Montag, November 25

China galt lange als sicherer Ort. Jüngst häufen sich Anschläge gegen Kinder und Passanten. Um die zunehmenden sozialen Spannungen zu entschärften, greift die Regierung auf Mittel aus der Mao-Ära zurück.

In China sind in den vergangenen drei Monaten bei Messerattacken und Amokfahrten Dutzende Menschen getötet worden. Die auffällige Häufung der Angriffe dürfte auch in der schwierigen wirtschaftlichen Lage begründet liegen, in der sich das Land befindet. Viele Chinesinnen und Chinesen haben dieses Jahr ihren Arbeitsplatz verloren oder müssen sich mit teilweise drastischen Salärkürzungen abfinden.

Bei ihren Angriffen gehen die Täter oft nach zwei Mustern vor: Entweder fahren sie mit einem Auto in eine Menschenmenge oder gehen Messer schwingend auf ihre Opfer los. Das Ziel ist, möglichst viele Menschen zu töten oder zu verletzen.

Bei dem jüngsten Zwischenfall dieser Art fuhr ein 39-jähriger Mann in der zentralchinesischen Stadt Changde mit seinem Geländewagen in eine Gruppe von Grundschülern. Die Kinder hatten sich zum Unterrichtsbeginn vor der Schule versammelt.

Die Zensurbehörden schränken die Berichterstattung ein

Die chinesischen Behörden wollten zunächst nicht erklären, ob es sich um eine gezielte Attacke oder um einen Unfall handelte. Staatliche Medien berichteten lediglich, der Fahrer des SUV werde vernommen. Die Zensurbehörden schränkten die Berichterstattung über den Zwischenfall stark ein.

Für weltweite Schlagzeilen hatte in der Woche zuvor der Angriff eines Autofahrers auf eine Gruppe Sporttreibender in Zhuhai im Süden Chinas gesorgt. Bei seiner Amokfahrt tötete der Mann 35 Menschen. Kurz darauf tötete ein junger Mann im ostchinesischen Wuxi mit einem Messer acht ehemalige Mitschüler. Zu ähnlichen Zwischenfällen, wenn auch mit weniger Opfern, kam es im September und im Oktober unter anderem in Peking, Schanghai und Tai’an in der Provinz Shandong.

Chinesen stehen unter Druck

Dass es dieses Jahr vermehrt zu derartigen Attacken gekommen ist, hängt mit grosser Wahrscheinlichkeit mit dem enormen Stress zusammen, dem viele Chinesinnen und Chinesen ausgesetzt sind. Der Grund dafür ist die lahmende chinesische Konjunktur, die viele Menschen finanziell unter Druck setzt – besonders jene, die Hypotheken zu bezahlen haben, medizinische Behandlungen oder hohe Schulgebühren der Kinder.

Hochschulabsolventen finden keine adäquaten Jobs mehr, viele Städte und Kommunen können ihre Beamten und Lehrer nicht mehr bezahlen, und in den Produktionszentren des Landes müssen viele Fabriken Arbeiter entlassen. Betreiber von Nähereien und Arbeitsuchende in der Südprovinz Guangdong unweit von Hongkong berichten in zahlreichen Gesprächen mit der NZZ, selbst während der Corona-Pandemie sei die wirtschaftliche Lage nicht so schwierig gewesen.

Immer mehr Chinesinnen und Chinesen geben die Schuld an ihrer schwierigen persönlichen Lage dem chinesischen System, mithin der Regierung.

Das war vor zehn Jahren noch anders. Der amerikanische Entwicklungsökonom Scott Rozelle hat in aufwendigen Studien nachgewiesen, dass die meisten Chinesen in den Jahren zwischen 2004 und 2014 persönliche Defizite für ihren wirtschaftlichen Misserfolg verantwortlich machten: ungenügende Bildung, mangelnde persönliche Anstrengungen und fehlende Fähigkeiten.

Machtlos gegenüber dem autokratischen System

Nun hat sich die Wahrnehmung radikal verändert. Viele der wirtschaftlich Abgehängten fühlen sich machtlos gegenüber dem autokratischen System und lassen ihren Frust folglich an unschuldigen Menschen aus.

Die Regierung ist angesichts der vermehrten Gewaltausbrüche in höchster Alarmbereitschaft und versucht, die öffentliche Diskussion darüber, so gut es geht, zu unterbinden, auch um potenzielle Nachahmer von ähnlichen Taten abzuhalten.

Die meisten Posts in den sozialen Netzwerken wurden kurz nach den jeweiligen Attentaten gelöscht. Die Behörden geben ausserdem detaillierte Anweisungen an die staatlichen Medien, wie diese über die Vorfälle zu berichten haben. Informationen über das private Umfeld der Täter, deren Vermögensverhältnisse und deren Familienstand sind beispielsweise tabu. So will die Regierung Spekulationen über die Motive der Täter unterbinden.

Die Machthaber in Peking scheinen sich im Klaren darüber zu sein, dass sozialer Stress die Ursache für die sich häufenden Angriffe auf unschuldige Menschen ist, und suchen nach Mitteln und Wegen, die Spannungen zu entschärfen.

«Verschiedenste Konflikte untersuchen und lösen»

Am 13. November, kurz nach der Amokfahrt in Zhuhai, traf sich das Parteikomitee des Ministeriums für Staatssicherheit zu einer Dringlichkeitssitzung. Im Protokoll der Sitzung heisst es, die Behörden hätten «grosse Anstrengungen» zu unternehmen, um «verschiedenste Konflikte zu untersuchen und zu lösen».

Das Papier nennt ausdrücklich Familienstreitigkeiten, Konflikte zwischen Nachbarn und laufende Gerichtsverfahren. «Konflikte und Probleme der Menschen sollen an der Basis gelöst werden, um versteckte Gefahren effektiv zu beseitigen», heisst es weiter.

Ähnlich äusserte sich das Parteikomitee des obersten Gerichts an einer Sitzung am 19. November. Man werde «die Aktivitäten verstärken, um Konflikte und Risiken zu entschärfen, die soziale Stabilität zu erhalten und die Überwachung zu verstärken», heisst es in dem Protokoll. In den letzten Tagen berief zudem der Leiter der Zentralen Kommission für politische und rechtliche Angelegenheiten, Chen Wenqing, eine Sitzung ein zur «Stärkung des Sicherheitsgefühls in der Bevölkerung».

Instrumente aus der Mao-Ära statt Konsumförderung

Die Gremien haben beschlossen, das sogenannte Fengqiao-Modell anzuwenden, um soziale Konflikte zu lösen. Fengqiao ist eine Gemeinde in der Provinz Zhejiang im Osten Chinas. In dem Städtchen begannen die lokalen Kader in den frühen sechziger Jahren damit, Streitigkeiten und Konflikte an der Basis unter Einbeziehung der Bürger zu lösen, ohne die jeweiligen Fälle an übergeordnete Behörden weiterzuleiten. Im November 1963 gab Mao Zedong den Befehl, das Modell sei im ganzen Land anzuwenden.

Dass die lokalen Behörden den Einwohnern mit ihren Sorgen, Problemen und persönlichen Krisen mehr Gehör schenken, ist sicherlich wichtig. Langfristig wirksamer wären aber wohl konkrete Massnahmen, die dafür sorgen, dass die lahmende Wirtschaft wieder Fuss fasst.

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