gemeinsam kommen auf etwa ein Zehntel der Menge. Seit längerem gibt es daher die Idee einer gemeinsamen europäischen Nuklearbewaffnung. Wie könnte sie aussehen?

Es gibt den Vorschlag, dass Deutschland eintausend in den USA eingemottete Nuklearwaffen erwerben und in verschiedenen europäischen Ländern stationieren könnte. Er wird aber von Sicherheitsfachleuten als unrealistisch betrachtet, weil er viel zu viele Unwägbarkeiten enthält. Dazu zählt die Frage, ob die USA einem Verkauf überhaupt zustimmen würden.

Eigene deutsche Atomwaffen

Eine weitere Möglichkeit ist, dass Deutschland selbst Nuklearwaffen baut. Fachleute halten das technisch für machbar. In Gronau in Nordrhein-Westfalen existiert noch immer eine Anlage zur Urananreicherung. Allerdings ist unklar, wie lange es dauern würde, ehe eine solche Bombe fertig ist.

Hinzu kommt: Ein Nuklearsprengkopf allein macht noch keine Waffe. Deutschland müsste daneben Trägersysteme entwickeln oder kaufen, etwa Mittel- und Langstreckenraketen, die an Land und, als Zweitschlagsfähigkeit, auf U-Booten stationiert sind. Ausserdem brauchte es etwa Satelliten, über die diese Waffen ins Ziel gesteuert würden. Das ist sehr teuer, nicht nur in der Entwicklung, sondern auch im Unterhalt.

Bislang fehlt in Deutschland der politische Wille, eigene Atomwaffen zu bauen. Deshalb erscheint ein gemeinsames Schutzsystem mit Franzosen und Briten realistischer. Doch auch das wird teuer. Beide Länder stecken jährlich Milliarden in den Unterhalt ihrer Nuklearstreitkräfte. Schon die Modernisierungen sind so kostspielig, dass es ihnen sehr entgegenkäme, wenn sich europäische Partner beteiligten.

Entscheidend wird sein, ob Frankreich und Grossbritannien bereit sind, ihre Hoheit über die Waffen zu teilen oder zumindest gemeinsame Einsatzpläne und Doktrinen mit Deutschland und anderen europäischen Staaten zu erarbeiten. All das dürfte nun erörtert werden.

Es gibt allerdings noch eine vierte Möglichkeit für Deutschland. Trotz allen Zerwürfnissen in der Vergangenheit haben die USA ihren nuklearen Schirm für die Europäer in der Nato nicht zusammengeklappt. Im Gegenteil: Mit dem Erwerb der F-35 und der geplanten Integration der US-Atombomben in das Flugzeug vertieft sich eher die Zusammenarbeit Deutschlands und der USA auf diesem Feld. Die Frage ist allerdings, wie sehr sich die künftige deutsche Regierung darauf verlassen will.

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