Montag, Oktober 7

Wachsender Wohlstand, steigende Löhne: Die amerikanische Wirtschaft hat ein starkes Jahrzehnt hinter sich. Wie ist der Lebensstandard im Vergleich mit Deutschland und der Schweiz? Eine Übersicht in acht Grafiken.

Mario Draghi hat die Europäer aufgerüttelt. Die EU falle wirtschaftlich gegenüber den USA zurück, beklagte der ehemalige EZB-Chef in einem Bericht, der in Brüssel und in den europäischen Hauptstädten für Verunsicherung sorgte.

Viele Europäer reiben sich die Augen: Die USA im Vorsprung? Sie haben ein anderes Amerika im Kopf. Sie denken an ein Land, das seit vielen Jahren im Bann von Donald Trump steht und dessen Gesellschaft tief gespalten ist. Die Europäer halten ihren Kontinent oft für den lebenswerteren Ort.

Doch wer hat recht, Draghi oder die anderen? Eine Antwort gibt ein Vergleich der USA mit Deutschland – der wichtigsten Volkswirtschaft Europas – und mit der Schweiz. Die Daten machen deutlich: Amerika hat sich in den vergangenen zehn Jahren wirtschaftlich tatsächlich besser entwickelt als Europa. Aber der alte Kontinent weist noch einige Stärken auf.

Der Wohlstand

Das wichtigste Mass für den Wohlstand einer Gesellschaft ist das Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Kopf. Es zeigt, wie viel Wirtschaftskraft in einem Land pro Einwohner erwirtschaftet wird.

Die USA haben Deutschland punkto Wohlstand in den vergangenen zwei Jahrzehnten abgehängt – da hat Mario Draghi recht. Das BIP pro Kopf wuchs nach der Finanzkrise von 2008/09 in den USA deutlich stärker als in Deutschland. Was vielen Europäern nicht gefallen dürfte: Auch während der Präsidentschaft Trumps (2016–2020) war das so.

Besonders stark ging die Schere nach der Corona-Krise auf. Die USA erholten sich schnell von der Pandemie und kehrten auf ihren alten Wachstumspfad zurück. In Deutschland hingegen liegt der Wohlstand heute noch niedriger als vor Corona. Ein Grund dafür ist der Ukraine-Krieg, der Deutschland wirtschaftlich traf, ein anderer die hausgemachte Schwäche des Standorts. Das BIP pro Kopf liegt in Deutschland gegenwärtig um 16 Prozent niedriger als in den USA.

Die Schweiz hat sich im Vergleich besser entwickelt. Zwar wuchs der Wohlstand nach der Finanzkrise ebenfalls langsamer als in den USA. Aber die Corona-Krise überwand die Schweizer Wirtschaft ähnlich rasch wie die amerikanische. Das BIP pro Kopf liegt – bereinigt um Kaufkraft und Inflation – in der Schweiz gegenwärtig um 13 Prozent höher als in den USA. Damit ist der Vorsprung in den letzten zwei Jahrzehnten zwar geschrumpft, aber immer noch da.

Die Produktivität

Eine Volkswirtschaft kann auf drei Arten wachsen: Man kann mehr arbeiten, man kann mehr Kapital einsetzen – oder die Wirtschaft wird produktiver. Langfristig ist die Produktivität die wichtigste Quelle für wachsenden Wohlstand, wie der Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Solow gezeigt hat. Dank ihr können sich die Menschen mehr leisten, oder sie müssen weniger lange arbeiten, um die gleichen Bedürfnisse befriedigen zu können.

Bei der gesamtwirtschaftlichen Produktivität haben sich die USA gut entwickelt. Zwar hat Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg einen rasanten Aufholprozess hingelegt. Anfang der 1990er Jahre schloss die Produktivität der deutschen Wirtschaft zu jener der USA auf. Doch seither ist Deutschland wieder zurückgefallen. Die Amerikaner haben einen Produktivitätsvorsprung zurückgewonnen.

In der Schweiz hat die gesamtwirtschaftliche Produktivität seit dem Zweiten Weltkrieg immer höher gelegen als in den USA. Doch der Schweizer Vorteil ist in den letzten Jahrzehnten ebenfalls kleiner geworden. Die USA liegen punkto Produktivität mittlerweile fast gleichauf.

Die Innovation

Um die Produktivität Europas macht sich Mario Draghi grosse Sorgen. Das Zurückfallen sei der Hauptgrund, warum Europa an Wohlstand gegenüber den USA verliere, erklärte er in Brüssel bei der Vorstellung seines Berichts: «Wir müssen die Innovation nach Europa zurückbringen.»

Es gibt verschiedene Erklärungen, warum es Europa in den letzten Jahrzehnten an Innovationskraft mangelte. Laut Draghi können sich in den USA neue Firmen leichter durchsetzen – dank einer intensiveren Zusammenarbeit von Hochschulen und Wirtschaft, einem weniger fragmentierten Markt und besserer Finanzierung von Startups.

«In Europa haben wir eine statische Industriestruktur, die von den gleichen Unternehmen und Technologien dominiert wird wie vor Jahrzehnten», sagte Draghi. Die drei europäischen Firmen mit den grössten Investitionen in Forschung und Entwicklungen seien Autokonzerne, in den USA hingegen seien es Techfirmen.

Die amerikanische Unternehmenswelt ist bemerkenswert stark und dynamisch. Im Jahr 2023 stammten von den 100 weltweit wertvollsten Firmen (nach Marktkapitalisierung) laut Bloomberg-Daten 66 aus den USA – rund ein Dutzend mehr als im Jahr 2003. Deutschland hat derzeit noch 2 Firmen in den weltweiten Top-100, 3 weniger als vor zwanzig Jahren. Die Schweiz ist mit 3 Konzernen vertreten (–1).

Zudem sind die amerikanischen Spitzenfirmen sehr jung. Unter den 10 wertvollsten Firmen der USA sind 6 Unternehmen, die vor zwei Jahrzehnten noch nicht in den weltweiten Top-100 waren – oder die es damals noch gar nicht gab (Apple, Nvidia, Alphabet, Amazon, Meta und Tesla). Hingegen sind die europäischen Konzerne in der Weltliga eher alt. In Deutschland gehören dazu SAP und Siemens, in der Schweiz Nestlé, Roche und Novartis.

Die enorme Dynamik spiegelt die Stärken der amerikanischen Unternehmenswelt. Dazu gehören ein grosser und einheitlicher Binnenmarkt, ein breiter Kapitalmarkt, eine starke Wagniskapital-Szene und weiche Faktoren wie die Macher- und Risikomentalität der Amerikaner.

Die Löhne

Aus Sicht der Menschen ist die entscheidende Frage, ob das Wachstum der Wirtschaft bei ihnen ankommt – oder ob nur die Eigentümer von Grosskonzernen profitieren. Wichtig ist deshalb die Lohnentwicklung.

Die Durchschnittslöhne in den USA sind in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Das begann schon während der Präsidentschaft Trumps. Dies dürfte ein wichtiger Grund dafür sein, warum der Ex-Präsident im November Chancen auf einen Wahlsieg hat: Trotz persönlicher Abneigung erinnern sich viele Amerikaner daran, dass es für sie unter Trump wirtschaftlich aufwärts ging.

Einen Lohnsprung nach oben gab es zudem während der Corona-Pandemie. Auch einkommensschwache Amerikaner haben jüngst von Lohnsteigerungen profitiert, vor allem wegen eines weitverbreiteten Arbeitskräftemangels.

Die erstaunliche Folge: Laut OECD-Daten liegen die durchschnittlichen Jahreslöhne in den USA – bereinigt um Kaufkraft und Inflation – mittlerweile fast gleich hoch wie in der Schweiz. Deutschland ist hingegen zurückgefallen, die Durchschnittslöhne liegen um 19 Prozent niedriger als in den USA.

Die Standortqualität

Der Wirtschaftsstandort USA ist im Aufwind. Seit dem Ende der Corona-Pandemie investieren Unternehmen kräftig. Die Bruttoanlageinvestitionen – also Investitionen in Bauten, Maschinen und andere Ausrüstungen – sind jüngst stark gestiegen. Das hat allerdings auch mit der Industriepolitik und den damit verbundenen Subventionen der Administration Biden zu tun.

Der Kontrast zu Europa ist dennoch augenfällig. Vor allem in Deutschland halten sich die Unternehmen seit der Corona-Krise mit Investitionen zurück. Die ausgeprägte Investitionsschwäche spiegelt das Misstrauen in den Wirtschaftsstandort Deutschland. Die Schweiz hält sich im Vergleich besser.

Die Staatsverschuldung

Die Subventionspolitik der amerikanischen Regierung treibt das Wirtschaftswachstum kurzfristig an. Jedoch hat sie auch eine Schattenseite: Die amerikanische Staatsverschuldung ist stark gestiegen. Sie beträgt mittlerweile mehr als 120 Prozent des BIP.

Im Vergleich dazu sind Deutschland und die Schweiz sparsam. Die Staatsverschuldung liegt bei 67 Prozent beziehungsweise 39 Prozent des BIP. Beide Länder setzen prinzipiell auf eine solide Haushaltspolitik. Das dürfte langfristig für die Wirtschaftsentwicklung von Vorteil sein.

Die enorme Verschuldung könnte zu einem Risiko für die amerikanische Wirtschaft werden. Jüngst schlug etwa das Congressional Budget Office (CBO), eine überparteiliche Behörde zur Budgetkontrolle, Alarm. Sowohl Donald Trump als auch Kamala Harris haben allerdings keine Pläne, die Staatsverschuldung zu senken. Das gibt Anlass zur Besorgnis.

Die Ungleichheit

Der amerikanische Wirtschaftsboom hat weitere Schattenseiten. Die Ungleichheit im Land ist in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen. Wie stark, ist zwar umstritten. Aber politisch gehört die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich zu den dominierenden Themen in den USA.

Im Gegensatz dazu ist die Einkommensverteilung in Deutschland und in der Schweiz in den vergangenen Jahrzehnten beinahe gleich geblieben. In beiden Ländern spielt der soziale Ausgleich weiterhin eine grosse Rolle.

Die Lebenserwartung

Wie steht es schliesslich um die Lebensqualität in den drei Ländern? Das wohl umfassendste Mass dafür ist die Lebenserwartung. Wenn es den Menschen wirtschaftlich gut geht, sie gesund sind und sich in ihrem sozialen Umfeld gut aufgehoben fühlen, erhöht dies die Lebenserwartung.

Bei der Lebenserwartung schneiden die USA schlecht ab. Diese liegt schon seit längerem um einige Jahre tiefer als in Deutschland und in der Schweiz. Zudem ist die Lebenserwartung der Amerikaner während der Corona-Pandemie besonders stark gefallen. In den USA starben, gemessen an der Bevölkerung, deutlich mehr Menschen an Covid-19 als in Deutschland und in der Schweiz.

Für die vergleichsweise tiefe Lebenserwartung gibt es verschiedene Gründe. In den USA sind Armutsprobleme verbreitet, und der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist für viele Menschen mangelhaft. Auch sterben überdurchschnittlich viele Amerikaner frühzeitig an Gewaltverbrechen, Opioid-Missbrauch, Verkehrsunfällen oder Fettleibigkeit.

Europa ist gefordert

In den USA sind mithin Licht und Schatten nahe beieinander. Das Land ist Europa wirtschaftlich in den letzten Jahren davongezogen. Umgekehrt kann der alte Kontinent weiterhin punkten bei der Lebensqualität und beim gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Doch Europa muss aufpassen: Langfristig lassen sich Lebensqualität und sozialer Ausgleich nur bewahren, wenn der Kontinent eine starke Wirtschaft hat. Dies strich auch Mario Draghi heraus. Europa habe immer noch viele Vorzüge, sagte er. Aber seine Sorge sei, dass Europa unaufhaltsam an Wohlstand verliere – und infolgedessen weniger frei in der Wahl seines Schicksals werde.

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