Das Festival verzeichnet wenig Ausreisser und seltene Highlights: «It Was Just an Accident» des Iraners Jafar Panahi gewinnt einen soliden Wettbewerb.

Liegt die filmische Zukunft in der Erinnerung? Das solide Angebot des diesjährigen Festivals in Cannes zeigte auffallend viele Produktionen, die sich der Vergangenheit zuwenden. Auch die Politik fand vermehrt Beachtung: Der Ukrainer Sergei Loznitsa lieferte in «Two Prosecutors» eine eisige Beschreibung von Stalins Säuberungswellen, während Ari Aster in «Eddington» die Gräben ausleuchtete, die sich in den USA während des Covid-Lockdowns durch eine Kleinstadt zogen.

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Zwei Beiträge im Wettbewerb thematisierten ausserdem die in den 1980er Jahren ausgebrochene Aids-Epidemie. In «Alpha» von Julia Ducournau verwandeln sich die Kranken in Marmorstatuen, während die Spanierin Carla Simón in «Romería» ihrer Familiengeschichte nachspürt.

Anregend sind solche Zeitreisen nicht zuletzt wegen der Kontraste und Vergleichsmöglichkeiten, die sich hierdurch ergeben: So erhellte etwa Lav Diaz’ dreistündiges Bio-Pic «Magalhães» nachträglich Tom Cruises letzte «Mission-Impossible»-Folge, in der der amerikanische Star den Albtraum eines von künstlicher Intelligenz regierten Planeten heraufbeschwört. Das Unterfangen, die Kontrolle über die Welt zu gewinnen, nahm sich vermutlich nie so realistisch aus wie zu Beginn des 16. Jahrhunderts, als sich der portugiesische Seefahrer anschickte, die wichtigsten maritimen Handelsrouten des Pazifiks für die spanische Krone zu erobern.

Die langen Einstellungen, mit denen Diaz Magellans Reisen nachzeichnet, fokussieren zunächst auf dessen Einsamkeit. Im Lauf der Expedition nimmt die Megalomanie des Unterfangens jedoch selbstdestruktive Züge. Als der Portugiese auf den Philippinen jenen Rachefeldzug auslöst, dem er schliesslich zum Opfer fallen wird, entsteht der Eindruck, er habe seinen eigenen Tod willentlich provoziert.

Klandestin gedrehter Film

Die Preisverleihung konnte am Samstag trotz einem mehrstündigen, offenbar von einem Sabotageakt ausgelösten Stromausfall planmässig durchgeführt werden. Die Jury war sichtlich darum bemüht, dem disparaten Angebot Rechnung zu tragen. Die Palme d’Or, die dem Iraner Jafar Panahi für «It Was Just an Accident» verliehen wurde, zeichnet einen Regisseur aus, der sowohl in künstlerischer als auch in politischer Hinsicht auf ein einzigartiges Engagement zurückblicken kann. Er zählt heute, nachdem er bereits den Leone d’Oro in Venedig und den Goldenen Bären in Berlin entgegennehmen konnte, zu den am meisten prämierten Cineasten der Gegenwart.

Dennoch fragt man sich, ob die klandestin gedrehte Parabel über Rache und Vergebung, die in der iranischen Gegenwart verankert ist und unübersehbar die Grenzen der Ausdrucksfreiheit testet, auch ohne den brennenden Kontext honoriert worden wäre. Insbesondere mit der Schlusssequenz, in der das moralische Dilemma des Opfers gegenüber seinem ehemaligen Peiniger eine Auflösung findet, gerät das Script in Gefahr, seine universelle Dimension zu verlieren.

Hochverdient ist der Regiepreis, der an den Brasilianer Kleber Mendonça Filho für dessen «O agente secreto» ging. Dieser virtuos inszenierte Thriller könnte mit seinem stilistischen Raffinement und seiner Schwäche für die Groteske auch von Tarantino stammen. Dank einem herausragenden Hauptdarsteller (Wagner Moura, der den Schauspielerpreis gewann), einem mäandernden Drehbuch und Zeitsprüngen, die das Brasilien der Militärdiktatur mit der Gegenwart verknüpft, ist «O agente secreto» ein nuanciertes Bild der nationalen Befindlichkeiten gelungen.

Formschwaches Frankreich

Auch die übrigen Auszeichnungen spiegelten das Zögern der Jury angesichts der diversen Facetten des Angebots. Der Grand Prix ging an den Norweger Joachim Trier für «Sentimental Value», der eine psychologisch scharf umrissene Vater-Tochter-Beziehung nachzeichnet. Dagegen setzten die spanische Produktion «Sirat» von Oliver Laxe und der deutsche Beitrag «Sound of Falling», die sich den Jury-Preis teilten, in erster Linie auf ihre formalen Stärken.

Weniger plausibel ist die Entscheidung, die zurückhaltende Darbietung der Debütantin Nadia Melliti, die für ihre Rolle im französischen Coming-of-Age-Drama «La petite dernière» von Hafsia Herzi prämiert wurde, den Performances von Jennifer Lawrence oder Valeria Golino vorzuziehen. Paradoxerweise schien der Preis die Schwäche des französischen Angebots am Festival zu unterstreichen. Das ist umso erstaunlicher, als Frankreich, das an der Produktion von vierzehn der insgesamt 22 Beiträge beteiligt war, in der internationalen Filmindustrie weiterhin eine Schlüsselposition besetzt.

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